89er Studentenbewegung in der DDR: "Hätten auf die Straße gehen sollen"

Der damalige FDJ-Chef Richard Schmidt und der spätere Republiksprecher Ronald Freytag sprechen über die Studentenbewegungen an der Humboldt-Universität.

Nahezu eine Million Bürger versammeln sich am 04.11.1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und den umliegenden Straßen – hier auf der Karl-Liebknecht-Straße. Bild: dpa

Am 17. Oktober 1989 diskutierten an der Humboldt-Universität rund 10.000 Studenten erstmals offen über die Verhältnisse in der Universität und in der DDR. Die Studenten gingen nicht auf die Straße - sondern machten eine Urabstimmung. Warum? Der damalige FDJ-Chef Richard Schmidt und der spätere Republiksprecher Ronald Freytag im Gespräch

taz: Herr Freytag, Sie wollten Richard Schmidt 1989 als FDJ-Chef der Humboldt-Universität Berlin abwählen. Warum?

Ronald Freytag: Ob Richard Schmidt FDJ-Chef bleibt, war mir, ehrlich gesagt, egal. Gegen ihn hatte ich nichts. Aber ich wollte die FDJ in ihrer Rolle als Alleinvertretung der Studenten beseitigen.

Es sollte die Blaupause für die Abwahl der SED werden: Studierende der Humboldt-Universität in Berlin und parallel an der Karl-Marx-Universität Leipzig wollten die FDJ per Urabstimmung absetzen. Die Freie Deutsche Jugend, Massenorganisation und "Kampfreserve der Partei", hatte an den Universitäten das Monopol, Studenten zu organisieren und in Organen der sozialistischen Republik zu vertreten. Dieses Monopol beendeten die StudentInnen - sie wählten die FDJ mit 86 Prozent ab. Allerdings: Die Abwahl sollte superdemokratisch sein, sie dauerte bis zum 9. November 89. Für den 10. November war eine große Pressekonferenz angekündigt. Aber der Mauerfall hatte das Interesse an dem urdemokratischen Akt erlahmen lassen.

Herr Schmidt, Sie wollten vor 20 Jahren die FDJ an der Macht halten. Warum?

Richard Schmidt: Ich habe den Ansatz vertreten, dass wir das DDR-System mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln reformieren sollten - dazu gehörte die FDJ. Allerdings war schnell klar, dass sich die Initiative für eine Studentenvertretung nicht unter den Hut der FDJ bringen lassen würde.

Am 17. Oktober 1989 kam es zu einer Studentenversammlung in der Humboldt-Universität. Studenten hatten gefordert, offen über den harten Polizeieinsatz gegen Demonstranten am 40. Jahrestag der DDR zu diskutieren. Was bedeutete diese Versammlung?

Freytag: Es war ein Befreiungsschlag. Geplant war, die Versammlung noch irgendwo unter dem Dach der FDJ ablaufen zu lassen. Aber wegen der schieren Masse der Studenten waren die üblichen Versammlungsrituale nicht mehr einzuhalten. Es waren ja 6.000 Studenten oder mehr …

Schmidt: … wir haben die Teilnehmer auf 10.000 geschätzt. Allein im Audi-Max, wo ich die Debatte leitete, waren 2.000 Leute.

Freytag: Es war ein unglaubliches Gefühl der Befreiung. Wir konnten frei sprechen. Zum ersten Mal in aller Öffentlichkeit. Und das direkt in Fernsehkameras hinein.

Schmidt: Ich würde dir da widersprechen. Wir lagen mit unseren Forderungen gar nicht so weit auseinander. Und auch die freie Diskussion hatte unter dem Dach und innerhalb der FDJ schon früher begonnen - auch über politische Strukturen wie den Alleinvertretungsanspruch der FDJ.

Freytag: Das berührt mich gar nicht, was ihr intern diskutiert habt. Solange es nicht nach draußen trat, war es für mich irrelevant.

Schmidt: Wir haben uns auch der Diskussion nach draußen gestellt.

