70 Jahre „Neues Deutschland“: Eine treue Sozialistin
Die Tageszeitung „Neues Deutschland“ wird 70 Jahre alt. Die treueste Leserin heißt Käthe Seelig, ist über 100 Jahre alt und seit 69 Jahren Abonnentin.
„Das größte Ereignis für unser Volk nach der faschistischen Tragödie: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ist geschaffen“ (Erster Satz „ND“, 23. 4. 1946)
Nein, die erste Ausgabe des Neuen Deutschland vom 23. April 1946 hat Käthe Seelig nicht in der Hand gehalten. Behutsam bugsiert sie ihren Rollstuhl an den Wohnzimmertisch. Ein wenig scheint sie zu zweifeln. Wie soll man nur siebzig Jahre Neues Deutschland an einem Nachmittag erörtern? Wie die eigenen Jahre einflechten? Wo anfangen? Wie weit ausholen? Bei den Nazis beginnen? Oder mit 1947, dem Jahr, in dem sie ND-Abonnentin wurde? Oder diese Ausgabe von 1987: An einem Tag druckt die Zeitung 43 Fotos von Erich Honecker. Oder sind die Schicksale der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer nicht viel wichtiger? Käthe Seelig ist skeptisch.
Die aktuelle Ausgabe des ND mit dem inzwischen türkisfarbenen Kopf steckt um diese Stunde im Zeitungsständer neben dem Sofa. Käthe Seelig liest das ND gewöhnlich zur Mittagszeit. Der Morgen gehöre der Presseschau im Deutschlandfunk, wo all die Zeitungen ausführlich zu Wort kommen, die im Neuen Deutschland einst als „Revolverblätter“ geächtet waren. Leider werde das ND zu wenig zitiert, klagt sie. So wie die taz auch, fügt sie an.
In wenigen Tagen wird Käthe Seelig den 101. Geburtstag feiern. Ein Jahr nach der Gründung abonniert sie die SED-Parteizeitung, das Abo läuft bis heute. Sie ist wohl die älteste Leserin des Neuen Deutschland. Ein Mitarbeiter des ND kann es nicht präzisieren. Das Alter der Abonnenten werde nicht erfasst, heißt es.
Die Kriegsverletzung
Als das Neue Deutschland am 23. April 1946 erstmals erscheint und in einem „Manifest“ eine sozialistische Gesellschaft skizziert, in der Wirtschaft, Handwerk und Kultur erblühen, Frauen gleichberechtigt leben und die deutsche Jugend höchsten Idealen zustrebt, war Käthe Seelig gerade einunddreißig Jahre alt geworden und arbeitete als Bibliothekarin in einem Bergbaubetrieb ihrer Heimatstadt Halle. Kurz vor Kriegsende, am 31. März 1945, war sie bei einem der letzten Bombenangriffe verschüttet worden. Das Datum hat sie für immer im Kopf. Die Mitarbeiter hatten sich in einen Stollen geflüchtet, 22 von ihnen wurden nur noch tot herausgezogen. Käthe Seelig hatte Glück. Nur das rechte Bein wurde von einem herabstürzenden Balken verletzt.
„Damals war die Natur schon weiter“, sagt sie plötzlich und sieht zum Balkon hinüber. Auf der Wiese leuchtet das Gras, der Nussbaum vor dem Haus ist noch kahl. In der Ferne zieht lautlos ein Zug vorbei. Rangsdorf, eine Gemeinde mit 10.000 Einwohnern, liegt im „Speckgürtel“ südlich von Berlin. Käthe Seelig wohnt seit 1978 hier, seit einigen Jahren in einem Mehrfamilienhaus im ersten Stock, kein Fahrstuhl. Das ND bringt ihr eine Nachbarin von Postkasten zur Wohnungstür.
Am 23. April 1946 erscheint erstmals in Berlin das Neue Deutschland (ND). Bis Dezember 1989 ist die Zeitung das „Zentralorgan“, später das „Organ des Zentralkomitees“, der einen Tag zuvor gegründeten SED. Die Partei war in der sowjetischen Besatzungszone aus der von den Sowjets betriebenen Vereinigung von KPD und SPD hervorgegangen. Der Einfluss der SED ist von Anfang an erheblich. Die Chefredaktion untersteht unmittelbar der Parteispitze, von der sie die Weisungen erhält.
