AKW-Ruine in Fukushima: In der Strahlenhölle
Zum zweiten Jahrestag der Atom-Katastrophe in Fukushima konnten Journalisten das Gelände des Kraftwerks besuchen. Der taz-Korrespondent war dabei.
FUKUSHIMA taz | Radioaktive Strahlung lässt sich nicht sehen, schmecken oder berühren. Aber das Wissen um ihre gefahrbringende Existenz reicht aus, um bei Besuchern des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi ein mulmiges Gefühl zu erzeugen. Schon an der Messstelle vor dem streng bewachten Eingangstor der havarierten Atomanlage Fukushima Daiichi zeigt das Dosimeter der Journalisten eine Belastung von 8 Mikro-Sievert pro Stunde an, 80 Mal mehr als die natürliche Hintergrundstrahlung.
Unterwegs in der weitläufigen Industrieanlage sind die Werte teilweise drastisch höher, etwa am weit geöffneten Zugang zum Turbinengebäude von Reaktor 3. Der Tsunami hat das metallene Rolltor brutal nach oben gefaltet. Hier springt der Strahlenanzeiger auf 1.700 Mikro-Sievert pro Stunde. Die erlaubte Jahresdosis von 1 Milli-Sievert für einen normal Sterblichen wäre hier nach 35 Minuten erreicht. Ein AKW-Arbeiter hätte sein Jahresmaximum von 20 Milli-Sievert nach zwölf Stunden abbekommen.
Unter dem strahlend blauen Winterhimmel wirbelt der kalte Pazifikwind Staubwolken zwischen den beschädigten Kraftwerksbauten auf. Im Staub lauern die radioaktiven Isotope, deren Zerfallsstrahlung menschliches Gewebe schädigt.
Die Besucher müssen sich daher der gleichen Prozedur unterziehen wie jeder AKW-Arbeiter und in weiße Ganzkörperanzüge aus einem dicht gewebten Polyethylen-Vliesstoff steigen. Über ein Paar Handschuhe aus Baumwolle streifen sie zwei Paar Plastikhandschuhe und verkleben sie mit dem Anzug. Die Füße werden in zwei Paar Wollsocken gesteckt, über die Schuhe kommt eine durchsichtige Plastikhülle. Man setzt eine Stoffkappe auf und zurrt die Atemmaske mit Gummibändern fest.
Wie ein Röntgenbild der Lunge
Die harte Gammastrahlung geht zwar mühelos durch sämtliche Schichten durch. Aber die Schutzmaßnahmen verhindern, dass strahlende Staubteilchen sich auf der Haut festsetzen oder über die Atemwege dauerhaft in den Körper gelangen. Vor und nach der Tour über das AKW-Gelände werden die Besucher deshalb für jeweils eine Minute in einem Ganzkörpermessgerät auf innere Verstrahlung untersucht.
Am 11. März jährt sich das Erdbeben in Japan, in dessen Folge das Atomkraftwerk in Fukuschima Daiichi zerstört wurde, zum zweiten Mal. Der Betreiber Tokyo Electric Power (Tepco) hat eine ausgewählte Gruppe ausländischer Journalisten eingeladen, die Ruinen zu besuchen. Martin Fritz, taz-Japan-Korrespondent in Japan, konnte bei dieser Gelegenheit am Mittwoch erstmals das verstrahlte Gelände betreten.
Während der fünf Stunden in dem Atomkomplex zeichnen die Dosimeter der Besucher eine akkumulierte Strahlenmenge von 60 bis 70 Mikro-Sievert auf. Das ist etwa so viel wie bei einem Röntgenbild der Lunge. Der Fukushima-Betreiber Tepco sieht darin einen Erfolg. Die Strahlung auf dem Gelände sei „signifikant“ gesunken, verkündet AKW-Chef Takeshi Takahashi mit Stolz in seinen müden Augen.
