ARD-Film „Das weiße Kaninchen“: Jäger und Beute

Starkes öffentlich-rechtliches Fernsehen: der düstere und beängstigend gute Film „Das weiße Kaninchen“ über Mobbing und Missbrauch.

Eine blasse junge Frau mit blutunterlaufenen Augen schaut in einen Spiegel

Gleich zwei Chatbekanntschaften missbrauchen Sara (Lena Urzendowsky) Foto: Andreas Wünschirs/SWR

Der Daumen zeigt senkrecht nach oben, volle Punktzahl. „Das weiße Kaninchen“ ist souverän geschrieben, inszeniert und gespielt, es behandelt ein relevantes Thema, abgründig umgesetzt, nicht die Spur pädagogisch. So wünschen wir uns das öffentlich-rechtliche Fernsehen jede Woche, jeden Tag. Den letzten vergleichbaren Film zeigte die ARD am 20. Januar mit „Operation Zucker: Jagdgesellschaft“. Damals ging es um den sexuellen Missbrauch von Kindern durch organisierte Päderasten. Ein anderes, schon fünf Jahre altes Beispiel ist „Homevideo“, über das im Suizid mündende Leiden eines Pubertierenden, dessen privates Masturbationsvideo in die falschen Hände geraten war.

Wenn nun also „Das weiße Kaninchen“ die Themen Pädophilie und Cyber-Mobbing kurzschließt, ist das nur ein logischer Schritt weiter in einer Welt, die nicht in Ordnung ist. Wenngleich sie vielleicht doch nicht ganz so verdorben ist, wie sie hier konstruiert wird: Dass nämlich gleich die ersten beiden Chatpartner, an die die 13-jährige Sara (Lena Urzendowsky) gerät, unabhängig voneinander ein unterschiedlich durchtriebenes, in jedem Fall böses Spiel mit ihr spielen, ist der auf 90 Minuten verdichteten Version der Welt geschuldet. Der schnöselige Schönling Kevin verführt Sara zu Sexfotos, um sie damit zu Sexfilmen oder gleich zum Sex mit ihm zu nötigen.

Noch perfider ist nur ein netter, engagierter Lehrer: „Also versteht mich nicht falsch. Ich will das Internet nicht verdammen. Ich will euch nur bewusst machen, dass dort Jäger unterwegs sind. Wenn ihr nicht aufpasst, seid ihr vielleicht die Beute.“ Und er der Jäger. Selbst Vater einer Tochter in Saras Alter, nimmt er im Chat mit Sara die Identität eines Teenagers an, angeblich um Leute wie Kevin zu überführen. Die Besetzung dieses „Vertrauenslehrers“ mit dem pausbäckig-knuddeligen Devid Striesow ist ein Coup. Wie er im Sportunterricht als Helfer beim Bockspringen erst genügend Eindrücke von den Mädchen in ihren engen Sportsachen sammelt, um sich dann kurz zu entschuldigen und sich schnell befriedigt. Wie er nur einen kurzen Moment lang irritiert ist, als ihn die Lehrerkollegin beinahe ertappt. Das Leben als Pädophiler ist eine permanente Undercoverexistenz.

Und wenn er nicht aufpasst, ist der Jäger vielleicht die Beute. Der Lehrer hat sich Kevin vorgeknöpft. Ein Polizist (Shenja Lacher) findet das gut – bis er auf einen Satz stößt, den der Lehrer im Chat an Sara geschrieben hat: „Vielleicht liebt er dich nicht, aber deine Liebe kann er dir nicht nehmen.“ Der Polizist hat den Satz schon einmal gelesen, er kam ihm bei einem alten, unaufgeklärten Fall unter.

Von den Machern des stärksten „Tatorts“

Florian Schwarz (Regie) und Michael Proehl (Drehbuch), die einander seit Filmakademiezeiten in Ludwigsburg kennen, zeichneten bereits für den starken Ulrich-Tukur-„Tatort“ „Im Schmerz geboren“ verantwortlich. Am „Kaninchen“-Drehbuch hat der Grimme-Preis-Sammler Holger Karsten Schmidt mitgeschrieben, der in Ludwigsburg Drehbuchschreiben lehrte, als Schwarz und Proehl dort studierten.

Es war also zu erwarten, dass „Das weiße Kaninchen“ sich nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch etwas traut. Das Filmen von Kindern als Lustobjekte, die sie aus der Perspektive des Pädophilen sind, ist nicht unheikel. Das Filmen des Internets – von Menschen also, die stumm vorm Computer sitzen – ist ein weitgehend ungelöstes Problem.

Mi., 20.15 Uhr, ARD, „Das weiße Kaninchen“; Drama D 2016; Regie: Florian Schwarz; Buch: Michael Proehl und Holger Karsten Schmidt; DarstellerInnen: Devid Striesow, Lena Urzendowsky, Louis Hofmann

Sara und der Lehrer sitzen vorm Computer: Sie sitzen einander unterm Sternenzelt gegenüber und sprechen miteinander durch eine Art digitale Membran. Sara und Kevin sitzen einander in einer bonbonfarbenen Milchbar namens „Cat Bistro“ gegenüber, sie tragen Katzenmasken. Die Filmemacher gehen das Problem experimentell und referenziell an.

Das Beste und Beängstigendste an dem Film aber ist, wie sie es schaffen, nicht nur die Psyche einer 13-Jährigen nachfühlbar zu machen, sondern auch die eines Pädophilen.

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