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8. März in der Türkei18 Frauen, die man kennen sollte

Diese Frauen haben die Politik, Kultur und Gesellschaft der Türkei nachhaltig geprägt. Ein feministischer Kanon, zusammengestellt von taz.gazete.

Duygu Asena, Semiha Berksoy, Zabel Yesayan, Pınar Selek, Bülent Ersoy, Gültan Kışanak, Demet Demir, Nevin Yıldırım Illustration: Zeynep Özatalay

Die Geschichte der Türkei ist voll von Frauen, die Politik, Kultur und Gesellschaft des Landes nachhaltig geprägt haben. Wie überall in patriarchalen Strukturen werden sie aber oft nicht gesehen oder vergessen. Anlässlich des Frauenkampftags am 8. März stellt taz.gazete 18 Frauen vor, die jedeR kennen sollte. Eine Auswahl.

Zabel Yesayan (1878 -1943)

Die Istanbuler Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin veröffentlichte ihren ersten Artikel 1895 in der armenischen Zeitschrift Dzağig (Blume). Damals fanden die ersten Massaker an osmanischen Armenier*innen statt, weshalb sie im gleichen Jahr nach Paris ging und an der Universität Sorbonne und am Collège de France Literatur und Philosophie studierte. Zabel Yesayan war die erste armenische Frau im Osmanischen Reich, die studierte.

Illustration: Zeynep Özatalay

Am 24. April 1915, dem Tag, als die armenischen Intellektuellen abgeholt und in den Tod geschickt wurden, kam sie davon, weil sie sich in einem Krankenhaus versteckte. Sie ging zunächst nach Bulgarien, dann nach Baku, dort schloss sie sich den Hilfsaktionen für armenische Geflüchtete und Waisen an. 1921 ging sie erneut nach Paris. Auf Einladung der armenischen Regierung siedelte sie 1933 nach Jerewan über. An der staatlichen Universität Jerewan lehrte sie Literatur. 1937 wurde sie im Zuge der stalinistischen „Säuberungen“ verhaftet und nach Sibirien deportiert. Wann und wo genau sie starb, ist nicht bekannt. Ihre Romane und weiteren Bücher erscheinen auf Türkisch im Aras-Verlag.

Behice Boran (1910 -1987)

Illustration: Pınar Ergün

Jeder, der sich mit der Geschichte der linken Bewegung vor 1980 beschäftigt, stellt fest, dass die Bewegung in nahezu allen Facetten von Männern geprägt war. Allein Behice Boran sticht als unübersehbare starke Frauenfigur hervor. Die Politikerin, Soziologin und Autorin arbeitete viele Jahre als Lehrerin in Anatolien. Sie richtete ihr ganzes Leben nach ihren politischen Ansichten aus. Anfang der 1940er Jahre trat sie in die damals verbotene Kommunistische Partei der Türkei (TKP) ein. Sie verlor ihre Stelle als außerordentliche Professorin an der Ankara Universität und musste 1950 wegen der Anschuldigung, sie hätte gegen den Koreakrieg protestiert, ins Gefängnis.

Als Abgeordnete der Türkischen Arbeiterpartei (TiP) brachte sie zwischen 1965 und 1969 die Stimme des Sozialismus erstmals im Parlament zu Gehör. Auch später, als sie die Türkei im Europaparlament vertrat, bei ihren wiederholten Gefängnisaufenthalten und als politische Geflüchtete nach dem Militärputsch 1980 im bulgarischen, deutschen und belgischen Exil – nie rückte sie von einem revolutionären Leben ab. Boran starb im Exil in Brüssel. Sie war eine Frau, die die frühe Phase der linken Bewegung in der Türkei richtungweisend mitbestimmt hat.

Bülent Ersoy (geboren 1952)

Illustration: Zeynep Özatalay

Bülent Ersoy ist die erste trans Frau, die es in die türkische Öffentlichkeit geschafft hat. Ihre Karriere begann Ersoy, die heute eine der beliebtesten Sänger*innen der Türkei ist, in den Siebzigern. 1971 erschien ihre erste Platte, und Ersoy begann live aufzutreten, etwa im legendären Maksim Gazinosu am Taksim-Platz. Bei einem Auftritt in Izmir im Sommer 1980, der sich quasi als Ersoys landesweites Coming-out lesen lässt, entblößte sie ihre neuen Silikonbrüste. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen sie wegen „unmoralischen Verhaltens“. Anschließend beschimpfte Ersoy den Richter und wurde festgenommen. 19 Tage verbrachte sie in Haft.

