■ Abdullah Öcalan hat seine PKK noch kurz vor dem Todesurteil zur Ruhe aufgerufen. Trotzdem explodieren in den Städten Bomben, in den Bergen flammt der Kampf auf. Zugleich diskutiert die Türkei in nie gekannter Offenheit die offiziell tabuisierte „kurdische Frage“: Die historische Debatte hat begonnen
Ein Toter und 25 Schwerverletzte, sechs davon schweben in Lebensgefahr. So lautet das Ergebnis eines Bombenanschlags im Istanbuler Stadtteil Avcilar. Die Bombe explodierte am Sonntag abend, in einem zu dem Zeitpunkt stark besuchten Park. Sie war in einem Mülleimer deponiert und angeblich mit einem Zeitzünder versehen. Die türkischen Behörden machen Anhänger der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) für diesen und etliche andere in den vergangenen Tagen in der Türkei verübte Anschläge verantwortlich. Die PKK bestreitet das. „Wir wissen nicht einmal, ob diese Anschläge von Kurden verübt wurden; und selbst wenn die Urheber Kurden sind, waren sie nicht organisiert“, erklärte gestern ein Sprecher der Nationalen Befreiungsfront (ERNK), des politischen Arms der PKK, der Nachrichtenagentur AFP.
Bereits in der Nacht von Samstag auf Sonntag hatte es Bombenalarm in Istanbul gegeben. Im letzten Moment war ein Sprengsatz entdeckt und entschärft worden, den unbekannte Täter unter einem Tisch in einem der größten Cafés im europäischen Zentrum Istanbuls, in Beyoglu, deponiert hatten. Die mit Metallsplittern gefüllte Bombe hätte in dem dicht besetzten Café wahrscheinlich eine Massaker angerichtet. Den Auftakt in der Attentatsserie machte ein Anschlag in dem Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpasa, wo Unbekannte eine anscheinend selbstgebastelte Bombe in ein Café warfen. Dabei gab es nur Leichtverletzte.
In der vergangenen Woche war es vor allem im Osten des Landes zu Schießereien und bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen. Ein Kommando der PKK, ein Mann und eine Frau, hatten am Donnerstag als Ehepaar mit Kinderwagen getarnt ein Café im Zentrum der Stadt Elazig angegriffen. Mit Maschienenpistolen, die sie in dem Kinderwagen transportiert hatten, schossen sie wahllos in das Café und töteten vier Menschen. Auf der Flucht wurden sie von einem Polizeikommando gestellt und bei der anschließenden Schießerei getötet. Das Café soll hauptsächlich von türkischen Nationalisten besucht werden.
Außer den Attentaten und Bombenanschlägen hat die PKK unmittelbar nach dem Todesurteil gegen Parteichef Abdullah Öcalan vor einer Woche vor allem den Kampf in den kurdischen Bergen forciert. Nach Militärangaben gab es Feuergefechte in den Provinzen Hakkari, Batman, Bingöl und Sirnak. Dabei sollen 22 PKK-Militante, vier Soldaten und ein Polizist getötet worden sein. Die in Köln stationierte kurdische Nachrichtenagentur DEM berichtete demgegenüber, die PKK-Guerilla habe mehrere Militärposten in den Provinzen Mardin und Sirnak angegriffen und dabei elf Soldaten getötet. Nach Angaben der türkischen Behörden soll die PKK auch für eine Minenexplosion verantwortlich sein, bei der gestern im Südosten ein Insasse eines Kleinbusses verletzt wurde.
Bereits vor Beginn des Prozesses gegen Öcalan am 31. Mai waren die Kämpfe im kurdisch besiedelten Südosten der Türkei besonders heftig gewesen, weil die Armee versucht hatte, die Konfusion nach der Verhaftung des PKK-Chefs zu nutzen, um seine Organisation endgültig über die Grenze in den Nordirak zu vertreiben. Für die PKK kam es darauf an, ihren Anhängern zu demonstrieren, daß sie aktionsfähig ist und auch ohne ihren Vorsitzenden weiterkämpfen kann. Im Prozeß hatte Öcalan dann sowohl die PKK wie auch das Militär aufgefordert, die Kämpfe zu beenden. „Wenn ihr mir einen Kontakt zu meinen Leuten ermöglicht, wenn ich mit ihnen sprechen kann und wenn ihr die PKK als Partei legalisiert, kann ich die Kämpfer in drei Monaten von den Bergen holen“, hatte Öcalan im Gerichtssaal behauptet. Selbst nach seiner Verurteilung sagte er: „Der politische Prozeß fängt jetzt erst an.“
Zumindestens was die türkische Öffentlichkeit angeht, hat Öcalan recht behalten. Kaum war das Urteil gesprochen, begann in sämtlichen Medien des Landes eine heftige Debatte um die Vollstreckung des Todesurteils. Einmal angefangen, war die Diskussion schnell auch bei der „kurdischen Frage“ angelangt. Als hätte es nie öffentliche Tabus gegeben, redeten plötzlich Abgeordnete, Publizisten, Ex-Diplomaten und Fernsehmoderatoren über kulturelle Identitäten und deren Anerkennung unter dem Dach der Türkei. Das konservative Massenblatt Hürriyet titelte: „Die historische Debatte hat begonnen.“ Der frühere Botschafter der Türkei in den USA, Sukrü Elekdag, forderte seine Landsleute auf, endlich die Realität des Landes anzuerkennen und den Kurden ihre kulturellen Rechte einzuräumen: „Dann sind wir das ganze Problem bald los“. Der konservative Abgeordnete der Partei des Rechten Weges (DYP), Kamer Genç aus der kurdischen Provinz Tunceli, erzählte, daß seine Mutter nie türkisch gelernt und deshalb auch das staatliche Fernsehen nie verstanden habe.
Die Regierung Bülent Ecevits will noch vor der Sommerpause ein Gesetz durchbringen, daß PKKlern, denen lediglich Mitgliedschaft in der Organisation vorgeworfen wird, eine Amnestie einräumt, wenn sie sich stellen. Entscheidend wird aber sein, ob das Urteil gegen Öcalan vollstreckt wird oder nicht. Obwohl Ecevit sich gegen die Ermahnungen aus Europa verwahrt hat, ist er persönlich gegen eine Hinrichtung. Um im Parlament, in dem letztlich darüber entschieden wird, ob das Urteil vollstreckt wird, eine Mehrheit gegen die Exekution zu bekommen, ist aber noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. „Mit der Zeit“, so hofft Ecevit, „werden sich die Emotionen abkühlen.“ Das war allerdings noch vor den jüngsten Anschlägen in Istanbul.
Jürgen Gottschlich, Istanbul
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