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Abgeordnetenhauswahl 2026Opfer der eigenen Prinzipien

Kommentar von Stefan Alberti

Die Grünen hätten mit Daniel Wesener einen chancenreichen Spitzenkandidaten für die Wahl 2026 gehabt. Aber vorne soll halt eine Frau stehen.

Noch ist bei den Grünen die Spitzenkandidatur offiziell unbesetzt, aber die Auswahl dafür ist nach zwei Absagen überschaubar

O ffiziell ist noch nichts. Der Landesvorstand sei in guten Gesprächen und werde der Partei im Herbst einen Vorschlag machen, ist die Standardantwort auf Journalistenfragen nach der grünen Spitzenkandidatur für 2026. In etwas mehr als 14 Monaten wählt Berlin das Abgeordnetenhaus neu, und bislang ist nur bei der CDU klar, wer dabei das Gesicht der Partei sein wird, nämlich Kai Wegner.

Inoffiziell hingegen gibt es nicht gerade beinharte Dementis, dass nicht erneut Bettina Jarasch die Spitzenkandidatur übernimmt, flankiert von Werner Graf, ihrem Co-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus. Mit Jarasch an der Spitze traten die Grünen schon 2021 und bei der Wiederholungswahl 2023 an. Wie erfolgreich das war oder eben nicht, ist Auslegungssache.

Einerseits und auf den Wahltag konzentriert schnitten die Grünen mit jeweils über 18 Prozent so gut ab wie nie zuvor. 2023 fehlten zudem nur etwas mehr als 50 Stimmen – von rund 1,5 Millionen abgegebenen –, um erstmals bei einer Abgeordnetenhauswahl vor der SPD zu liegen.

Andererseits lagen die Grünen gerade 2021 in vorangehenden Umfragen deutlich über ihrem letztlichen Wahlergebnis: Fünf Monate hatten die Demoskopen sie noch bei 27 Prozent gesehen – neun bis zehn Punkte mehr als CDU und SPD. Wer will, kann in Jarasch vor diesem Hintergrund eine zweimalige Wahlverliererin sehen.

Zweimal nicht ins Rote Rathaus

Jarasch hat als Fraktionschefin im Abgeordnetenhaus gute Auftritte, zerlegte etwa Ende 2023 eindrücklich die Haushaltspolitik der schwarz-roten Koalition. Die Frage ist dennoch, ob es schlau ist, eine Frau zur Spitzenkandidatin zu machen, der im Wahlkampf das Image der Verliererin anheften könnte. Etwa mit dem schlichten Gedanken beim Blick auf ihre Wahlplakate: Die war doch schon letztes Mal auf dem Plakat und ist nicht ins Rote Rathaus gekommen, denn da ist doch jetzt der von der CDU.

Nun ließe sich entgegnen, dass andere auch drei Anläufe brauchten, um Ministerpräsident zu werden. Der spätere Bundespräsident Christian Wulf von der CDU etwa in Niedersachsen. Der hatte bei zwei Landtagswahlen nacheinander keine Chance gegen den SPDler Gerhard Schröder, gewann dann aber schließlich 2003 klar gegen dessen Nach-Nachfolger, den späteren SPD-Chef Sigmar Gabriel. Viele Beispiele dieser Art gibt es allerdings nicht – ein mögliches Verlierer-Image bleibt ein Risiko.

Das Ganze gilt umso mehr, weil die Grünen jemanden gehabt hätten, der innerhalb und außerhalb des grünen Parteikosmos hohes Ansehen genießt, der hohe Sympathiewerte und Erfahrung in führenden Ämtern in Partei, Fraktion und Regierung hat. Die Rede ist von Daniel Wesener, von Ende 2021 bis Frühjahr 2023 Berliner Finanzsenator.

Aber ausgerechnet er sagte der Partei vor einer Woche für eine Spitzenkandidatur ab. Offiziell begründet er das so: „Andere Menschen in unserem Landesverband“ könnten „diese besonders herausgehobene Position besser ausfüllen“ als er. Doch die Vermutung liegt zumindest nahe, dass Wesener auch keine Lust hatte, in einem Streit über ein offenbar ehernes Gesetz der Grünen aufgerieben zu werden: dass nämlich stets eine Frau die Spitzenkandidatur übernimmt.

Exministerin Paus sagte ab

Eine, die sich manche im linken Lager in dieser Position gewünscht hätten, war Lisa Paus, bis Anfang Mai noch Bundesfamilienministerin. Sie aber sagte am Mittwoch definitiv ab: „Mein Platz ist im Bundestag, auch und gerade jetzt in der Opposition“, informierte Paus den Landesvorstand per Brief.

Logisch wäre gewesen, wenn die Grünen sich grundsätzlich gefragt hätten, mit wem die Chancen auf einen Wahlsieg am größten sind. Die Antwort wäre unausweichlich gewesen: mit Wesener. Stattdessen aber stand der Parteiblick im Vordergrund, geprägt von grundsätzlichen Prinzipien und Lagerdenken.

Wenn schon erneut mit Jarasch, dann wäre eine alleinige Spitzenkandidatur sinnig gewesen, statt mit einem Duo der Reala Jarasch und dem Parteilinken Graf zu arbeiten, das sich die Wählerstimmen bringende Medienaufmerksamkeit – so es tatsächlich dazu kommt – wird teilen müssen.

Sie könnten es anders haben können, die Berliner Grünen. Aber sie haben es eben – bislang – anders gewichtet. Und könnten es damit dem CDUler Kai Wegner ein Stück leichter gemacht haben, nach dem Wahlabend des 20. September 2026 und den danach folgenden Koalitionsverhandlungen Berlins Regierungschef zu bleiben.

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Redakteur für Berliner Landespolitik
Jahrgang 1967. Seit 2002 mit dreieinhalb Jahren Elternzeitunterbrechung bei der taz Berlin. Schwerpunkte: Abgeordnetenhaus, CDU, Grüne.
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