Mit dem Militärputsch im Herbst 1980 wurde Transsexualität in der Türkei verboten und Ersoy, die von ihren Fans liebevoll “Diva“ genannt wird, durfte per Gesetz nicht mehr auftreten. 1981 ging sie nach London und unterzog sich dort geschlechtsangleichenden Operationen. Später zog sie nach Deutschland, wo sie acht Jahre im Exil lebte. In dieser Zeit gab Ersoy überall auf der Welt Konzerte. 1988 kehrte sie in die Türkei zurück und trug dazu bei, dass ein Gesetz verabschiedet wurde, das Geschlechtsangleichungen zulässt. Das Gesetz ist auch als “Bülent Ersoy-Gesetz“ bekannt.

Mit ihrer unvergleichlichen Stimmgewalt, ihren glamourösen Kostümen, ihren stets jüngeren Ehemännern, ihren öffentlichen Streitereien und ihren kontroversen Aussagen gehört Bülent Ersoy seit den 80er Jahren zu den meistdiskutierten Celebrities in den türkischen Medien.

Gülriz Sururi (1929 – 2018)

Illustration: Pınar Ergün

Die Theaterikone Gülriz Sururi stand mit 13 Jahren zum ersten Mal auf der Bühne. Ihre Leidenschaft für's Theater begleitete sie ihr Leben lang. Geboren als Tochter einer Primadonna, studierte sie am Konservatorium Gesang und Schauspiel. Sururi war ihrer Zeit voraus; in ihren Memoiren schreibt sie offen über Abtreibungen, Affären und ihre unglückliche Kindheit. „Zuerst musst du dich selbst lieben und dann andere“, war ihre Devise. In einem Interview sagte sie, sie wolle das Leben wie eine Zitrone auspressen. Überhaupt habe sie immer nur das getan, was sie wollte. Sie führt das darauf zurück, dass sie ihre Kindheit nicht leben konnte: Ihre Mutter starb, als Sururi zwei Jahre alt war.

1962 gründete sie mit ihrem Mann das Gülriz Sururi–Engin Cezzar-Theater, wo sie Hauptrollen in den Theaterstücken spielte und Regie führte. 1966 wurde sie vom Türkischen Frauenverband als „Frau des Jahres“ ausgezeichnet. Sururi und ihr Mann hatten Kontakt zu vielen wichtigen Intellektuellen und Künstler*innen ihrer Zeit und waren eng mit dem amerikanischen Schriftsteller James Baldwin befreundet, der in den Sechzigern zehn Jahre lang in Istanbul lebte. Verbiegen ließ sich die Schauspielerin nie: In den achtziger Jahren unterschrieb sie einen offenen Brief, in dem Intellektuelle das Militärregime anprangerten, sie sprach sich gegen den Krieg in Afrin aus und postete bis kurz vor ihrem Tod mit 90 Jahren jedes Jahr ein Foto im Bikini in den sozialen Medien.

Pınar Selek (geboren 1971)

Illustration: Zeynep Özatalay

Pınar Seleks Geschichte erinnert an einen Roman von Franz Kafka. Der Protagonist wird angeklagt, ist sich aber keiner Schuld bewusst. Die Istanbuler Soziologin und Schriftstellerin Selek kennt den Roman. Einmal sagte sie der taz: „Ich fühle mich in Kafkas ‚Prozess‘ versetzt“. 1998 wurden bei einer Explosion auf dem ägyptischen Markt in Istanbul sieben Personen getötet. Selek, damals 26 Jahre alt, wurde zwei Tage später verhaftet. Sie wurde beschuldigt, den Anschlag für die PKK verübt zu haben. Zweieinhalb Jahre verbrachte sie im Gefängnis, wurde dann entlassen. Sie berichtete von Folter.

Ein Expertengutachten zeigte später, dass es wegen einer beschädigten Gasleitung zur Explosion gekommen war.Dennoch: Vier Mal wurde Selek freigesprochen, vier Mal wurde das Urteil von einem höheren Gericht kassiert. Heute liegt der Fall beim Obersten Gerichtshof. Selek lebt seit 2009 im Exil.