Das liegt vor allem daran, dass ein Großteil der kontaminierten Trümmer weggeräumt wurde. Die verringerte Strahlung habe Aufräum- und Reparaturarbeiten beschleunigt, erzählen Tepco-Mitarbeiter. Im Vergleich zum Vorjahr seien die Aktivitäten auf dem Gelände viel organisierter.
Auf der Meerseite wurden mit Steinen gefüllte Drahtsäcke zu einem Tsunami-Schutzdeich aufeinander getürmt. In einer trockengelegten Zone werden demnächst dickwandige Stahlrohre bis zu 19 Meter in den Boden getrieben, damit kein Strahlenwasser mehr ins Meer fließen kann. Hinter jedem der drei havarierten Reaktoren steht ein Lastwagen mit mehreren Pumpen, die das Kühlwasser in den Reaktorbehältern zirkulieren lassen. Die dicken Wasserleitungen wirken ordentlich verlegt.
Über 3.000 Menschen arbeiten jeden Tag in Fukushima Daiichi. Auf den ersten Blick scheinen sie trotz ihrer lästigen Schutzausrüstung eine große Bewegungsfreiheit zu haben. Auf dem Dach von Reaktor 4 entlädt ein Arbeiter gerade einen Lastenaufzug, der an der Fassade neu montiert wurde. Der abgeplatzte Putz und die Risse im Mauerwerk erinnern an die heftige Wasserstoffexplosion vor zwei Jahren.
Gewaltige Metallkonstruktion
AKW-Chef Takahashi beteuert, das schwer beschädigte Gebäude sei durch Stahlträger und Betonstützen inzwischen erdbebensicher. Ein Schwerlastkran bringt einen Stahlträger für die gewaltige Metallkonstruktion heran, die neben Reaktor 4 in die Höhe wächst. Darüber sollen ab November aus dem Abklingbecken im obersten Stockwerk 1.535 abgebrannte, jeweils 4 Meter lange Brennstäbe geborgen werden.
Im benachbarten, unbeschädigt gebliebenen Lagergebäude, das erstmals Besucher sehen dürfen, werden bereits die Brennelemente aus dem Wasser geholt und in Betoncontainer verpackt. So schafft man Platz für die Brennstäbe aus Reaktor 4.
Mangels Zwischen- und Endlagern verbleiben in Japan die abgebrannten Brennstäbe über den Reaktoren und auf dem AKW-Gelände. In Fukushima Daiichi verursacht diese Praxis ein Platzproblem, weil die Abklingbecken über allen vier Reaktoren bis 2022 ausgeräumt werden sollen. Insgesamt 11.417 neue und benutzte Brennstäbe müssen geborgen und eingelagert werden.
Doch die Fortschritte an Reaktor 4 können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ingenieure auch zwei Jahre nach der Katastrophe so gut wie nichts über den Zustand der zerstörten Reaktoren wissen. Die Sondierungen mit Endoskopen haben nur wenige Erkenntnisse darüber gebracht, wie viel Brennmaterial zum sogenannten Corium verschmolzen ist und wo es in den Behältern festgebacken ist.
Die Strahlung in den Gebäuden ist so hoch, dass Menschen sie voraussichtlich noch bis Anfang des nächsten Jahrzehnts nicht gefahrlos betreten können. Ein 6 Millionen Dollar teurer Roboter auf Raupen, ging im dritten Stock von Reaktor 2 verloren.
Frommer Wunsch: 30 bis 40 Jahre für die Stilllegung
Das erdbebensichere Kontrollzentrum steht nur wenige hundert Meter von diesen Strahlenhöllen entfernt. Decken und Fenster sind mit Bleiplatten verkleidet, so dass die Strahlung hier nicht höher als im 250 Kilometer entfernten Tokio ist.
Die ersten ausländischen Besucher seit der Katastrophe müssen einen Ganzkörper-Strahlenmesser passieren. Das Großraumbüro darf nicht kontaminiert werden. An der Wand hängt ein neungeteilter Bildschirm für Konferenzschaltungen zur Tepco-Zentrale und in andere Kraftwerke.
