piwik no script img

Foto: Eric Schaal/Weidle Verlag

80 Jahre StalingradDer Anfang vom Ende

1943 kapitulierte die Wehrmacht in den Trümmern von Stalingrad. Thomas Mann kommentierte die Reaktionen des NS-Regimes. Wie der Literaturnobelpreisträger den Kampf der Alliierten unterstützte.

2 3. Februar 1943. „In gewissem Munde wird nämlich auch die Wahrheit zur Lüge“: Der Originaltext von Thomas Mann über Stalingrad und die monströse Perfidie der Nazis

„Die Geschichte wird einmal geteilter Meinung darüber sein, was widerwärtiger war, die Taten der Nazis oder ihre Worte. Es wird ihr auch schwer fallen, zu entscheiden, wann dies Gelichter die Menschheit mehr beschimpfte: wenn es log, oder wenn es die Wahrheit sagte. In gewissem Munde wird nämlich auch die Wahrheit zur Lüge, zu einem Mittel des Betruges, – und widerwärtiger kann man freilich nicht lügen als mit der Wahrheit. Goebbels und die Seinen schwelgten kürzlich in Wahrheitsliebe. Die rückhaltlose Redlichkeit, mit der sie das deutsche Volk von dem Desaster in Rußland benachrichtigten, das allerdings zu den verheerendsten Miß­erfolgen der Kriegsgeschichte gehört, war monumental und überwältigend. An dem schauerlichen Ende der Belagerung von Stalingrad wurde nichts beschönigt, – außer etwa durch die Nichterwähnung der Tatsache, daß gerade für diese Katastrophe Führer Hitler ganz allein und persönlich verantwortlich ist. Im Radio spielte man zu der Nachricht nicht die Parteihymne, das Horst Wessel-Lied, das doch vielleicht unangenehm berührt hätte, sondern „Ich hatt’ einen Kameraden“. Eine viertägige Reichstrauer wurde ausgeschrieben, eine Trauer über die mißglückten Untaten des Nazi-Regimes, – ein Hohn auf die wirkliche Trauer, in die das Volk durch das sinnlose Verderben von Zehntausenden seiner Söhne versetzt ist. Was sich an Empörung, Verzweiflung, Aufsässigkeit etwa regen könnte, wird in Trauer versenkt. Wir wollen alle miteinander trauern, Führer und Verführte, und „Ich hatt’ einen Kameraden“ singen!

Der widerliche Beigeschmack der Wahrhaftigkeit rührte von ihrer Zweckhaftigkeit her. Ihr Zweck war erstens, den elementaren Patriotismus des Volkes für die Rettung des Regimes zu mißbrauchen und es zu einer Mobilisierung der letzten Kräfte, einer levée en masse zu bewegen, – wobei es den Veranstaltern weniger um die zweifelhaften Ergebnisse dieses letzten Aufgebots, als um die damit verbundene ablenkende Emotion zu tun ist. Zweitens aber, und besonders, wurden die Siege der Russen, wurde die Nazi-Niederlage so offen und ehrlich aufgemacht und womöglich noch vergrößert, um die angelsächsische Welt in Schrecken zu versetzen vor der „Roten Gefahr“, vor der Überschwemmung des europäischen Kontinents durch den Bolschewismus. Die wirre Botschaft, die Hitler zum 10. Jahrestag der Machtergreifung verlesen ließ, voll von erpresserischen Warnungen dieser Art, voll von rhetorischen Rudolf Hess-Flügen über den Kanal, unternommen in der hartnäckigen Hoffnung, England und die Vereinigten Staaten doch noch gegen „Zentral-Asien“, soll heißen: Rußland, auf seine Seite zu bringen. Ost-Asien, nämlich Japan, sein Verbündeter, ist sehr gut, aber „Zentral-Asien“, nämlich Rußland, das er frech und dumm mit Krieg überzogen hat, ist der Weltfeind. Er selbst, Hitler, ist feinstes, edelstes, zartestes, kultiviertestes Europa; aber das Land Puschkins, Gogols und Tolstois ist Hunnenland, dessen Horden sich anschicken, Hitlers blühenden Kontinent in „unvorstellbare Barbarei“ zu stürzen.