Das ND ist mit einer Auflage von 1,1 Millionen Exemplaren das Sprachrohr der SED und das auch international wichtigste Propagandawerkzeug der DDR-Führung. Im Wendeherbst 1989 löst sich das ND von der ehemaligen Staatspartei SED und firmiert seitdem als „Sozialistische Tageszeitung“. Das ND hat heute eine Auflage von rund 30.000 Exemplaren und steht der Linkspartei nahe. (thg)
Dann deutet sie wieder auf ihr rechtes Bein. Was ist das Wichtigste? Was war bedeutsam in all den Jahren? „Nie, nie, nie wieder Krieg!“ Egal wie man das Neue Deutschland und die DDR bewertet, kritisiert oder gar durch den Kakao zieht – „Die DDR hat keinen Krieg geführt!“. Käthe Seelig richtet sich bei diesem Bekenntnis auf. Mit beiden Händen unterstreicht sie diese Botschaft, die die SED und ihr „Zentralorgan“ so beharrlich in die Welt trugen.
Ihre Geschichte mit dem ND beginnt 1947 im Wirtschaftsministerium des Landes Sachsen-Anhalt in Halle, wo sie eine Bibliothek aufbauen sollte. Mittwochs standen Schulungen in Marxismus-Leninismus an, erzählt Käthe Seelig. Aber das reichte natürlich nicht. „Ihr müsst das ND lesen, euch ein bisschen weiterbilden“, drängten die Vorgesetzten. Und so begann sie, das Neue Deutschland zu beziehen – die Zeitung, die das Versprechen auf ein neues Land im Titel führte.
Außenpolitik war ihr wichtig. „Die ganze internationale Situation, die habe ich authentisch erfahren.“ Käthe Seelig klingt zufrieden. Völlig reibungslos war das Studium der Zeitung allerdings nie. „Stalin! Du musst Stalin zitieren!“ Käthe Seelig erinnert sich an die Appelle bei der regelmäßigen Zeitungsschau. „Aber wir haben doch das Goethe-Jahr?“ Das war 1949.
„Mich stört besonders, daß Biermann die Bedeutung unseres antifaschistisch-demokratischen Schutzwalls leugnet.“ (Leserbrief im „ND“ vom 12. Dezember 1965)
„Die Auseinandersetzungen mit der Kultur, die waren nicht immer so freundlich“, bemerkt Käthe Seelig. Sie sagt das etwas beiläufig. Mehr als fünfzig Jahre liegen die Ereignisse zurück, die die SED-Genossin Seelig tief verletzt haben. 1965 war aus der Bibliothekarin von einst die Dozentin für Ästhetik an der Theaterhochschule Leipzig geworden. Schulungen, Fortbildungen, Kurse – Frauenqualifizierung waren Programm. Käthe Seelig nutzt die Möglichkeiten des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“, verschreibt sich dem Theater und der Kulturpolitik. Zudem ist sie Prorektorin und Parteisekretärin.
Die Stimmung ist bereits das ganze Jahr 1965 über feindselig. Den einen Tag wird im ND ein Stück von Peter Hacks verrissen. Hacks, der „sozialistische Klassiker“, den Käthe Seelig so sehr verehrt. Tags darauf werden langhaarige Jugendliche als „Gammler“ angegriffen, denen man dringend einen Messerformschnitt verpassen müsse. Höhepunkt der Kampagne gegen unliebsame Schriftsteller, Regisseure, Schauspieler ist im Dezember das 11. Plenum der SED. Der Vorwurf: Die Künstler hätten die Jugend verdorben, Anstand und Moral seien in Gefahr, letztlich gar der Sozialismus. „Das hat mich getroffen.“ Käthe Seelig seufzt.
Die marxistisch-leninistische Lehre
Der Parteichef des Bezirks Leipzig greift im ND die Theaterhochschule an – und damit auch Parteisekretärin Seelig: „Unter Mißbrauch und Verletzung der marxistisch-leninistischen Lehre […] wurde den Studenten der Skeptizismus als eine Grundauffassung gelehrt.“ Nichtsozialistische Positionen würden Einzug halten, giftete Fröhlich.