Selek veröffentlichte Arbeiten über die Probleme von Homosexuellen, die Lebensbedingungen von Straßenkindern und Gewalt gegen trans Personen. In „Barışamadık“ („Wir konnten keinen Frieden machen“) beschäftigt sie sich mit patriarchaler, militärischer und gesellschaftlicher Gewalt in der Türkei. Für „Sürüne Sürüne Erkek Olmak“ („Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten“) interviewte sie über 50 Männer zu ihren Erfahrungen im obligatorischen Militärdienst. Das Ergebnis: eine Analyse des „Mannwerdens“ in der Türkei und die wichtige Rolle, die ein starker, militaristischer Staat dabei spielt.

Konca Kuriş (1961-1998)

Illustration: Pınar Ergün

Steht das Wort Kopftuch tatsächlich im Koran? Warum sollen Männer und Frauen getrennt beten? Ist es nicht höchste Zeit, den Islam zeitgemäß zu gestalten? Diese Fragen beschäftigten Konca Kuriş ihr kurzes, nur 38 Jahre währendes Leben lang. Denn es waren stets Männer gewesen, die die islamischen Schriften übersetzt und ausgelegt hatten. Damit die Männer ihre Vorherrschaft fortsetzen konnten, durfte die Frau nicht frei werden.

Kuriş stammte aus einer demokratischen Familie, mit 15 heiratete sie ohne Zustimmung ihrer Familie und wechselte mit der Ehe in konservative Kreise. Ihre Erfahrungen in einer Sekte brachten sie dazu, die vorherrschenden Strukturen zu hinterfragen. Kuriş fand ihre eigene Wahrheit: Es braucht keine Vermittlung, um zu Gott zu kommen. In den Neunzigern, als religiöse Orden in der Türkei erstarkten, stritt sie als Feministin mit Kopftuch über den Islam. Sie schrieb Artikel und trat im Fernsehen auf. Es war die Zeit, als fromme Frauen begannen, Männern die Hand zu geben und in der Gesellschaft sichtbar aktiv zu werden.

Den Sekten gefiel es gar nicht, dass von Kuriş geprägte Frauen anfingen, sich zu Hause zu organisieren. Sie erhielt zahlreiche Drohungen. 1998 wurde sie von Fanatikern entführt und brutal ermordet. Mit ihren Ideen und Idealen inspiriert sie bis heute konservative Frauen, in der sich zunehmend islamisierenden Türkei Erdoğans für ihre Rechte einzustehen.

Nuriye Ulviye Mevlan Civelek (1893 – 1964)

Illustration: Pınar Ergün

Die tscherkessische Frauenrechtlerin gründete 1913 im Alter von 20 Jahren eine der ersten feministischen Frauenzeitschriften im Osmanischen Reich. Bei Kadınlar Dünyası arbeiteten nur weibliche Angestellte und hauptsächlich Journalistinnen. „Ich habe viel darüber nachgedacht, wie wir unser unterwürfiges und nutzloses Leben ändern können. Ich wusste, dass wir eine moderne Persönlichkeit entwickeln müssen, um in der Gesellschaft weiterzukommen. In dieser Zeit des Aufbruchs (…) habe ich beschlossen, ein Magazin zu publizieren, das Frauen ermutigt, die notwendigen Schritte zu gehen, um voranzukommen“, schreibt Civelek 1913 in Kadınlar Dünyası.

Einen Monat nach der Zeitschrift gründete sie die Osmanische Gesellschaft zur Verteidigung der Frauenrechte, die erste Frauenrechtsorganisation des Landes. Deren Ziel war es, die Bildungschancen für Frauen und ihren Zugang zu Berufen zu verbessern. Civelek setzte sich außerdem für gleiche Löhne und gleiche Rechte in der Ehe ein. Sie war dreimal verheiratet. Von ihrem zweiten Mann ließ sie sich 1927 scheiden – eine schwierige Entscheidung in einer Zeit, in der Frauen unter dem großen Druck gesellschaftlicher Konventionen standen. Nach ihrem Tod wurde die städtische Bibliothek in ihrem letzten Wohnort Kırıkhan nach der Frauenrechtlerin benannt.