Es ist ein elender Schwindel, und er wird fruchtlos sein. Den Nazis steht es an, die Gesellschaftsfähigen zu spielen und durch Göring mit dem Zaunpfahl winken zu lassen, ebenso dick wie er selbst: „Wir werden allenfalls mit Gentlemen Frieden schließen, aber niemals mit den Sowjets!“ Wissen sie immer noch nicht, dass sie jedes Friedensschlusses überhoben sein werden? Daß mit ihnen niemand Frieden schließen wird, weder die Demokratie noch der Sozialismus? Dass der Frieden nach ihnen kommt? – Was aber die Rote Gefahr betrifft, so hat Stalin in seiner Rede vom 6. November 1941 gesagt: „Unser erstes Ziel ist, die russische Erde und ihre Bewohner vom deutschen Nazi-Joch zu befreien. Kriegsziele wie das, unseren Willen und unsere Regierungsform den slavischen oder anderen unterjochten Völkern Europas aufzuzwingen, haben wir nicht und können sie nicht haben.“ Und durch seinen Botschafter Maisky hat er erklären lassen: „Die Sowjet-Union verteidigt das Recht jeder Nation auf Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit ihres Gebietes … und auch ihr Recht, die soziale Ordnung zu errichten und die Regierungsform zu wählen, die sie für ratsam und notwendig hält.“ – In Bezug auf Deutschland aber hat er gesagt: „Ein Hitler kommt und geht, aber das deutsche Volk und der deutsche Staat bleiben.“ Er hat gewiß den Wunsch, die Menschen zu bestrafen, die seinem Lande so unendliches Leiden zugefügt haben, aber nie ist ein Wort der Drohung und des Vernichtungswillens gegen das deutsche Volk über seine Lippen gekommen. Hat Rußland Deutschland überfallen, oder verhielt es sich umgekehrt? Der Tag ist vielleicht nicht fern, an dem das deutsche Volk in Rußland einen besonnenen Freund erkennen wird.“

Der Text folgt der Broschüre „Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland“ von Thomas Mann, erschienen 1945 im Stockholmer Bermann-Fischer Verlag. Aktueller Abdruck mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags, Frankfurt am Main.

Thomas Mann als eine Art moralisches Gewissen

von Klaus Hillenbrand

Marsch deutscher Kriegsgefangener durch das verschneite und zerstörte Stalingrad Anfang 1943

Die Wehrmacht hatte sich in den Resten des Kaufhauses Univermag in den Ruinen Stalingrads eingegraben. Die Lage der Nazi-Armee war hoffnungslos. Von allen Nachschubverbindungen getrennt, zum Schluss in einen Süd-, einen Mittel- und einen Nordkessel aufgespalten, kämpften die Soldaten der 6. Armee auf Befehl Hitlers auch dann noch, als das Ende unabwendbar war. Am 31. Januar 1943 um 7.35 Uhr funkte die Station aus dem Hauptquartier: „Russe steht vor der Tür. Wir bereiten Zerstörung vor“, bald darauf: „Wir zerstören“. Zwei Tage später, am 2. Februar 1943, kapitulierte auch die Armeeführung des Nordkessels. Die Schlacht um Stalingrad war beendet.

Die Zahl der Opfer war ungeheuerlich. Bis zu eine Million sowjetische Soldaten starben in Stalingrad, nicht gerechnet Zehntausende Zivilisten. Auf Seiten der deutschen Angreifer kamen mindestens 60.000 Soldaten ums Leben. Rund 110.000 gerieten in Gefangenschaft, nur wenige Tausend von ihnen überlebten.

Im nordamerikanischen Los Angeles war der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann in seiner Villa am Pazifik über Stalingrad wohl informiert. Nicht nur war die US-amerikanische Presse voll von Informationen über die Niederlage der Nazis, zudem informierte ihn die britische BBC mit Hintergrundberichten über die Lage in Deutschland. Denn der berühmte Autor der „Buddenbrooks“ war nicht nur Literaturnobelpreisträger, sondern er stand den Alliierten aus seinem Exil heraus zur Seite. Schon seit Oktober 1940 wandte sich Thomas Mann in vom deutschen Dienst der BBC übertragenen Reden ganz persönlich an die daheim gebliebenen Deutschen.

