8. und 9. Mai-Gedenken in Russland: Die gestohlene Erinnerung
Putin nutzt den lang als stillen Gedenktag gefeierten 9. Mai für Sowjet-Propaganda, Stalin-Verklärung und Militarismus-Shows

ber Jahrzehnte hinweg blieb der 9. Mai im sowjetischen Alltag der einzige Gedenktag, dem die Menschen eine tiefe persönliche Bedeutung beimaßen. In meiner Umgebung sprach niemand von einem „Feiertag“. Es war ein stiller Tag des Erinnerns und der Trauer. Zumal Stalin den 9. Mai zu einem Arbeitstag erklärt hatte – erst unter Breschnew wurde er 1965 zum offiziellen Feiertag erhoben.
Mein Vater und seine Freunde – wie er Frontkämpfer – trafen sich an diesem Tag nicht, um Siege zu feiern, sondern um derer zu gedenken, die gefallen waren. Das Erlebte lastete schwer auf ihnen. Schon als Kind verstand ich: Ihr Krieg war nicht von Triumph geprägt, sondern von blutiger, schmerzhafter Erfahrung. Sie hatten nichts gemein mit den bronzenen Soldaten, die Nazi-Standarten zu Füßen des Mausoleums warfen, auf dessen Tribüne Stalin thronte.
Mein Vater trug seine Orden nie. Er sagte: „Zu viele sind gefallen, bevor sie überhaupt einen Orden erhalten konnten.“ Er selbst hatte überlebt – eine schwere Verwundung im August 1943 rettete ihm das Leben, machte ihn aber bereits mit 19 Jahren zum Kriegsinvaliden. Wie viele seiner Freunde – auch sie Literaten – widmete er sein weiteres Leben dem Kampf um die Wahrheit über den Krieg: eine Wahrheit aus den Schützengräben, fernab vom offiziellen sowjetischen Geschichtsbild.
Dieses blendete all die dunklen Kapitel aus: die Säuberungen in der Roten Armee, bei denen die fähigsten Kommandeure vernichtet wurden; den zynischen Hitler-Stalin-Pakt, der den Feind an die sowjetischen Grenzen brachte; die katastrophalen Niederlagen der Roten Armee, in deren Folge Millionen sowjetischer Soldaten in deutsche Gefangenschaft gerieten. Erst mit der Perestroika begann eine zaghafte Befreiung vom verordneten Gedächtnis. Die Zahl der sowjetischen Kriegstoten wurde auf 28 Millionen korrigiert – viermal so hoch wie bislang offiziell zugegeben.
Das Schweigen über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung auf sowjetischem Boden wurde gebrochen; andere Opfergruppen rückten ins Bewusstsein: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, die nach ihrer Rückkehr in die Heimat stigmatisiert wurden. Endlich kamen lange verdrängte Wahrheiten ans Licht: über Gewaltverbrechen, Plünderungen und Übergriffe der Roten Armee in Osteuropa und besonders in Deutschland, über Repressionen in der sowjetischen Besatzungszone, über NKWD -Speziallager.
Mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums, der Entstehung unabhängiger Staaten und der Demokratisierung Osteuropas wurde ausgesprochen, was lange nicht gesagt werden durfte: Die sowjetische Armee hatte Osteuropa vom Nationalsozialismus befreit – doch keine Freiheit gebracht. Jahrzehntelang blieben die befreiten Länder in neuen Fesseln – denen einer anderen Diktatur.
Es schien, als würde mit dem Ende des Kalten Krieges der Große Vaterländische Krieg endlich als Teil des gesamten Zweiten Weltkriegs verstanden werden – als würden der 8. und der 9. Mai symbolisch miteinander verschmelzen.
Doch mit Putins Machtantritt setzte eine neue Wende ein. Patriotismus wurde verzerrt, Nationalstolz zum Dogma erhoben, der Sieg über Nazi-Deutschland zur heiligen Quelle der neuen Staatsideologie. Leere Rituale und sowjetische Propaganda-Symbole wurden wiederbelebt, Stalin als großer Sieger verklärt, der 9. Mai zur Manifestation eines neuen Militarismus.
Mit der Annexion der Krim, der Aggression im Donbass und schließlich dem Krieg gegen die Ukraine wurde das wahre tragische Gedächtnis an den Zweiten Weltkrieg in Russland nicht nur untergraben – es wurde entstellt. Kriegslieder und Gedichte, einst Ausdruck von Schmerz und Erinnerung, werden heute auf Kundgebungen zur Rechtfertigung eines aggressiven Krieges gegen die Ukraine missbraucht. Das Verbrechen, das sich heute abspielt, soll unter einem neuen ideologischen Konstrukt verborgen werden: einer falschen Rekonstruktion der Geschichte im Dienst einer endlosen Kriegsvorbereitung.
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