Abenteuergeschichte im 1. Weltkrieg: Karl May mit Happy End
Steffen Kopetzkys Roman „Risiko“ erzählt von einer Expedition des Deutschen Reichs im Hindukusch. Mit viel Tod, Liebe und Zahnweh.
Die „Niedermayer-Hentig-Expedition“ sollte zu Beginn des Ersten Weltkrieges von Persien, Afghanistan und Indien aus einen „Dschihad“, einen heiligen Krieg, gegen die ungeliebte britische Kolonialmacht provozieren, um den britischen Kriegsgegner im Orient abzulenken und in Schach zu halten. Diese Reise bildet das Gerüst für Steffen Kopetzkys 731-Seiten-Roman „Risiko“.
Oskar Niedermayer, der Leiter der Mission, hat die Reise 1925 in „Unter der Glutsonne Irans“ beschrieben. Das Buch gehört zu den Quellen, von denen Kopetzky im Nachwort sagt: „… da es eine Fiktion ist, wäre es unsinnig, all die Bücher, Texte und Dokumente zu nennen, die in den Roman eingeflossen sind.“ Kopetzky hat viele Details der Expedition fast wörtlich von Niedermayer übernommen, bis zu Auffälligkeiten wie „süßes Wasser“ für nichtsalziges Wasser. Das hat wohl noch keine Plagiatsqualität, aber Kopetzky hätte die Quelle schon nennen können.
Trotz der vielen historischen Details ist es ein Roman, also Fiktion. Hauptfigur ohne historisches Vorbild ist Sebastian Stichnote, ein junger Marinefunker, Virtuose an der modernen „Telefunkenanlage“, der aber auch noch als „Schlagmeister“ mit Brieftauben umgehen kann. Eine Figur ohne echte Abgründe. Der zunächst als weiterer Protagonist eingeführte, viel spannendere Schweizer Journalist Adolph Zickler geht leider etwas unter.
Liebe wurde auch untergebracht, so verliebt sich Stichnote im albanischen Durazzo in die schöne kluge Arjona, die er beim Granatapfelkauf auf dem Basar kennenlernt: „Sie hatte Lippen wie Obst.“ Eine Frau, wie sie in keinem Abenteuerfilm, der östlich Wiens spielt, fehlen darf.
Dann kommt die Geschichte in Fahrt
Auf der „SMS Breslau“ „in ihrer sechsschornsteinigen Granatenwucht“ erlebt Stichnote den Beginn des Ersten Weltkriegs im Mittelmeer und gelangt schließlich nach Istanbul. Dort trifft er zufällig Arjona wieder und wird für die Afghanistan-Expedition angeworben. Auf Seite 370 geht die Expedition los. Damit kommt auch die Geschichte endlich in Fahrt.
Steffen Kopetzky: „Risiko“. Klett-Cotta, Stuttgart 2015, 731 Seiten, 24,95 Euro.
Wir begleiten die immer kleiner werdende Gruppe durch Wüsten und Gebirge, Durst und Krankheiten, erleben Angriffe von Räuberbanden und feindlichen Soldaten. Stichnote wird wegen seiner Zahnschmerzen opiumsüchtig und kommt vorübergehend seinem Trupp abhanden.
Bis zum Aufbruch ist „Risiko“ eine zähe Lektüre. Zehn Jahre habe Kopetzky an dem Buch gearbeitet, dabei ist eine Flut von Informationen ins Buch gelangt, die nicht alle zielführend sind. Dazu manch Beschreibungsoverkill (Schnauzbärte, Mobiliar) und viele Schachtelsatzdesaster.
Biene Maja, Brieftauben und Risiko
Andererseits gibt der Autor etliche Hinweise auf Kommendes mit dem Zaunpfahl. Da staunt etwa Adolph Zickler in einem Krankenhaus über die moderne „Blutpumpe“, die ihm ein paar Kapitel später das Leben rettet. Den in die Mission eingeschleusten Spion „Gilbert-Khan“ lernt die Leserin schon vor der Abreise kennen und wird so um die Spannung betrogen.
Hitlers Landschaftsplaner begrünten das Vernichtungslager in Auschwitz und den Westwall, die gigantische Verteidigungsanlage gen Westen. Und einige von ihnen machten als Naturschützer später auch in der Bundesrepublik Karriere. In der taz.am wochenende vom 13./14. Juni 2015 erzählen wir, warum sich der deutsche Naturschutz mit seiner braunen Vergangenheit beschäftigen sollte. Außerdem: Sind kleine Höfe wirklich besser? Ein Blick auf einen Agrarriesen und einen Biohof, als Reportage und Grafik. Und: Eine Foto-Reportage aus einer kleinen Bar in Tokio, in der die Menschen nichts auf Traditionen geben. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Dafür gibt es viele kleine Geschenke an den Leser der Gegenwart: So liest Stichnote Bonsels „Biene Maja“, ein Vertreter von „Moody’s Investors Service“ tritt auf und trinkt (ganz neu:) Coca-Cola, ein Fußballspiel Fenerbahce – Galatasaray findet statt, jemand bestellt per Brieftaube Bücher nach Isfahan, quasi Internethandel. Schließlich das titelgebende Spiel „Risiko“: Bei seinem Vorgesetzten, dem jungen Karl Dönitz, lernt Stichnote „das große Spiel“ kennen, ein Brettspiel, bei dem die Truppen des Gegners zu besiegen sind. Dönitz und Stichnote machen aus dem Spiel das, was wir als „Risiko“ kennen.
Dabei ist das Buch stilistisch und in seinem Menschenbild ganz auf der Höhe der Zeit, in der es spielt: Da gibt es den getreuen Diener Jakob, der – bei Niedermayer wie bei Kopetzky – nur mit Vornamen genannt wird, die kluge und schöne Albanerin, „Spießgesellen“, denen „das Straßenräuberhafte im Gesicht“ anzusehen ist, und allerlei tapfere Kameraden und feinsinnige Orientalen.
Wikipediahafte Beschreibungen
Dazu der stets ergebene osmanische Freund: „Stichnote, bei dem der Mann, der wohl nur ein paar Jahre älter war als er selbst und doch schon dreifacher Vater war, stark sympathisierende Gefühle auslöste, versprach, sich bei der nächsten Gelegenheit für ihn einzusetzen, worauf der Dragoman noch einmal seine Hand ergriff und ihm mit leiser, ernster Stimme versprach, dass er sich – was auch geschehe – immer auf Faruk Erdöl werde verlassen können.“ Die Figuren bleiben trotz umfangreicher Beschreibungen klischeehaft, der Leser kommt ihnen nicht wirklich nahe.
Nur, was will Kopetzky eigentlich erzählen? Für eine Weltkriegs-Geschichte sind die eingeflochtenen Berichte von der Front zu wikipediahaft. Das „Weihnachtswunder“ des ersten Kriegswinters und das französisch-deutsche Fußballspiel zwischen den Schützengräben sind allgemein bekannt, das Auftreten des Vaters von Albert Camus als algerisch-französischer Soldat ist eher Name-Dropping.
Kopetzky baut zwar etliche kleine Brücken von 1914 nach 2015, von deutschen Waffenlieferungen bis zur Finanzkrise. Es fehlt die große Brücke von der deutschen Afghanistan-Mission zum heutigen Verhältnis Deutschlands zu den beteiligten Staaten, die Brücke vom Hof Habibullahs in Kabul zum 11. September 2001 und dessen Folgen. So bleibt eine sauber recherchierte, gut ausgeschmückte, aber überladene Abenteuergeschichte, Karl May de luxe, Happy End inklusive.
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