Hasbiye Günaçtı (geboren 1959)

Illustration: Pınar Ergün

Die Krankenschwester Hasbiye Günaçtı war früh bei der LGBTI-Organisation Lambda Istanbul aktiv, ab 2008 wechselte sie in die feministische Bewegung und wurde Mitglied im Sozialistisch-Feministischen Kollektiv. Sie setzt sich für die Rechte von Lesben und bisexuellen Frauen ein. Ihre Antwort auf die homosexuellen Frauen häufig gestellte Frage „Welcher Mann hat dich schlecht behandelt, dass du so geworden bist?“ lautet: „Wäre das der Grund, müssten alle Frauen lesbisch sein!“ Ihr Markenzeichen ist Lila, die Farbe des Feminismus; sie trägt sie stets als Accessoire oder als Haarfarbe.

Bekannt wurde Günaçtı in der Türkei, als sie eine auf offener Straße misshandelte Frau mit ihrem Kleinkind in ihren Wagen holte und den gewalttätigen Mann vom Tatort entfernte. Während sie der bedrängten Frau half, fragte der Mann sie: „Wer bist du denn?“ Ihre Antwort darauf blieb im kollektiven Gedächtnis haften: „Ich bin die Schwester dieser Frau.“ Hasbiye Günaçtı gibt in diversen feministischen und LGBTI-Vereinen Workshops zum Thema weibliche Sexualität.

Sevgi Soysal (1936 – 1976)

Illustration: Pınar Ergün

Die Schriftstellerin Sevgi Soysal studierte Archäologie und Theaterwissenschaften in Ankara und Göttingen. Soysal arbeitete im Kulturzentrum der deutschen Botschaft, bei Ankara Radio, beim türkischen Staatsfernsehen TRT und schrieb für verschiedene Zeitungen. In den Sechzigern und Siebzigern veröffentlichte sie mehrere Romane, in denen sie politische Umbrüche sowie gesellschaftliche Normen und Milieus der Zeit mit schwarzem Humor beobachtet und hinterfragt.

„Wir müssen neue Türen öffnen, falsche Türen, richtige Türen, aber wir müssen sie öffnen, Hauptsache öffnen“, schreibt sie in ihrem 1970 erschienen Roman „Yürümek“ („Gehen“). Ihr 1968 erschienener Roman „Tante Rosa“ gilt als feministischer Klassiker; das Buch handelt von einer bayerischen Katholikin, die sich von den paternalistischen Strukturen emanzipiert. Die Figur Tante Rosa ist inspiriert von Soysals Tante Rosel, der Schwester ihrer deutschen Mutter.

In den Siebzigern erlebte Soysal politische und persönliche Rückschläge. Nach dem Militärputsch 1971 wurde sie wegen Mitgliedschaft in einer linken Organisation mehrere Monate inhaftiert und verlor ihre Stelle beim TRT. Ihr Roman „Yürümek“, der Geschlechterbeziehungen und Ehe verhandelt, wurde wegen Obszönität zensiert. Sie kam ein zweites Mal aus politischen Gründen für acht Monate in Haft und bekam Brustkrebs. Für ihren Roman „Yenişehir'de Bir Öğle Vakti“ („Mittagszeit in Yenişehir“) wurde sie 1974 mit dem renommierten Orhan-Kemal-Preis ausgezeichnet. Soysal starb 1976 mit nur 40 Jahren, bevor sie ihren letzten Roman „Hoşgeldin Ölüm“ („Willkommen Tod“) fertigstellen konnte.

Nezihe Muhiddin (1889-1958)

Illustration: Pınar Ergün

Die Pionierin des osmanischen Feminismus gilt als eine der Begründerinnen der türkischen Frauenbewegung. Muhiddin war Generalsekretärin des osmanischen Verbandes für den Schutz der Frauen. Auch beim Übergang zur Republik engagierte sie sich weiter für Frauenrechte und gründete die Partei für Frauenrechte mit, der damals wichtigsten feministischen Initiative. Am 15. Juni 1923 veröffentlichte die Partei, der ausschließlich Frauen angehörten, ein Gründungsprogramm mit 27 Punkten.

Die Partei wurde jedoch nicht zugelassen, weil sie als zu radikal galt. Die Zeitungen machten sich damals über Muhiddins Engagement lustig: „Evas Töchter wollen ins Parlament, um über die aktuelle Mantelmode zu debattieren.“ Muhiddin und ihre Mitstreiterinnen änderten einige Absätze ihrer Satzung und gründeten 1924 die Türkische Frauenunion (TKB).