Trotz aller Computertechnik hat man jedoch auch im Kontrollzentrum keine Ahnung, an welchen Stellen die Reaktorbehälter lecken, so dass immer neues verstrahltes Wasser in die Untergeschosse sickert. Frühestens 2022 kann man mit der Öffnung der Reaktoren beginnen. „Die Stilllegung dauert 30 bis 40 Jahre“, wiederholt AKW-Chef Takahashi die offizielle Linie. Unabhängige Kenner halten das für einen frommen Wunsch.
Das zeigen auch die aufwändigen Arbeiten auf dem Dach von Reaktor 3. Zwei Kräne arbeiten sich dort durch die Trümmer zum Abklingbecken mit den abgebrannten Brennstäben durch. Eine Explosion hatte am 15. März 2011 die Außenhülle weggesprengt und die Stahlkonstruktion in einen wirren Haufen metallener Spaghetti verwandelt.
Auch diesen schockierenden Anblick will Tepco so bald wie möglich unter einer Schutzhülle verschwinden lassen, um wie schon bei Reaktor 1 die offenen Wunden der Katastrophe zu verdecken. Zwei Metallgerüste verdecken bereits die Sicht auf die zerfetzten Seiten des Gebäudes.
Die Aufräumarbeiten gehen quälend langsam voran. Die zwei Kräne können wegen der extremen Radioaktivität nur ferngesteuert werden.
Immerhin steht Tepco kurz davor, die ausufernden Mengen an kontaminiertem Wasser unter Kontrolle zu bekommen. Bislang wird die Flüssigkeit in über 900 Tanks mit je 100.000 Litern Fassungsvermögen und gewaltigen Fassspeichern aufbewahrt. Sie stehen auf betoniertem Untergrund und sind von Sandsäcken umgeben. „Das soll verhindern, dass kontaminiertes Wasser ins Grundwasser leckt“, erklärt ein AKW-Sprecher.
Das Wasser fließt in den Pazifik
Als im vergangenen Jahr der Plan von Tepco bekannt wurde, dieses vorgefilterte Wasser in den Pazifik abzulassen, gab es in Japan einen Aufschrei der Empörung. Daher wurde inzwischen neben der Zufahrt zu den Reaktoren eine Reinigungsanlage von Toshiba errichtet.
In drei Prozessreihen lassen sich dort 62 verschiedene Isotope aus dem Wasser filtern. Tepco wartet auf die Genehmigung der ersten Tests durch die neue Atomaufsicht. Niemand will jedoch bisher zugeben, dass das saubere Wasser am Ende doch ins Meer gepumpt wird.
„Mit ganzem Herzen für Fukushima einsetzen!“ – Dieses Spruchband hängt an vielen Bauten auf dem AKW-Gelände. Ob die Stimmung unter den Arbeitern so kämpferisch ist, lässt sich schwer einschätzen. Strahlung, Erschöpfung und soziale Missachtung machen offenbar besonders den Tagelöhnern zu schaffen.
Die Besucher des Kraftwerks dürfen aber nur mit Ingenieuren aus dem mittleren Management sprechen. Bei ihnen ist das Gefühl der nationalen Aufgabe zu spüren, diesen Schandfleck Japans zu tilgen.
Jun Hirayama von Hitachi Plant Technologies hat sich freiwillig zum Einsatz gemeldet und in zwei Jahren eine Dosis von fast 100 Milli-Sievert erhalten. Seine Familie habe sich erst Sorgen gemacht, aber er sei ja nie innerlich verstrahlt worden, betont er.
Bis Ende Dezember haben 146 Tepco-Angestellte und 21 Zeitarbeiter diese Maximaldosis für fünf Jahre überschritten. Im Laufe der Zeit sinkt anscheinend die Wachsamkeit für die eigene Gesundheit. „Man gewöhnt sich an die verstrahlte Umgebung“, gibt Hiroshige Kobayashi vom Baukonzern Kajima zu. So eine psychologische Veränderung erlebe man hier.
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