Das Ziel des Istanbuler Bombenanschlags: Hauptsache viele Opfer

PKK, al Kaida, Ex-Generäle: Als Urheber des Bombenanschlags von Istanbul kommen die verschiedensten Tätergruppen infrage.

Blinder Terror wie in Güngören treibt die Destabilisierung der Türkei voran. Bild: dpa

ISTANBUL taz Es sind Bilder wie aus Bagdad. Zerfetzte Leiber, abgerissene Gliedmaßen, eine Blutlache die den ganzen Platz füllt. Und doch zeigen diese Bilder keine Szene aus dem Irak, sondern die Hauptgeschäftsstraße eines Stadtteils von Istanbul. Güngören, auf der europäischen Seite Istanbuls gelegen, ist einer der vielen gesichtslosen Vororte der 12 Millionen Metropole am Bosporus, der sich durch nichts auszeichnet, außer durch die Uniformität billiger Betonapartments. "Hier leben nur ganz normale Menschen die hart arbeiten und in Frieden leben wollen", sagte ein völlig geschockter Anwohner Sonntagnacht kurz nach dem Bombenanschlag einem Reporter des Nachrichtensenders NTV. "Warum hier?"

EU-Chefdiplomat Javier Solana sprach in Brüssel am Montag von einem "verabscheuungswürdigen Bombenattentat, das viele unschuldige Leben gekostet hat". Die Türkei könne auf die volle Unterstützung der EU setzen.

Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer erklärte in Brüssel: "Dieser abscheuliche Terrorangriff war gezielt und brutal auf Zivilisten gerichtet." Die Nato werde "auch weiterhin entschlossen an der Seite des türkischen Volkes im Kampf gegen den Terrorismus stehen".

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier zeigte sich erschüttert.

"Ich verurteile diesen blinden Akt des Terrors aufs Schärfste", sagte er am Montag in einer ersten Reaktion am Rande seines Afghanistanbesuchs in Masar-i-Scharif. AFP, DPA

Es ist in der Tat schwierig eine Antwort auf die Frage zu finden, warum am Sonntagabend gegen 21:45 Uhr in Güngören der schlimmste Bombenanschlag stattfand, der die Türkei in den vergangenen fünf Jahren traf. 17 Tote, darunter zwei Kinder und mehr als 150 Verletzte, sind die traurige Bilanz eines Attentats, das zunächst eher harmlos aussah. Gegen 21:45 Uhr explodierte auf einem Platz an der Kinali Caddesi in einem Betonkübel am Straßenrand eine Bombe, die zwar eine paar Scheiben zu Bruch gehen ließ und dadurch einen Passanten leicht verletzte, aber sonst keine weiteren Schäden anrichtete. Diese so genannten "leisen Bomben" sind in Istanbul und anderen türkischen Städten schon häufiger hoch gegangen, ohne dass davon noch größere Notiz genommen wird. Doch am Sonntagabend in Güngören kam alles ganz anders. Nachdem die Polizei wegen der ersten Bombe gerade begonnen hatte die Straße zu sperren und haufenweise Neugierige zusammen gekommen waren, ging ein zweiter, weitaus stärkerer Sprengsatz in die Luft. Mit diesem perfiden Trick gelang es den Attentätern den hohen Blutzoll zu erreichen, der offensichtlich das Ziel des Anschlages war.

Doch was ist die Botschaft dieses Terroraktes und wer ist deren Absender? In den türkischen Medien wird fast ausnahmslos die kurdische PKK für das Attentat verantwortlich gemacht. Unter Berufung auf Sicherheitskreise titelte das Massenblatt Hürriyet über die "zivilen Opfer der PKK", ganz ohne Fragezeichen. Auch Oppositionsführer Deniz Baykal sprach vor der Presse von Belegen für die Urheberschaft der PKK; angeblich hat es ein ähnliches Attentat der PKK in der südöstlichen Metropole Diyarbakir schon einmal gegeben. Für die PKK spricht außerdem die Lage an der Grenze zum Irak. Noch Stunden vor dem Attentat hat die türkische Luftwaffe Stellungen der PKK im Nordirak bombardiert, in den letzten Wochen sind nach Armeeangaben 30 PKK Kämpfer getötet worden. Es könnte also durchaus sein, dass die PKK angesichts des enormen Drucks den die türkische Armee derzeit in der Grenzregion auf sie ausübt, jetzt den Krieg in die türkischen Städte trägt. Andererseits hat die PKK gestern jede Verantwortung für den Anschlag explizit zurückgewiesen. "Dies ist ein dunkles Ereignis. Dieses Ereignis hat keinerlei Verbindung zum Kampf der Kurden für Freiheit", sagte der Leiter der politischen Sektion der PKK, Zubeyir Aydar.

Für Anschläge im Westen des Landes hat in den vergangenen Jahren immer wieder eine kurdische Gruppe "Freiheitsfalken" die Verantwortung übernommen. Diese Freiheitsfalken haben nach ihren eigenen öffentlichen Angaben mit der PKK nichts zu tun, sind aber wohl tatsächlich deren Spezialgruppe für Anschläge in den westlichen Zentren der Türkei von denen die PKK sich dann aus Imagegründen distanziert.

Doch in diesen Tagen sind in der Türkei auch viele andere Varianten denkbar. Am Montag, also weniger als 12 Stunden nach dem Anschlag, begannen in Ankara die Schlussberatungen des Verfassungsgerichts über das Verbot der Regierungspartei AKP. Schon deshalb steht das Land unter Hochspannung, weil vom Ausgang des Verfahrens die politische Zukunft der kommenden Jahre abhängt. Doch das ist noch nicht alles. Parallel zum AKP Verfahren wurden in den vergangenen Monaten mehr als hundert Leute verhaftet, denen die Staatsanwaltschaft vorwirft, sie hätten einen Putsch gegen die Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan geplant. Zu dieser angeblichen Terrororganisation "Ergenekon" sollen ehemals hohe Generäle, wichtige Publizisten, Wirtschaftsführer und Juristen gehören, auf deren Konto mehrere Attentate, darunter auf einen hohen Richter und möglicherweise auch auf den armenischen Journalisten Hrant Dink gehen sollen, die mit dem Ziel verübt wurden, eine bürgerkriegsähnliche Situation zu provozieren, die dann ein Eingreifen der Armee rechtfertigt.

Am Wochenende waren die türkischen Zeitungen voll mit Versatzstücken aus einer 2.500 Seiten starken Anklageschrift, auf deren Grundlage im Oktober ein Prozess gegen 86 mutmaßliche Mitglieder der Organisation in einem Hochsicherheitstrakt eines ehemaligen Gefängnisses beginnen soll. In der Anklage tauchen praktisch alle ungeklärten politischen Morde der letzten 20 Jahre auf. Auf der Todesliste der Organisation sollen nicht nur ausgewiesene Demokraten wie der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gestanden haben, sondern gleichzeitig kemalistische Hardliner wie Oppositionsführer Deniz Baykal. Bei so viel Unübersichtlichkeit wäre auch ein Attentat in Güngören nicht völlig abwegig. Zuletzt bleibt noch al Kaida, die erst jüngst einen Anschlag auf das US-Konsulat in Istanbul verübten und zu mindestens theoretisch auch in Lage wäre, mit blindem Terror wie jetzt in Güngören, für eine weitere Destabilisierung der Türkei zu sorgen.

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