Mann schrieb dazu 1942: „Ich glaubte, diese Gelegenheit, hinter dem Rücken der Nazi-Regierung, die mich jeder geistigen Wirkungsmöglichkeit in Deutschland beraubt hatte, Kontakt zu nehmen – und sei es ein noch lockerer und bedrohter Kontakt – mit deutschen Menschen und auch mit Bewohnern der unterjochten Gebiete, nicht versäumen zu dürfen.“

Den Weg zur BBC hatte offenbar Manns Tochter Erika bei einem Besuch in London 1940 geebnet, die dort Beiträge für den Sender produzierte. Die Sendeleitung hatte schon einige Zeit nach einem deutschsprachigen Autor gesucht, der im Kampf der Propaganda als moralisches Gewissen fungieren konnte, um die Deutschen zur Umkehr zu bewegen. Geplant war zunächst, dass Thomas Mann Berichte über Amerika verfassen sollte, die ein Sprecher im Londoner Studio dann verlesen konnte.

Doch daraus wurde rasch mehr. Thomas Mann begann an das Gewissen der Deutschen zu appellieren. Er ging auf aktuelle Entwicklungen ein und war einer der Ersten, die über den Holocaust berichteten, als viele noch zweifelten, dass so etwas möglich sein könnte. Er prophezeite von Beginn an eine Niederlage der Nazis. Zugleich definierte sich Mann als „Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme; die Stimme eines Deutschland, das der Welt ein anderes Gesicht zeigte und wieder zeigen wird als diese scheußliche Medusen-Maske, die der Hitlerismus ihm aufgeprägt hat“. Die BBC-Leitung äußerte sich in aller Regel begeistert über diese Stimme.

Das Unternehmen war kein einfaches. Denn schon bald nach Sendebeginn entstand der Wunsch, nicht nur Thomas Manns Worte, sondern auch seine eigene Stimme im Deutschen Reich hörbar zu machen. Die damaligen unvollkommenen technischen Möglichkeiten zwangen zu einem komplizierten Verfahren: Manns Reden wurden zunächst in einem Studio in Hollywood auf eine Schallplatte aufgenommen, die anschließend nach New York geflogen wurde. Dort spielte man sie vor einem Mikrofon ab, das mit einer Telefonleitung nach London verbunden war. In London wurde daraus eine neue Platte gepresst und diese schließlich ausgestrahlt – und dabei musste man gegen die Störsender bestehen, mit denen die Nazis den Feindesfunk zu unterdrücken hofften.

Wessel, Hess und Maisky

Die Textinhalte der Radioansprachen von Thomas Mann waren 1943 gebildeten Menschen in Deutschland fast immer verständlich. Heute mögen einige von ihnen erklärungsbedürftig sein. Horst-Wessel-Lied: Der 1907 geborene SA-Sturmführer starb 1930 bei gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Kommunisten in Berlin. Danach wurde er zu einer Ikone der Nazis. Dasvon ihm verfasste Horst-Wessel-Lied („Die Fahne hoch …“) wurde zur NSDAP-Parteihymne. Es ist seit 1945 in Deutschland verboten. Levée en masse (frz. für Massenaushebung) bezeichnet die 1793 im ersten Koalitionskrieg in Frankreich eingeführte Wehrpflicht. Ihr unterlagen alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25. Thomas Mann bezieht sich offenbar darauf, um deutlich zu machen, wie rasch aus Zivilisten Soldaten werden können. Tatsächlich unterlagen dem 1944 von den Nazis gebildeten und völlig unzureichend bewaffneten Volkssturm alle Männer vom Jugendalter bis zu 60 Jahren. Rudolf Heß (bei Mann: Hess), früherer Privatsekretär Hitlers, ab 1933 „Stellvertreter des Führers“ und mit der Nürnberger „Rassegesetze“-Formulierung betraut, flog im Mai 1941 offenbar auf eigene Initiative nach Großbritannien, geriet dort in Haft. Die Alliierten wussten nicht, ob Heß auf Hitlers Wunsch gekommen war, die Nazis erklärten ihn für verrückt. Heß wurde 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt nd beging 1987 Suizid. Iwan Michailowitsch Maiski (bei Mann: Maisky) war von 1932 bis 1943 Botschafter der Sowjetunion in Großbritannien. Nach der Aufdeckung des Massakers von Katyn, bei dem die Sowjets 1940 mehr als 4.000 gefangengenommene polnische Offiziere ermordet hatten, wurde er im März 1943 nach Moskau zurückgerufen und bald darauf als stellvertretender Außenminister auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben. Er starb 1975 in Moskau. (klh)