Sowohl die Person Nezihe Muhiddin als auch die Rolle, die sie bei der Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts 1934 gespielt hatte, gerieten in der politischen Geschichte der Türkei zusehends in Vergessenheit. Am 10. Februar 1958 starb sie allein in einer psychiatrischen Klinik in Istanbul.

Gültan Kışanak (geboren 1961)

Illustration: Zeynep Özatalay

Die Politikerin Gültan Kışanak musste bereits als Studentin wegen ihrer politischen Meinung ins Gefängnis. Es war die Zeit des Militärputsches von 1980. Die damals im Gefängnis von Diyarbakır verbreiteten Foltermethoden veranlassten manche, sich anschließend der kurdischen PKK-Guerilla anzuschließen, sie dagegen entschied sich für den Journalismus. Dann ging sie in die Politik und wurde ins Parlament gewählt.

Als Kurdin engagierte sie sich für Demokratie in der Türkei, als Frau nahm sie vor allem die männerdominierte Gesinnung innerhalb der kurdischen Bewegung aufs Korn. Dass sie aufgrund ihrer politischen Position privilegiert war, war ihr stets bewusst. Sie sah, dass sich die Männer, die sie „auf Händen trugen“, den eigenen Ehefrauen und Schwiegertöchtern gegenüber ganz anders verhielten: „Wo man das als Frau nicht erkennt, fängt Elitendenken in der Politik an. Der nächste Schritt ist dann, eine Politikerin 'wie ein Mann’ zu werden.“

2014 kandidierte Kışanak für das Bürgermeisteramt in Diyarbakır und wurde gewählt. „Dass eine Frau, die den Knast von Diyarbakır hinter sich hat, 34 Jahre später hier zur Ko-Bürgermeisterin gewählt wird, ist eine historische Revanche“, sagte sie nach der Wahl. Leider kam es bald darauf zur Revanche der Revanche: Als die Friedensgespräche endeten und der Druck auf die HDP zunahm, wurde für Diyarbakır ein Zwangsverwalter eingesetzt. Und Kışanak wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt. In der Anklageschrift wurde ihr unter anderem eine Presseerklärung zum Tag gegen die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen zur Last gelegt.

Seit Oktober 2016 sitzt Kışanak im Gefängnis von Kocaeli, dort schrieb sie ein Buch, mit dem sie ihrem und dem Engagement anderer Politikerinnen eine Stimme verleiht: „Das männlich dominierte System will uns für den Kampf bezahlen lassen, den wir für eine demokratische, freiheitliche Zukunft führen, in der auch Frauen gleichberechtigt leben.“

Duygu Asena (1946-2006)

Illustration: Zeynep Özatalay

Eine Woche nach dem Erdbeben in Adana am 27. Juni 1998, bei dem 145 Menschen ums Leben kamen und über 1.500 verletzt wurden, legte Duygu Asena in der Istanbuler Redaktion der monatlich erscheinenden Frauenzeitschrift KIM die Hände auf den Schreibtisch und hielt inne. Sie war gerade aus Adana zurückgekommen. „Die Männer sitzen in Kaffeehäusern und Kneipen, die Frauen dagegen kümmern sich um die Hausarbeit und Kindererziehung. Das ist der Grund dafür, dass bei dem Erdbeben vor allem Frauen umkamen“, sagte sie.

Asena gehörte zu den Frauen, die in der Türkei mit Tabus aufräumten. Sie war eine feministische Aktivistin und das prägte ihre Identität als Journalistin und Autorin. In ihren Büchern appellierte sie an die Frauen: „Ihr seid zu allererst Individuen, euer Körper gehört euch“ Sie war eine jener Frauen, die die Frauenbewegung in der Türkei inspiriert haben. In ihrem Buch „Die Frau hat keinen Namen“ analysierte sie die sozialen Verhältnisse und Beziehungen zu Vätern, Freunden, Ehemännern und männlichen Chefs und zeigte daran die Schwierigkeiten auf, mit denen Frauen von Kindheit an zu kämpfen haben. 1988 wurde das Buch wegen angeblich pornografischer Elemente gerichtlich verboten. Es erschien in 40 Auflagen. Das war ein Rekord.

