AKP-Verbotsverfahren: Surreale Routine
Verbieten die Verfassungsrichter in Ankara die türkische Regierungspartei? Was wird dann aus dem Minister- und dem Staatspräsidenten?
ISTANBUL taz Am Montagvormittag begannen am Verfassungsgericht in Ankara die Schlussberatungen in dem wohl wichtigsten Verfahren, vor dem die türkischen Verfassungsrichter jemals standen. Innerhalb der nächsten Tage müssen die elf Richter entscheiden, ob sie die Regierungspartei AKP verbieten und darüber hinaus fast das gesamte Führungspersonal der Partei einschließlich Ministerpräsident Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül mit einem fünfjährigen Politikverbot belegen oder eben nicht. Parteiverbote sind zwar in der Türkei ein schon häufiger genutztes Mittel, um insbesondere kurdische oder islamistische Parteien auszuschalten, ein Verbot der mit absoluter Mehrheit regierenden Partei stand aber bislang noch nie auf dem Programm des Verfassungsgerichts. Um eine Regierung abzusetzen, bedurfte es in den vergangenen Jahrzehnten immer eines Militärputsches, AKP-Anhänger sprechen deshalb jetzt von einem drohenden Justizputsch.
Rein prozesstechnisch ist der gesamte Vorgang bislang mit einer Routine abgelaufen, die angesichts der Ungeheuerlichkeit des Vorgangs gerade surreal anmutet. Der Generalstaatsanwalt hat seine Anklage vorgelegt, die AKP hat schriftlich darauf erwidert, es fand offenbar eine mündliche Anhörung beider Seiten statt, und schließlich hat der als Berichterstatter beauftragte Richter vor zehn Tagen seinen Kollegen seine Empfehlung vorgelegt, die tatsächlich lautete, die Anklage abzuweisen und die AKP nicht zu verbieten. Ein justizförmiges, korrektes Verfahren, als ginge es um die Überprüfung eines Verfassungsartikels zur Neuregelung von Provinzgrenzen oder Ähnlichem. Tatsächlich aber brodelt es hinter der scheinbar so sachlichen Fassade.
Was immer dazu behautet wurde, die Anklage ist ein hoch politischer Akt, mit dem ein Teil der Bürokratie, des Militärs und bestimmte kemalistische Oppositionspolitiker versuchen, eine Machtbalance im Land wiederherzustellen, die nach dem überwältigenden Wahlsieg der AKP und der anschließenden Wahl ihres zweiten Mannes, Abdullah Gül, zum Staatspräsidenten sich endgültig zu der islamisch grundierten AKP und ihren Anhängern zugeneigt zu haben schien. Letzter Auslöser für das Verfahren dürfte eine Verfassungsänderung gewesen sein, die die AKP zusammen mit der ultrarechten MHP im Parlament durchsetzte und mit der die Kopftuchfreiheit an den Universitäten eingeführt wurde. Diese Verfassungsänderung hat das Verfassungsgericht zwar vor Wochen schon wieder kassiert, trotzdem entscheiden die Richter in diesen Tagen de facto darüber, ob eine Teil-Reislamisierung der Türkei durch Wahlen möglich sein soll oder nicht.
Es ist allerdings die Frage, ob das Gericht, selbst wenn es dem Antrag des Generalstaatsanwalts folgt, wirklich erreichen kann, was doch das Ziel des Prozesses sein soll. Nach einem Verbot würde sich die AKP unter neuem Namen konstituieren. Ein politisches Betätigungsverbot für Erdogan gälte nach den Buchstaben des Gesetzes für die Parteipolitik, d. h. er dürfte zwar nicht mehr für die AKP oder eine neu gegründete Partei aktiv sein, er könnte aber als unabhängiger Kandidat erneut fürs Parlament kandidieren und anschließend sogar wieder zum Ministerpräsidenten gewählt werden. Würde dann nicht, so fragen viele Kommentatoren, sich die Spaltung der Gesellschaft noch viel weiter vertiefen, beide Seiten sich eher radikalisieren, als aufeinander zuzugehen?
Die Richter haben also eine hoch politische Entscheidung vor sich, und Erdogan hat am Wochenende noch versucht, eine kleine Brücke zu bauen. In einem großen Interview mit Hürriyet, einem Blatt, das eher dem laizistischen Lager zugerechnet wird und entsprechend mit der AKP im Clinch lag, hat er zugegeben, dass seine Regierung natürlich "auch Fehler" gemacht habe und eine Versöhnung der Gesellschaft nun das Wichtigste sei. Vielleicht greifen die Verfassungsrichter den Ball ja auf und geben Tayyip Erdogan noch eine zweite Chance.
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