Thomas Mann konnte wenig ausrichten. Nach dem Krieg äußerte er sich enttäuscht darüber, dass seine immer wiederkehrenden Aufrufe zum Widerstand kaum etwas bewirkt hätten. Doch tatsächlich dürften hunderttausende Deutsche der moralischen Instanz aus dem fernen Amerika am Radio gelauscht haben, mit den vier Paukenschlägen aus Beethovens fünfter Symphonie als Erkennungszeichen und trotz der Androhung von Zuchthausstrafen, bei Weitergabe des Gehörten gar mit dem Tod. Der deutsche Dienst der BBC galt als besonders vertrauenswürdig, weil er auf propagandistische Übertreibungen verzichtete und ein weitgehend realistisches Bild der Kriegslage bot. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels jedenfalls regte sich 1941 maßlos auf über die „blöde Rede“ des „verkommenen und wurmstichigen Literaten“.

1. Februar 2023: Gefallene sowjetische Soldaten werden in der Volgaregion umgebettet Foto: Kirill Braga/reuters

Dabei hatte Mann nach 1933 lange gezögert, wirklich Partei zu ergreifen für die Geknechteten und Unterdrückten, fürchtete um seinen Buchabsatz in der Heimat und ließ sich erst von seinen Kindern überzeugen, dass es für ihn in Deutschland kein Leben mehr geben könnte. „Wo ich bin, ist Deutschland“, mit diesem Satz, gefallen bei seiner Ankunft im amerikanischen Exil 1938, aber hatte er sich wohl übergroße Schuhe übergestreift – als die moralische Stimme Deutschlands außerhalb des NS-Regimes, die sagte, was wirklich ist.

Nun also Stalingrad.

Es ist nicht so, dass diese Niederlage erst im Nachhinein von Historikern zum Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs erklärt wurde, damals, als das deutsch kontrollierte Gebiet seine größten geografischen Ausmaße angenommen hatte und der Massenmord an den Juden in vollem Gang war. Was das bedeutete, war jedem klar, der in der freien Welt eine Zeitung lesen konnte. „Die Zerstörung von dem, was von der 6. deutschen Armee in Stalingrad übrig geblieben war, schreibt das Ende einer Geschichte, die Generationen lang lebendig bleiben wird“, prophezeite die New York Times. „Hunnen-Armee geschlagen“, hieß es im britischen Daily Mirror, „Historischer Sieg“ nannte es die Schlagzeile des Evening Telegraph, während der Guardian schon am 27. Januar 1943 von 40.000 toten und 28.000 gefangen genommenen Deutschen berichtete.

Thomas Mann griff in seiner Rede, deren genauer Sendetermin nicht bekannt ist, auf, wie die Nazi-Führung auf ihre Niederlage reagierte. Er tat dies mit drastischen Worten, die kennzeichnend für seine Radioansprachen waren. Und traf den Nagel auf den Kopf: Weil das Regime das Desaster angesichts seiner Ausmaße nicht verschweigen konnte, funktionierte es die Niederlage um in einen heroischen Kampf gegen das Böse an sich. Und die Opfer waren selbstverständlich nicht umsonst gestorben, sondern hatten Deutschland gerettet.

Tatsächlich meldete das Oberkommando der Wehrmacht am 3. Februar 1943: „Unter der Hakenkreuzfahne, die auf der höchsten Ruine von Stalingrad weithin sichtbar gehisst wurde, vollzog sich der letzte Kampf. Generäle, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften fochten Schulter an Schulter bis zur letzten Patrone. Das Opfer der Armee war nicht umsonst. Sie starben, damit Deutschland lebe.“

