60 Jahre Migration aus der Türkei: „Es heißt immer ‚du als Türke‘“
Der Künstler Adem Şahantürk erzählt übers Aufwachsen in Bremen als Kind türkischer Gastarbeiter. Ein Gespräch über Rassismus, Religion und Graffiti.
taz: Ich habe neulich ein Magazin zu 60 Jahren deutsch-türkisches Zusammenleben gelesen. Im Grußwort von Staatsministerin Michelle Müntefering hieß es: „Viele von ihnen leben bis heute unter uns.“ Es gibt also immer noch ein „wir“ und „die anderen“.
Adem Şahantürk: Ausgrenzung und Abwertung kriegst du ständig um die Ohren. Die Kinder mit türkischen Wurzeln, die ich kenne, haben dieselben Interessen wie alle anderen, dieselben Lebensweisen. Aber man hält ihnen ständig einen Spiegel vor: Es heißt immer „Du als Türke.“
Unterschied sich die erste Generation noch deutlicher von den damaligen Deutschen?
Natürlich. Die Gastarbeiter hatten wegen Schichtarbeit nicht mal die Möglichkeit, geregelten Schlaf zu bekommen – die hatten gar keine Zeit, Deutsch zu lernen. Mein Vater war sehr viel unterwegs. Sein Gedanke war wohl immer, ich hab fünf hungrige Münder, ich muss funktionieren. Die Sprache hat er nie richtig gelernt.
Was hat Ihr Vater in Bremen gemacht?
Er ist Ende der sechziger Jahre nach Bremen gekommen, er war Schweißer bei der AG Weser. Er hat mir von einem Tunnel erzählt, 50, 60 Meter lang, aber nur einen Meter hoch. Er musste darin schweißen.
Das klingt hart …
Ja, an den Folgen ist er später erkrankt. Mein Vater ist 2016 mit Anfang siebzig verstorben, kurz danach und davor die Kollegen, alle mit Lungenproblemen; es muss dort Asbest gegeben haben. Ich erinnere mich, dass mein Vater immer Milch getrunken hat, weil Milch eine entgiftende Wirkung haben soll. Meine Mutter hat mir neulich erzählt, dass er nach der Arbeit manchmal mit mehreren Decken da lag und Schüttelfrost hatte. Arbeitsschutz wurde nicht so groß geschrieben. Die haben sie behandelt wie Vieh.
Und Ihre Mutter?
Meine Mutter war Hausfrau, mit fünf Kindern hatte sie viel zu tun. Wir hatten oft Menschen zu Hause, Nachbarn, aber auch Kontakte aus der Heimatstadt meiner Eltern. Die Leute haben sich an den engsten Kreis gebunden, den sie finden konnten.
Haben sich die Menschen vielleicht schon bei der Jobsuche daran orientiert, wo schon Bekannte lebten?
Bestimmt. Man muss sich das vorstellen: Wenn wir heute verreisen, haben wir die Möglichkeit ins Englische zu switchen. Aber für meine Eltern und die anderen war das anders: Du fährst in ein Land, das du gar nicht kennst, zum Leben und Arbeiten ganz ohne Sprachkenntnisse. Natürlich hat man da einen ganz kleinen geschlossenen Kreis gesucht. Erst später, als meine Eltern eine Parzelle hatten, hatten sie dort deutsche Nachbarn, mit denen sie sich auch gut verstanden haben.
Glauben Sie, Ihre Eltern wollten noch mal zurück?
Es gab 1983 ein Angebot, da hat die Bundesregierung versucht, die Leute loszuwerden: Wer zurückgegangen ist, hat Geld bekommen, und der Umzug wurde gezahlt. Meine Familie hat das auch versucht. Wir haben eine Zeit in der Türkei gelebt, ich glaube, da war ich in der zweiten Klasse. Wir sind aber nach sechs Monaten zurück gegangen – dafür bin ich unglaublich dankbar. Ich kannte das alles nicht, auch die Sprache dort war anders als das Türkisch in unserer Familie.