Cumartesi Anneleri

Illustration: Pınar Ergün

Seit 1995 treffen sich Angehörige von verschwundenen Menschen jeden Samstag auf dem zentralen Galatasaray-Platz in Istanbul, um für Aufklärung und Gerechtigkeit zu protestieren. 1999 setzten sie die Treffen wegen zunehmender Polizeigewalt aus, seit 2009 machen sie weiter. Als sich die „Cumartesi Anneleri“, die „Samstagsmütter“, im August 2018 zum 700. Mal versammeln wollten, erließ das türkische Innenministerium ein Versammlungsverbot. Die Angehörigen kamen trotzdem zum Platz und wurden von der Polizei mit Tränengas und Plastikgeschossen angegriffen. 47 Angehörige wurden festgenommen. Seit diesem Vorfall treffen sie sich nicht mehr am Galatasaray-Platz, sondern vor dem Istanbuler Büro des Menschenrechtsvereins IHD.

Die 82-jährige Emine Ocak ist die Mutter des 1995 in Polizeigewahrsam verschwundenen Hasan Ocak, dessen Leichnam nach schwerer Folter aufgefunden worden war. Emine Ocak war 1997 schon einmal festgenommen worden, elf Jahre später wurde sie wieder in einen Polizeiwagen gezerrt. 1997 fotografierte der Journalist und heutige HDP-Abgeordnete Ahmet Şık sie bei der Festnahme. Das Foto wurde zum Symbol der Samstagsmütter.

Aysel Gürel (1929-2008)

Illustration: Pınar Ergün

Rosa Haare, rosa Brille, roter Lippenstift – Aysel Gürel machte keine Kompromisse, was ihre Identität und ihren Blick aufs Leben anging. Sie war Lehrerin für Literatur, Theaterschauspielerin, Lyrikerin und Songwriterin. Ihre Songtexte wurden von berühmten Sänger*innen interpretiert. Manche Texte schlugen auch einen kritischen Ton an. In ihrem Lied Ünzile geht es etwa um die Zwangsverheiratung eines Kindes. In Gürels Nachlass fanden sich über 20.000 Songtexte.

„Die bunte Persönlichkeit war ihr Lebenskostüm“, sagte ihre Tochter, die bekannte Schauspielerin Müjde Ar, über Gürel: „Meine Mutter war überall für ihr rosa Haar bekannt. Ich fragte sie danach: 'Was soll dieses Kostüm, diese Perücke, dieses Herumlaufen im Négligé?’ Sie antwortete: 'Das ist das Kostüm, mit dem ich die Gesellschaft dazu bringe, auf mich zu hören. Würde ich, was ich zu sagen habe, im üblichen Damenkostüm mit Dutt und Intellektuellenbrille sagen, hätte die Menge mich aufgerieben. So aber habe ich meinen Worten in der Gesellschaft Gehör verschafft.“

Nevin Yıldırım (geboren 1986)

Illustration: Zeynep Özatalay

Die damals 26-jährige Nevin Yıldırım kam in die Schlagzeilen, als sie 2012 den 35-jährigen Nurettin Gider erschoss, der sie wiederholt vergewaltigt und mit der Waffe bedroht hatte. Obwohl alle aus Yıldırıms Dorf Koruyaka in der Provinz Isparta von den Vergewaltigungen gewusst hatten, war niemand eingeschritten. Yıldırım wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Dass im Verfahren gegen sie weder Notwehr noch gute Führung – die bei männlichen Sexualstraftätern häufig Grund für geringe Haftstrafen ist – berücksichtigt wurden, erzeugte in der türkischen Öffentlichkeit empörte Reaktionen.

Infolge der Vergewaltigung wurde Nevin Yıldırım schwanger. Sie forderte, abtreiben zu dürfen. Doch die gesetzliche Frist war abgelaufen und die Abtreibung wurde ihr verwehrt. 2015 malten feministische Künstlerinnen ihr Porträt auf weiße Laken und hängten sie in Istanbuler Straßen auf. Yıldırıms Porträt mit dem Slogan „Nevin schaut euch an, das bleibt auch nach der Wäsche dran“ wurde bei feministischen Protesten zum Symbol der Frauen, die sich gegen Männergewalt wehren.