Sie wird lebhaft, schüttelt den Kopf, klopft mit den Fingern auf den Tisch. „Ich habe die Studenten nicht zum Skeptizismus erzogen.“ Käthe Seelig, ein Seidentuch über den Schultern, mit eleganten, fast jungen Gesichtszügen und vornehmem Lächeln, wirkt immer noch verletzt.
Verhieß das Neue Deutschland in seiner ersten Ausgabe nicht, dass nur der Sozialismus „ein Reich wahrer Freude und Menschlichkeit schaffen“ könne? Vermutlich ist ihr Glaube an den Sozialismus in der DDR in jenen fernen Tagen erschüttert worden. Sagen wird es Käthe Seelig nicht.
Und wie war die Stimmung an der Hochschule bei der Ausbürgerung von Wolf Biermann 1976, als viele Künstler opponierten? Käthe Seelig überlegt kurz. „Wieso? Da war ich doch schon in Rente.“ Es klingt wie abwesend. Das Neue Deutschland, das SED-Organ, das gleichermaßen Partei und Volk ansprechen sollte, erstarrt nach 1976 und gleicht fortan Erich Honecker, der fest darauf beharrt, dass die DDR von Erfolg zu Erfolg eilt, während in der „BRD“ die Kinder hungern.
„Eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus: 98,85 Prozent stimmten für die Kandidaten der Nationalen Front“ („ND“ vom 8. Mai 1989)
Seelig leitet später die Sektion Puppentheater in Verband der Theaterschaffenden. Sie lobt diese hohe Kunst, schwärmt vom legendären sowjetischen Puppenspiel. 1987 wird sie dem ND in dieser Funktion ein kurzes Interview geben, es geht um Puppenspiel, nicht um Politik, Titel: „Puppentheater – attraktiv durch Vielfalt und Niveau“.
Die Regale ringsum sind voller Bücher, viel Schöngeistiges. Fontane und Thomas Mann, die sie besonders verehrt, sind in einem Schrank hinter Glas verwahrt. „Der Fontane mit seinen Frauengeschichten“, sagt sie und lächelt. Inzwischen schreibt sie selbst, Erzählungen, Gedichte, Frauenschicksale interessieren sie. Die Liebe zur Kultur hat ihr die Mutter vermittelt. Den Sozialismus hat ihr bereits die Großmutter vererbt, die mit Rosa Luxemburg demonstriert hat. „Ich war traurig, als die DDR unterging. Sehr traurig“, sagt sie. Ein Jahr nach der letzten Wahl mit der Einheitsliste unter Führung der SED und mit knapp 100 Prozent Zustimmung laufen die DDR-Bürger zur „Allianz für Deutschland“ über. Helmut Kohls Statthalter versprechen den schnellen Weg zur Einheit. Die DDR ist Geschichte, die SED wandelt sich zur PDS und weiter zur Linkspartei. Ihren Genossen ist Käthe Seelig genauso treu geblieben wie ihrer Zeitung.
Eine nibelungenhafte Treue?
Die derzeitigen Nachrichten in „ihrem“ ND bekümmern sie sehr, die vielen Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken. Käthe Seelig sieht auf. Das muss sie noch loswerden. Neulich war auf einer Vernissage, Roland Paris heißt der Maler, ein alter Bekannter. Ein Gemälde hat sie erschüttert – „Charons Boote im Mittelmeer“. Boote voller Flüchtlinge, die sich vom düsteren Charon übersetzen lassen, dem Fährmann, der nach der Mythologie die Toten in den Hades befördert. Flüchtlinge als Todgeweihte. Käthe Seelig blickt erschreckt.
Natürlich hat auch das ND seine „älteste Leserin“ zu seinem 70. Geburtstag gewürdigt. Herauszulesen ist dort eine gewisse Verwunderung über die „nibelungenhafte“ Treue ihrer Abonnentin. Die radikale Identifikation mit Zeitung und Staat ist von „befremdlicher Intensität“, heißt es. Dieses Erstaunen könnte Käthe Seelig etwas geschmerzt haben. „Das ist noch meine Zeitung“, sagt sie bestimmt.
„Ich bin 70. Fühle mich wie 25“ – in seiner Geburtstagskampagne lässt das Neue Deutschland junge Mitarbeiter zu Wort kommen, um möglichst unverbraucht zu erscheinen. Eine Leserin hingegen ist über hundert – und wirkt, als wäre sie siebzig. Auch eine gute Werbung.
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