Also sind Ihre Eltern wegen der Kinder wieder nach Deutschland?
Jahrgang 1976, macht seit fast 30 Jahren Graffiti und ist Inhaber der Firma atx Artworx im Bremer Viertel
Ich denke schon, ja. Im Urlaub in der Türkei treffe ich manchmal Menschen, die damals als halbe Teenies rüber sind und sich noch immer zurücksehnen nach Deutschland.
Bei der Kültürale geben Sie einen Graffitiworkshop. Wie sind Sie zum Graffiti gekommen?
Wir waren damals so elf, glaube ich, als ein sehr guter Freund von mir Tags gesehen hat, also Schriftzüge. Wir haben dann auch angefangen, auf dem Schulhof und dem Spielplatz wurde gesprüht. Du möchtest wahrgenommen werden.
Ich hab das Gefühl, die Szene ist eher so weißdeutsch; aber vielleicht kenne ich auch einfach nicht genug Leute?
Das ist in den Städten unterschiedlich. In Berlin kamen die Anfänge aber zum Beispiel aus der migrantischen Community, das waren Türken, Araber, Kroaten. Die Leute haben nicht nur Berlin geprägt, sondern das ganze deutsche Graffiti. Ich weiß noch, als ich vielleicht erst drei Bilder gemalt hatte, keine Ahnung hatte von Graffiti, kam mal ein Nachbar auf mich zu und sagte: Der Weltmeister in Graffiti ist ein Türke.' Er meinte den Sprayer Amok.
Tat es gut, das zu hören?
Es war jedenfalls nicht so, dass ich dachte, o schade. Es war irgendwie surreal. Viel später habe ich mal mit ihm zusammen gemalt.
Wie haben Ihre Eltern auf das Hobby reagiert?
Ich denke, mein Vater mochte die Seite an mir nicht. Aber er hat mir keinen großen Druck gemacht. Er konnte es nicht verstehen. Er ist dann in sein Café gegangen und hat Tee getrunken, Karten gespielt.
Und Ihre Mutter?
Meine Mutter hat mich einmal abgefangen, nachdem ich Silvester 1994/95 erwischt wurde. Sie hat mir die Tür aufgemacht; sagen wir so: Sie war jedenfalls schon mal freundlicher. Die Aktion an sich war gar nicht so böse. Es war einfach eine Wand vom Mercedeswerk. Ich hab dann bei Mercedes angerufen. Der Betriebsleiter wollte nichts draus machen – er wollte jemanden im Ausbildungsalter für so was nicht anzeigen und hat dann gesagt, wir lassen Efeu drüber wachsen. Der Typ war echt cool. Vielleicht war das Erwischtwerden eine ganz gute Bremse für mich.
Sie arbeiten immer noch als Graffitikünstler, schon lange auf legaler Ebene. Haben Ihre Eltern das akzeptiert?
Ich hatte ein ganz okayes Abi, damals gab es nicht so viele Migranten, die Abi gemacht haben. Als ich mich für die Kunst entschieden habe, war das aber nicht so schlimm. Es gab Beispiele von Leuten, die andere Wege gegangen sind bei uns. Die Eltern haben mir gut zugeredet zu etwas anderem. Aber sie haben mich nicht bedrängt.
Klingt nach respektvoller Beziehung.
Die haben mich einfach machen lassen. Wir mussten eh immer alles selber machen. Wenn mir wer bei den Hausaufgaben geholfen hat, dann war das meine Schwester. Du wirst pfiffig, wenn du immer alles selber lösen musst. Als wir später mit Atx-artworx erfolgreich wurden, hatten meine Eltern schon Freude daran, die Artikel in der Zeitung zu sehen. Sie waren glücklich, dass ich den eigenen Weg gefunden habe. Ich bin mit verantwortlich dafür, dass Bremen so bunt ist, wir haben viel geändert. Graffiti ist ein schönes Abenteuer in meinem Leben.
