Abendgespräche in Kiew: Nur beim Nachbarn geht das Licht an
In der Ukraine muss Energie gespart werden, es gibt mehrmals täglich keinen Strom. Es gefällt nicht allen, bei Kerzenlicht zusammenzusitzen.
W ieder einmal ist in Kiew der Strom weg. Doch Switlana, eine hochgewachsene, schlanke, ehemalige Profihandballerin, Nadja, eine pensionierte Verkäuferin, und Anna, eine 40-jährige Lehrerin, sind nicht überrascht.
In Kiew wird jeden Tag der Strom dreimal für jeweils drei oder vier Stunden abgeschaltet. Man weiß vorher, wann man dran ist. Auf einer neuen Internetseite ist das nachzulesen. Und so verabredet man sich am besten zu einer Zeit, in der Internet, Fernsehen, Strom und Telefon nicht funktionieren.
Trotz des Kerzenlichts ist die Stimmung gedrückt. Für die Frauen ist klar: Die heutige Jugend, oder was davon noch in der Ukraine geblieben ist, kann man vergessen. Die Mädchen liefen herum, dass man sich für sie fremdschämen müsse, und die guten jungen Männer seien entweder im Ausland oder im Krieg. Zurück blieben Arbeitslose, Obdachlose und Alkoholiker, schimpft Switlana. Studieren könne man auch nicht. „Und jetzt haben sie auch noch alle Bücher der russischen Weltliteratur aus den Bibliotheken verbannt.“
„Meine Enkel will Arzt werden“, berichtet sie. „Und was macht er? Er muss immer nur im Homeoffice sitzen. Gerade angehende Ärzte müssen doch in der Praxis lernen.“ Inzwischen habe ihr Enkel die Lust verloren, in Kiew weiterzustudieren. Über alte Kontakte hat sie einen Bekannten in Sankt Petersburg angesprochen. Und der werde ihrem Enkel dort zu einem ordentlichen Studienplatz verhelfen.
Eher auf Seiten Russlands
„Ja, so kann man auch der Ukraine die besten Leute wegnehmen“, meint sie. Aber die Polen seien auch nicht besser. Die böten Studierenden für ukrainische Verhältnisse gute Wohnheime, eine Krankenversicherung, ein qualitativ hochwertiges Studium. „Kein Wunder, dass niemand mehr in der Ukraine studieren will.“ Und wer jetzt noch in der Ukraine bleibe und Medizin studiere, aus dem werde mit Sicherheit kein guter Arzt, ist sie überzeugt.
Switlana war in den letzten Jahren eher auf der russischen Seite. Sie hat lange in Russland und auf der Krim gelebt. Auf der Halbinsel sei es schön und sie sei dort verliebt gewesen. Immer gutes Wetter, fast ein Paradies. Doch seit den ersten russischen Raketen auf Kiew ist es vorbei mit der Liebe zu Russland. Beinahe wäre auch ihre Wohnung am Rand von Kiew den Russen zum Opfer gefallen.
Dann gibt sie zu, bis vor Kurzem auch auf der Krim eine Wohnung gehabt zu haben. Die habe sich ihr Bruder unter den Nagel gerissen. Der hatte den Besatzungsbehörden erklärt, dass er der rechtmäßige Besitzer sei.
Deswegen vor Gericht zu ziehen ist aussichtslos. Als Ukrainerin, die in Kiew lebt, hätte Switlana keine Chancen gegen einen russischen Staatsbürger von der Krim. „Außerdem würde ich in Kiew Schwierigkeiten bekommen, wenn ich auf der Krim in einen Rechtsstreit treten würde. In der Ukraine ist eine Zusammenarbeit mit russischen Besatzungsbehörden eine Straftat.“
Nicht mehr auf die Straße
Inzwischen hat sie aber sowieso die Lust auf die Krim verloren. Dort seien jetzt nur noch Militärs, schwere Waffen und die Krankenhäuser mit Verletzten überfüllt.
Anna ist die dritte Frau am Tisch. Sie kommt aus Charkiw. Seitdem so mit Energie gespart werde, könne man in Charkiw im Stadtteil Saltiw, wo ein Großteil der Wohnungen von den Russen kaputtgeschossen worden ist, gar nicht mehr nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße gehen. „Es ist stockfinster und überall Kriminelle unterwegs“, schimpft sie.
Switlana sieht aus dem Fenster: „Schau mal, bei den Nachbarn brennt im Wohnzimmer Licht.“ Die anderen Gäste am Tisch verstehen das zuerst nicht. „Das ist doch eine Unverschämtheit“, schimpft Switlana weiter. In der Tat: Laut Plan müsste die ganze Straße ohne Strom sein. Aber auf der anderen Straßenseite brennt in einigen Wohnungen Licht. Das bemerken jetzt auch die beiden anderen Frauen und ärgern sich. Irgendwie ist es ungerecht, dass ausgerechnet sie den Abend bei Kerzenlicht verbringen müssen.
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