Aus Goebbels Tagebüchern geht hervor, dass dieser rasch begriff, dass man die Nachricht von der Niederlage Stalingrads nicht wie bisher unterdrücken konnte. Hitler als Oberbefehlshaber durfte freilich nicht in Verbindung mit Stalingrad gebracht werden, und so übernahm Hermann Göring schon am 30. Januar 1943 den Job, die „Volksgenossen“ über Rundfunk auf die Niederlage vorzubereiten. Er sprach vom „Kampf der Nibelungen“, die ihren Durst mit dem eigenen Blut gelöscht, die aber bis zum Letzten gekämpft hätten. „Ein solcher Kampf tobt heute dort, denn ein Volk, das so kämpfen kann, muss siegen.“ Es folgte ein Ausflug in die griechische Mythologie. Aus den Angreifern in Stalingrad wurden „Verteidiger“, die durch ihren heroischen „Widerstand“ einen Erfolg der „Russen“ verhindert hätten.

Die Schlacht von Stalingrad verzeichnete die meisten gefallenen Soldaten in der Menschheitsgeschichte Foto: imago

Thomas Mann sah das etwas anders. Er rückte die Dinge wieder gerade und entlarvte den „elenden Schwindel“.

Die Niederlage von Stalingrad führte auf geradem Weg zu Goebbels berühmt-berüchtigter Rede vom 18. Februar 1943, in der er den „totalen Krieg“ beschwor. Und von dort nach Kiew, in die Normandie, ins befreite Rom – bis in die Trümmer der Reichskanzlei im Mai 1945 in Berlin mit einem toten und angekokelten Adolf Hitler.

Dass Thomas Mann im Nachhinein nicht immer richtig lag, zeigt bereits der Beginn seiner Ansprache vom Februar 1943. Denn selbstverständlich stellen die Taten der Nazis ihre Worte in den Schatten, und gerade Mann, der schon im Vorjahr über die Massenmorde im Warschauer Ghetto und in Minsk gesprochen hatte, wird das wohl auch gewusst haben. Mindestens ebenso zweifelhaft ist Manns Einschätzung über die Ziele der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, wo er der Versicherung Stalins und seiner Getreuen, man wolle künftig keiner Nation in Europa eine Regierungsform aufzwingen, ungeprüft Glauben schenkt. Es kam bekanntlich etwas anders.

Aber Thomas Manns Radiosendungen nach Deutschland waren eben nicht nobelpreisverdächtig. Sie wurden vom Autor in jeweils ein, zwei Tagen in Los Angeles geschrieben und waren Teil der psychologischen Kriegsführung der Alliierten, die es selbstverständlich nicht zulassen konnten, dass ein Verbündeter kritisiert wurde. Wobei, was Thomas Mann betraf, eine Zensur seiner Reden nicht stattfand.

Möglicherweise haben die Radioansprachen von Thomas Mann dabei geholfen, Zweifel im Nazi­reich zu sähen. Haben sie den Krieg schneller zu einem Ende gebracht? Vielleicht um drei Minuten. Aber schon dafür haben sie sich gelohnt.

Thomas Manns Sendungen kann man nachlesen: „Deutsche Hörer!“ ist als Fischer-Taschenbuch erschienen (15 Euro). Sonja Valentin hat ausführlich seine Ansprachen analysiert in „Steine in Hitlers Fenster“ (Wallstein-Verlag, 29,90 Euro).

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

16 Kommentare

 / 
  • Also ich finde Klaus Hillebrands Einordnung dieses brillianten Zeitdokuments von Thomas Mann etwas zu einseitig. Man darf Manns Einschätzungen einfach nicht im exakten Wortsinn interpretieren, sondern muss eher den weiteren Rahmen sehen, den Mann aufspannt. Und dann ist sind diese BBC-Reden schon deutlich mehr als Kriegspropaganda.