Haben Sie als Kind oder Jugendlicher hier Rassismus erfahren?
Ich weiß nicht, wie weit du das mitbekommst als Kind. Da gab es einen Trainer, der hat mich mit heftigen Worten degradiert. Wenn ich eine Tüte dabei hatte, hat er gesagt,,hast du den Türkenkoffer genommen“.
Man gewöhnt sich dran?
Ja, das ist vielleicht so Alltagsrassismus. Eine Sache fällt mir noch ein, 1992, kurz nachdem in Mölln der Brandanschlag war, bei dem mehrere Türken gestorben sind, da hat es bei uns auch gebrannt. Es war Brandstiftung, das Feuer begann im Keller. Ich habe das damals gar nicht in Verbindung gebracht. Erst Jahre später habe ich darüber nachgedacht.
In unserem Vorgespräch haben Sie erzählt, dass Sie auch als Seelsorger arbeiten. Wie sind Sie dazu gekommen?
Deutschland will schon lange islamische Religionslehrer in Deutschland ausbilden. Vor dem Studiengang für Imame in Osnabrück gab es zwei Jahre ein Vorlaufprogramm für islamische Seelsorge. Ich habe da 2011 Seminare besucht. Seit 2015 bin ich auch noch Anti-Gewalt-Trainer.
Warum wollten Sie das machen?
Ich hatte selbst eine wilde Jugend und glaube, das hilft mir in diesem Bereich. Ich fühlte mich damals oft missverstanden. Ich spreche deutsch, ich träume deutsch. Aber als Jugendlicher dachte ich, ich sei nie deutsch geworden. Man wird wütend, wenn man nicht in einen Club gelassen wird, weil die Haare zu dunkel sind. Ich hatte immer beide Welten: Neben der Schule noch der Türkischunterricht, und am Wochenende neben Fußball auch noch in die Moschee. Die hat mich später aufgefangen, dort war ich in einem Anti-Gewalt-Kreis. Die Literatur dort hat mir viele Antworten auf meine Alltagsprobleme gegeben.
Was bedeutet Ihnen der Glaube?
Ich würde mich nie als überaus gläubig bezeichnen. Aber ich faste, ich bete, ich zahle die Zakat (Armensteuer, Anmerkung der Redaktion). Ich habe gewisse Werte, die hängen mit der Erkenntnis eines Schöpfers zusammen. Ich glaube an das Schicksal, an das Gute im Leben. Unsere Eltern haben versucht, uns das mit der Brechstange einzutrichtern. Brechstange heißt:,Du gehst da hin in die Moschee.' Aber es geht darum, sich selber zu finden. Mit Druck geht gar nichts.
Sind die Probleme von jungen migrantischen Jugendlichen heute die selben?
Ich habe nicht nur migrantische Jugendliche mit Problemen in der Arbeit als Anti-Gewalt-Trainer. Da sind auch viele Deutsche, die zum Beispiel schwierige Elternhäuser hatten. Ich geh davon aus, dass fast jeder Mensch das Gute möchte. Aber es ist einfach …
… Ja?
Es ist schwer, wenn man immer abgewiesen wird, das passiert immer noch vielen Migranten. Ich war in einem Kurs mit 36 Pädagogen, alle haben Fragen gestellt, wo sie in ihrer Berufspraxis nicht weiter kamen. Der eine hatte einen Jungen, der im Freizi beten wollte. Warum macht man daraus überhaupt ein Thema? Ob der jetzt drei Minuten in sich gekehrt ist oder ein anderer fünf Minuten auf Toilette ist, wen stört das denn? Lass ihn doch beten, gib ihm doch keinen Zündstoff zum Wütendwerden. Als Anti-Gewalt-Trainer denke ich: Man sollte den Konflikt nicht suchen, wo es gar keinen gibt.
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