Freytag: Für den 17. Oktober mag das stimmen. Aber dass die FDJ vorher irgendetwas offen diskutiert hätte, pardon, aber das entsprach nicht meiner Wahrnehmung - und auch nicht der der Mehrheit der Studenten. Für mich war klar, dass die FDJ nicht so reformierbar wäre, dass wir ihr wieder vertrauen konnten. Ich wollte nicht mehr, dass man mir irgendjemanden vor die Nase setzt.

Schmidt: Ich hatte die Hoffnung, dass wir als FDJ dieses heiße Eisen in die Hand nehmen können. Aber plötzlich gab es Leute, die uns überholt haben. Da gab es natürlich konträre Meinungen. Nicht Feindseligkeiten, aber große Skepsis. Wir haben aber auch schnell und mit großer Fairness erkannt: "Das wars, jetzt bricht eine neu Zeit an."

Wann haben Sie das erkannt?

Schmidt: An diesem 17.Oktober. Abends nach der Veranstaltung haben wir von der FDJ uns noch einmal getroffen.

Freytag: Ich finde das erstaunlich. Man darf nicht vergessen: Da war Erich Honecker noch an der Macht.

Schmidt: Es war der Vorabend seiner Absetzung.

Wussten Sie damals, dass Honecker gehen muss?

Schmidt: Am Tag darauf traf sich das Zentralkomitee der SED. Ich wusste, dass dort Entscheidendes passieren sollte. Uns wurde aus der SED signalisiert: Macht euer Ding an der Uni - aber wenn das zu einer Massenrevolte führt, dann gefährdet ihr die großen politischen Weichenstellungen.

Hat die FDJ besprochen, wie man die Studenten daran hindern könnte, auf die Straße zu gehen?

Schmidt: Wir haben nicht explizit darüber gesprochen, wohin sich so ein Zug bewegen könnte. Wenn man aus der Humboldt-Uni rausgeht, steht man sofort auf den Linden. Da liegt die Volkskammer nicht weit entfernt, die ja im Palast der Republik war, glaube ich, oder?

Freytag: Ja, genau.

Schmidt: Der Zug hätte sich auch runter zum Brandenburger Tor bewegen können …

das wäre für Sie doch der GAU gewesen. DDR-Studenten rufen am Brandenburger Tor: So gehts nicht weiter!

Schmidt: Man hatte mir während der Veranstaltung gesagt: "Richard, da schleichen seltsame Leute draußen rum." Auch die Diskussion im Audi-Max wurde von SED-Leuten nebenan mitangehört - es konnte also schon sein, dass da Stasi dabei war.

Freytag: Hat es dich nicht überrascht, dass niemand darüber gesprochen hat, auf die Straße zu gehen.

Schmidt: Von heute aus sieht man oft, was wir alles hätten tun können. Wir waren damals nicht so weit, diese Grenzen zu überschreiten. Irgendwo muss man dazu stehen, wie wir dachten: Die Machtaufteilung war respektierte Wirklichkeit in der DDR.

Herr Freytag, hatten Sie damals daran gedacht, dass es nicht mehr um die Uni geht, sondern um die DDR als Ganzes?

Freytag: Diese Prozesse überlagerten sich ja alle. Aber dass von der Uni ein konkreter Impuls auf die Umgestaltung der DDR ausgehen sollte? Nein. Dafür waren wir zu sehr auf uns selbst bezogen. An diesem Abend ging es jedenfalls primär um die Verhältnisse an der Uni.

Und dass einer von den FDJ-Kritikern geplant hätte, auf die Straße zu gehen?

Freytag: Vielleicht gab es jemanden, der das im Kopf hatte. Da waren immerhin tausende Leute. Ich selbst war an diesem 17. Oktober nicht so weit zu sagen: Ich traue mir das jetzt zu. Ein paar Wochen später, ja. Wir wussten doch gar nicht, was wir wollten. Uns war nur klar, was wir nicht mehr wollten - eine Vertretung durch eine von oben eingesetzte Gruppe!

Herr Schmidt, die FDJ hat versucht, mit Tricks die Studentenversammlung in ihre Hand zu bekommen. War das demokratisch?

