DIE ANSTÄNDIGEN DEUTSCHEN SIND STOLZ, ANSTÄNDIG ZU SEIN
: Abenteuer Menschlichkeit

Über 200.000 anständige Deutsche haben, nun ja, nicht gerade einen Aufstand gewagt, aber sie haben ordentlich demonstriert. Dagegen ist prinzipiell nichts zu sagen. Es ist sogar zu begrüßen, weil es allemal besser ist, gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit auf die Straße zu gehen, als zu Hause sitzen zu bleiben. Übertrieben ist es jedoch zu behaupten, die Demonstranten hätten den Politikern die Demo geklaut, nur weil sie ihre eigenen Botschaften auf die Straße getragen und Paul Spiegel Beifall geklatscht haben. Im Gegenteil, viele Demonstranten nahmen sich die Politiker zum Vorbild. Leider haben sie ausgerechnet eine Eigenschaft übernommen, die zu den unangenehmsten von Politikern gehört: sich selbst zu loben.

Deutschland wird von dem wohligen Gefühl durchströmt, eine gute Tat vollbracht zu haben. Viele Demonstranten klopfen sich unentwegt auf die Schulter, dass sie Zivilcourage gezeigt haben. „Das tat gut“, sagt die Schauspielerin Iris Berben. Wenn sein Sohn ihn später fragt, was er gegen den Rechsextremismus getan hätte, so ein bekannter Liedermacher, dann könne er antworten, er sei dagegen aufgestanden. Und der Moderator der ZDF-Hitparade kriegt sich gar nicht mehr ein, als er von der Demonstration berichtet. Er spricht vom „Abenteuer Menschlichkeit“. Wahrscheinlich gibt’s demnächst einen kleinen Film der Bundesregierung, in dem anständige Cowboys von ihren Abenteuern am 9. November 2000 erzählen. Sie sitzen am Lagerfeuer, eng aneinander gekuschelt, jeder eine Kerze in der Hand, am Horizont geht die Sonne unter, und die raue Stimme aus der Marlboro-Werbung sagt: Come to Tolerance-Country.

Blöd nur, dass die Ausländer nicht vorkommen, weder im Film noch im wirklichen Leben. Die anständigen Deutschen sind so stolz, anständig zu sein, dass sie vergessen, worum es geht: nicht um ihr eigenes gutes Gefühl, nicht um die armen Deutschen, deren schöne Demokratie gefährdet ist, sondern um Menschen, die von rechtsextremen Schlägern bedroht oder von braven Bürgern angepöbelt werden. Die deutsche Selbstbezogenheit war in der Demonstration selbst angelegt. „Wir sind nicht allein“, hieß das Motto, und mit „wir“ meinten die Deutschen zuallererst sich selbst.

Wo Anstand so billig zu haben ist – es reicht, einfach gegen Fremdenfeindlichkeit zu sein –, verkommt der Aufstand zum kollektiven Sitzenbleiben. Er bleibt folgenlos. Da unterscheidet sich die Veranstaltung vom 9. November 2000 in nichts von der Demonstration am 9. November 1992. Damals sprach Bundespräsident Weizsäcker über ermordete Ausländer, geschändete jüdische Friedhöfe und brennende Asylbewerberheime. Hunderttausende erklärten mit Kerzen in den Händen die Würde des Menschen für unantastbar. Zu doof nur, dass in den Jahren danach wieder Ausländer ermordet, jüdische Friedhöfe geschändet und Asylbewerberheime angezündet wurden. Die Würde des Menschen ist in Deutschland antastbar.

Nun können Demonstrationen fremdenfeindliche Anschläge nicht verhindern, die Welt wird durch sie nicht besser. Aber vielleicht ist ja mal mehr drin als nur das bloße Bekenntnis zum Guten und Schönen. Zu dieser Art von Beliebigkeit und Folgenlosigkeit hat Dr. Motte das Nötige gesagt. „Friede, Freude, Eierkuchen!“, rief er vor Jahren den Ravern auf der Love Parade zu.

In den Kinos läuft derzeit ein Werbespot, der unter anderem von der Bundesregierung finanziert ist. In einer S-Bahn greifen zwei Glatzen einen Schwarzen an. Ein junges Mädchen eilt zu Hilfe, wird aber von den Skinheads zu Boden geworfen. Alle anderen im Abteil schauen demonstrativ weg. Plötzlich zieht eine alte Frau die Notbremse. Im nächsten Bild sieht man die S-Bahn von außen. Die Tür geht auf, die beiden Skins werden von den Passagieren, die jetzt zusammenstehen, aus dem Zug geworfen. Dann erscheint ein banaler Slogan gegen Gewalt. Dieser Spot ist so lächerlich wie das Gerede vom Aufstand der Anständigen. Ausgeblendet wird in beiden Fällen der entscheidende Augenblick: Was bringt die schweigende Mehrheit dazu, einzugreifen? Wie überwindet sie ihre Angst?

Genau das unterscheidet eine Demonstration, auf der Zivilcourage beschworen wird, von tatsächlicher Zivilcourage: die schlichte Tat, der Mut, anderen zu helfen. Das wäre immer noch kein Abenteuer Menschlichkeit. Aber dieser Aufstand täte wenigstens gut. Vor allem dem ausländischen Mitbürger, der von Neonazis bedroht wird. JENS KÖNIG