    Beispiel Stalin: Natürlich war 1943 klar, dass Stalin in Osteuropa auch um Einflussspähren kämpfte. Immerhin hatte die Sowjetunion bereits 1940 das Baltikum besetzt, wo Mann immerhin ein Jahrzehnt vorher ein Ferienhaus besaß. Und Mann beschönigt hier weniger, sondern setzt vielmehr ins Verhältnis: Im Gegensatz zum barbarischen Vorgehen Deutschlands, das Völker einfach von der Landkarte radierte, hatte die Sowjet-Diktatur ja tatäschlich von Anfang an die Zielsetzung, die eroberten Nationen als Nationalstaaten wieder aufzubauen, was dann nach dem Krieg ja (Ausnahme: Baltikum) auch passierte. Beispiel Worte oder Taten: Natürlich sind Taten bei Tageslicht betrachtet immer schwerwiegender als Worte. Das ist die naheliegende Betrachtungsweise. Dennoch ist es gerade die sprachliche Verselbständigung des "radikalen Bösen", des "totalen Kriegs", jenem Diskurs also, wo der Holocaust zum selbstvertändlichen Handwerk eines "Meisters aus Deutschland" wird, die den Holocaust auch in Jahrhunderten zu einem Menschheitsverbrechen macht, das in keinerlei Verhältnis zu jedweder anderen menschlichen Grausamkeit steht..

  • Es mag in diesem Kontext nebensächlich sein, aber im Internet ist recht egal, wo es falsch steht, es wird früher oder später jemand genau so falsch übernehmen. Und sei es „nur“ ein selbstlernender Algorithmus.

    „1943 kapitulierte die Wehrmacht in den Trümmern von Stalingrad.“



    Die Wehrmacht kapitulierte zum 8.Mai 1945.



    In Stalingrad kapitulierten über Ende Januar/ Anfang Februar 1943 hinweg die voneinander isolierten Teile der 6. Armee.

    "Die Wehrmacht hatte sich in den Resten des Kaufhauses Univermag in den Ruinen Stalingrads eingegraben."



    Das war eher Oberkammondo/der Stab der 6. Armee. Was auch nicht dekungsgleich mit der 6. Armee als solche ist.

    „Die Lage der Nazi-Armee war hoffnungslos.“



    Hier könnte man die Ungenuigkeit mit „Nazi-Truppen“ umgehen. (Wobei ich „nazideutsche Tuppen“ bevorzugen würde.)

  • Mein Großvater hat Stalingrad überlebt und ist als Sorbe von den Russen danach direkt vom Eingang des Gefangenenlagers in Sibirien wieder nach Hause geschickt worden. An dieser Stelle ein Dank an unsere sowjetischen Brüder für die Befreiung vom deutschen Hitlerfaschismus von meiner Seite. Die Opfer werden nie vergessen.

    • 6G
      652797 (Profil gelöscht)
      @Šarru-kīnu:

      Diesen Dank kann ich nicht nachvollziehen.



      Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin froh in diesem Land wie es jetzt ist zu leben, den Sowjets zu danken verstehe ich aber nicht.



      Viele vergessen das beim Überfall auf Polen die Sowjets mitgeholfen haben, Juden wurden an die Deutschen ausgeliefert und nach Ende des Krieges wurde Osteuropa von den Sowjets unterjocht.



      Deshalb weigere ich mich einem Terrorregime zu danken ein anderes ersetzt zu haben.

    • 3G
      31841 (Profil gelöscht)
      @Šarru-kīnu:

      Mein Onkel ist mit den letzten Transporten von Verwundeten aus Stalingrad ausgeflogen worden. Bei Familienfeiern hatten wir Kinder im großen Kreis oft Gelegenheit seinen Erzählungen mit zu lauschen. Ich hatte nur einen Gedanken zum Krieg: Wie können Menschen so sein? Und wie kann man damit leben?

  • Danke für diesen Artikel. Echt gut!

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    „Unser erstes Ziel ist, die russische Erde und ihre Bewohner vom deutschen Nazi-Joch zu befreien. Kriegsziele wie das, unseren Willen und unsere Regierungsform den slavischen oder anderen unterjochten Völkern Europas aufzuzwingen, haben wir nicht und können sie nicht haben.“



    „Die Sowjet-Union verteidigt das Recht jeder Nation auf Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit ihres Gebietes … und auch ihr Recht, die soziale Ordnung zu errichten und die Regierungsform zu wählen, die sie für ratsam und notwendig hält.“

    • @31841 (Profil gelöscht):

      Exakt auf dieser Textpassage aus Stalins Rede kaue ich auch gerade herum. Und auch Putin bezog sich schon vor seinem versuchten Einmarsch in die Ukraine auf Stalin. Wäre es von der taz zuviel verlangt, diese Passage einordnend kurz mal zu kommentieren..??