Schmidt: Wenn wir einen diktatorischen Ansatz gehabt hätten, dann hätten wir die Veranstaltung gar nicht zugelassen. Oder wir hätten das in die 30 Sektionen verlagert. Das wäre technisch mit unseren Mitteln sicher möglich gewesen. Aber wir sind nicht als die Gralshüter der SED-Diktatur aufgetreten. Es war ein ehrlicher Versuch, sich aufeinander einzulassen.

Herr Freytag, warum haben sie die FDJ nicht einfach spontan abgesetzt?

Freytag: Das hätte einen Grundsatz verletzt, der uns heilig war: Es musste alles superdemokratisch ablaufen. Ums Verrecken demokratisch. Als ich am 4. November auf dem Alexanderplatz eine der Reden hielt, wurde ich hinterher mehrfach angemeckert: "Ich will nicht, dass schon wieder jemand für mich spricht!" Also haben wir die Urabstimmung gründlich vorbereitet, demokratisch wasserdicht.

Haben Sie sich nicht auch geärgert? Immerhin dauerte das Auszählen der Urabstimmung so lange, dass der Fall der Mauer am 9. November Ihnen die Show gestohlen hat.

Freytag: Klar, die Maueröffnung hätte gerne 24 Stunden später kommen können. Wir wollten am 10. November das Ergebnis verkünden. Es hatte sich massenhaft Presse angemeldet. Die "Aktuelle Kamera" hätte das Signal gesandt: Man kann die FDJ abwählen - und damit auch die SED. Es war unser Tag! Dieser historische Zufall hat dazu geführt, dass unser demokratischer Akt nicht gewürdigt worden ist. Ich bin trotzdem stolz auf diesen Prozess.

Schmidt: Ja, es wurde ein unspektakulärer, aber blitzsauberer Übergang. Da hat auch keiner von uns an seinem Posten geklebt.

Herr Schmidt, was würden Sie anders machen, wenn es noch einmal 17. Oktober wäre?

Schmidt: Immer schwierig, so etwas im Nachhinein zu beurteilen. Aber ich glaube, wir hätten gemeinsam mit den aufbegehrenden Studenten mehr bewirken können.

Freytag: Was meinst du damit?

Schmidt: Was wäre passiert, wenn wir am 17. Oktober gemeinsam dazu aufgerufen hätten, auf die Straße zu gehen? Wir hätten es eigentlich machen sollen. Wir haben in kleinen Kreisen auch darüber diskutiert, wie man es machen müsste. Uns hat die Bevormundung ja selbst angeödet, die wir zuließen und die wir auch selbst ausübten.

Freytag: Also, wenn die FDJ plötzlich gesagt hätte, wir gehen jetzt raus, dann wäre mein Weltbild um eine Facette reicher geworden. [lacht]

Schmidt: Dafür wäre aber ein viel früheres Aufeinanderzugehen nötig gewesen.

Freytag: Und es hätte ein Bewusstsein erfordert, das weder ihr noch wir hatten.

Schmidt: Es gab in den FDJ-Zirkeln die Meinung, wir hätten die Veranstaltung an diesem Tag unkontrolliert weiterlaufen lassen sollen. Man hätte aus der Signalwirkung nach draußen mehr machen können. Und an diesem Tag hätte man nur schnips zu machen brauchen. Aber genau das haben wir nicht getan, wir haben es an diesem wichtigen Tag verhindert.

Freytag: Ich kann nur sagen, dass ich über eine konzertierte Aktion nicht informiert war.

Schmidt: Vielleicht zeigt es auch deine Naivität. Da waren vorher von außen ganz klar Signale gesendet worden: Wir machen am 17. Oktober eine Riesenshow in der Uni - und danach gehen wir auf die Straße. Es ehrt dich jedenfalls, dass du nur eine saubere Diskussion über die Uni führen wolltest.

Freytag: Nein, das ehrt mich überhaupt nicht. Denn wir betraten damals das unbekannte Terrain der Demokratie - und das wollten wir ganz sicher ohne Händchenhalten durch die FDJ.

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