Semiha Berksoy (1910-2004)

Illustration: Pınar Ergün

„Es gibt etwas, das meine Seele mitzieht und bei mir zur Flamme wird, das ist die Liebe zur Kunst. Das sollt ihr wissen, und wenn ich sterbe, singen die Zypressen an meinem Grab davon.“ So lautete die Antwort der 18-jährigen Semiha Berksoy auf den Brief, in dem ihr Vater versuchte, sie dazu zu bewegen, ihre Ausbildung am Konservatorium abzubrechen. Berksoy war Opernsängerin, Theaterschauspielerin, Malerin, Schriftstellerin. 1934 spielte sie als Sopranistin in der ersten türkischen Oper „Özsoy“ mit.

Mit einem staatlichen Stipendium kam sie an die Opernabteilung der Staatlichen Musikakademie in Berlin und schloss als Beste ab. Berksoy war die erste türkische Primadonna, die auf einer europäischen Bühne auftrat. Sie genoss enormen Ruhm in Berlin, dachte aber nie daran, dauerhaft in Europa zu bleiben. Ihre Tochter Zeliha Berksoy erklärte das so: „Ihr Engagement galt der türkischen Republik. Sie wollte ihrem Land von Nutzen sein. Sie war eine Frau, die sich dem Gebot des Volkes unterstellt hatte.“

Ab 1961 widmete Berksoy sich verstärkt der Malerei, ihre Gemälde wurden in der Türkei und der ganzen Welt ausgestellt. Damals wurde ihr auch der Titel einer „Staatskünstlerin“ verliehen. Nach Aussage ihrer Tochter starb sie 2014 mit den Worten: „Lebe wohl schöne Welt, hallo Universum.“

Demet Demir (geboren 1961)

Illustration: Zeynep Özatalay

Demet Demir ist eine trans Aktivistin, die seit den 80er Jahren für die Rechte von trans Personen eintritt, und eine Vorreiterin der LGBTI-Bewegung in der Türkei. 1982 wurde sie aus politischen Gründen verhaftet und saß acht Monate im Gefängnis. Amnesty International Türkei bezeichnet Demir als erste Person in der türkischen Geschichte, die wegen ihrer Geschlechtsidentität und ihrer Einstellungen inhaftiert wurde. 1985 und 1986 wurden trans Frauen und homosexuelle Männer von Polizisten und Soldaten gefoltert und vergewaltigt, in Züge gesteckt und nach Eskişehir ins Exil geschickt. Demet Demir war eine von ihnen.

Sie war außerdem aktiv an der Verbreitung von Lubunca beteiligt, einem trans Slang, der aus der Notwendigkeit entstand, die Gespräche rund um die Sexarbeit tarnen zu müssen. Zusammen mit Freund*innen verfasste Demet ein Lubunca-Wörterbuch, das mehr als 400 Wörter enthält.

1997 wurde sie in den USA als erste trans Frau mit dem Felipa de Souza-Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Im Jahr 1998 nahm sie offiziell die weibliche Identität an. Bei den Kommunalwahlen 1999 trat sie als erste trans Kandidatin an und kandidierte 2007 als Abgeordnete bei den Parlamentswahlen. Demir lebt zusammen mit ihren Straßenkatzen seit rund 35 Jahren in der Ülker Sokak im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu, wo sie in den Achtzigern begann, für die Rechte von trans Frauen zu kämpfen.

Ümmiye Koçak (geboren 1957)

Illustration: Pınar Ergün

Ümmiye Koçak kam als sechstes von zehn Kindern einer Familie in einem Dorf in der Provinz Adana zur Welt. Sie füllte die Rolle aus, die ihr das Leben in einem armen Dorf zuschrieb, las aber zugleich jedes Buch, das sie in die Hände bekommen konnte. Mit 13 fing sie an, Erzählungen zu schreiben. Später zog sie ihre Kinder auf und besorgte den Haushalt, vergaß aber nie das Lesen und Schreiben.

Mit 44 gründete sie eine Frauen-Theatergruppe im Dorf. Alles was sie aus der Literatur und vom Theater gelernt hatte, mobilisierte sie für die Befreiung der Frauen. Ihre 15 Theaterstücke über das Leben der Frauen auf dem Land wurden 20.000 Mal aufgeführt, sie nahm an Festivals teil und trat als Pädagogin in Fernsehsendungen auf. 2013 erhielt sie beim Eurasischen Filmfestival in New York den Preis für die beste weibliche Künstlerin. Ihr Leben, so Koçaks eigene Worte, sei die Geschichte einer Frau, „die sich ihr Spielzeug selber bastelt, ihre Gedanken frei fließen lässt und frei ist“.

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