      • @Martin L.:

        Hat sie doch:



        "...Mindestens ebenso zweifelhaft ist Manns Einschätzung über die Ziele der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, wo er der Versicherung Stalins und seiner Getreuen, man wolle künftig keiner Nation in Europa eine Regierungsform aufzwingen, ungeprüft Glauben schenkt. Es kam bekanntlich etwas anders."

        • @Nansen:

          Was Thomas Mann nicht davon abhielt - 1949 in der SBZ - “In Weimar traf er Johannes R. Becher, den Präsidenten des Kulturbundes und späteren Kultusminister der DDR, sowie Oberst Tjulpanow, Leiter der Informationsabteilung der SMAD, und es wurde ihm der ostdeutsche Goethe-Nationalpreis verliehen.“



          Was ihm Jorge Semprun - Überlebender Buchenwald - in seinem klugen Essay “Das Böse ist in der Welt“ minutiös & für mich zutreffend vorhielt.

          unterm—-



          de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Mann



          &



          de.wikipedia.org/w...Jorge_Sempr%C3%BAn



          ( zitieren leider nein: Der Artikel is leider in die Grabbel gekommen.)



          & btw



          taz.de/Postkarten-...mas-Mann/!5078758/ als nicknames noch free waren!;) zu meinem - ok zeitlich leicht versetzt - Mitschüler im Katzenmuseum



          & womer an den Unterschieden =>



          www.freitag.de/aut...nde-des-schweigens



          “"Für mich ist die Heimat des Schriftstellers nicht die Sprache, sondern der Sprachstil", lässt Semprún den jungen Intellektuellen Lorenzo Avendaño sagen. Die Rolle, die Semprún nicht der Sprache, wie Thomas Mann, sondern dem Sprachvermögen zuschreibt, steht direkt in Verbindung zu Schreiben und Leben Semprúns. In Zwanzig Jahre und ein Tag haben wir es wie in allen Romanen Jorge Semprúns mit einem Erzählertypus zu tun, der ein "l´homme-mémoire", ein Mensch-Gedächtnis ist: eine abgewandelte Form der Erzählerfigur des "l´homme récits" (Mensch-Erzähler), wie ihn die strukturalistische Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren einführte. Die Gleichung lautete: Diskurs ist Leben. Ende des Diskurses bedeutet Schweigen und Tod. Der "Mensch-Erzähler" wurde zum Topos in der Literaturwissenschaft und in verschiedenen Formen von Maurice Blanchot bis zu John Barth durchgespielt. Was ist die wichtigste Lektion dieses "Mensch-Gedächtnisses"? Es ist die Unmöglichkeit zwischen individuellem und sozialem Gedächtnis zu unterscheiden.… (bei) Maurice Halbwachs, seinem ehemaligen Professor an der Sorbonne gehört.

          • @Lowandorder:

            ps. Wo befindet sich der Semprun Essay zu finden?

            • @non payclick:

              Da kann ich leider nicht weiterhelfen.



              Zeitungsartikel von welcher Zeitung? (Zeit? FR?) - lange gehütet & irgendwann weg. Sorry.

          • @Lowandorder:

            Blanchot wird sehr schön von Chantal Akerman in "I don't belong anywhere" benannt als Quelle dafür, dass die Vorstellung von Heimat als "Boden" nicht ohne das "Opfer" sprich Blut auskommt. Das Buch hingegen sei der Ort...usw.

            Adorno in seinem "Was ist deutsch?" behandelt das Thema Sprache dort seltsam ungelenk und unreflektiert (wenn man sich so eine Bemerkung erlauben darf) und errichtet dort eine Konzeption von Sprache/Heimat, die letztendlich auch der Tatsache geschuldet scheint, dass seine Fremdsprachenkenntnis und Kommunikation eher im Schriftlichen gelang als im Gesprochenen (sein Englisch klingt zumindest furchtbar).



            Thomas Harlan dagegen rechnete viel klarer mit dem Deutschen ab (Hitler war meine Mitgift) und flüchtete sich als junger Mensch ganz ins Französische.



            Was er dann (und das Wort "Stil" reicht dann nicht mehr aus) in seinem Werk aus der deutschen Sprache macht, ist schöner Wahnsinn.