50 Jahre Prager Frühling: Die menschliche Fackel
Vor 50 Jahren zündete sich Jan Palach auf dem Wenzelsplatz an. Heute haben in der tschechischen Hauptstadt die Wendehälse das Sagen.
Es war ein feuchter, grauer Wintertag, als Jan Palach beschloss zu sterben. Dabei war es noch nicht mal ein Jahr her, dass das Leben des 20-jährigen endlich die richtigen Bahnen eingeschlagen hatte.
Die Reformen des Prager Frühlings hatten es ihm, den das stalinistische Regime zuvor als Bürgersohn verpönt hatte, ermöglicht, sich an der Karlsuniversität einzuschreiben, um sein Traumfach Geschichte zu studieren. Mit großem Elan stürzte sich Palach in sein neues Leben an der Philosophischen Fakultät am Prager Moldauufer.
Der ernsthafte junge Mann engagierte sich im akademischen Rat und malte sich seine Zukunft aus. Sein Studium hatte ihm völlig neue Möglichkeiten eröffnet und vielleicht würde er bald seine Helenka heiraten, seine Freundin, die er schon aus gemeinsamen Sandkastentagen in Vsetaty kannte. Doch dann, in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 kamen die Panzer aus dem Osten und machten alles kaputt.
Knapp fünf Monate später steht Jan Palach am oberen Ende des Prager Wenzelsplatzes und blickt auf das mächtige Reiterstandbild des Heiligen Wenzel. Der böhmische Schutzheilige, so die Legende, würde schon eingreifen, wenn es schlecht um die tschechische Nation bestellt sei. Doch wie viel schlimmer musste es noch kommen? Innerhalb weniger Monate hatten sich die Tschechen mit der Besatzung abgefunden, sie sogar politisch per Beschluss legitimiert.
1970 geboren, kommt vom Bodensee, ist nach dem Studium der Bohemistik und Osteuropastudien (M. A. Glasgow 1996) nach Prag gezogen, von wo aus sie seit über 20 Jahren für die taz berichtet.
Unter dem grauen Schleier der Normalisierung, der seit der Zerschlagung des Prager Frühlings über dem Land lag, hatte sich Apathie breit gemacht. Aber Jan Palach wollte sich nicht abfinden. Nicht mit der Besatzung und erst recht nicht mit der Gleichgültigkeit, mit der seine Mitmenschen ihr begegneten. Hatte etwa jemand gegen die Wiedereinführung der Zensur protestiert? Gegen die Propaganda, die die Zprávy, das Presseorgan der Besatzer, im Land verbreitete? Nicht einmal die Studenten wehrten sich gegen die schleichenden Signale der Totalität.
29 Versuche der Selbstverbrennung
Im November 1968 hatte Palach in einem Brief an seine Studentenvereinigung gefordert, aus Protest gegen die Zensur das Rundfunkgebäude hinter dem Wenzelsplatz zu besetzen und einen Generalstreik auszurufen. Als er nicht einmal eine Antwort erhielt, beschloss er, die Gesellschaft selbst wachzurütteln. Irgendjemand musste es ja machen.
Es war gegen kurz nach halb Vier an diesem hässlichen Januartag, als Jan Palach vor dem Heiligen Wenzel stand und eine Flasche Äther öffnete. Damit rieb er sich, wie ein Passant später bezeugte, erst das Gesicht ein. Den Rest trank er aus. Dann öffnete er zwei Kunststoffeimer, die er in einer Tankstelle in der Nähe mit Benzin hatte füllen lassen. Das goss er über sich und zündete ein Streichholz an. „In dem Moment wurde er zu einer einzigen, laufenden Fackel“, beschreiben Zeugen die Tat.
Palach ist noch bei vollem Bewusstsein, als er in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht wird, er macht auf seine Forderungen aufmerksam: die augenblickliche Abschaffung der Zensur und ein Verbot der Verbreitung der Okkupantenschrift Zpravy. Er sei nur Fackel Nummer Eins, schreibt Palach in seinem Brief. Weitere würden folgen.
Drei Tage später, am 19. Januar 1969 stirbt Jan Palach. Der Tod kommt nicht barmherztig, Palach stirbt bei vollem Bewusstsein und unter großen Schmerzen. Man solle es ihm nicht nachtun, warnt Palach potentielle weitere Fackeln vom Totenbett aus. Dennoch: zwischen dem 16. Januar und Ende April 1969 kommt es in der ČSSR zu 29 Versuchen der Selbstverbrennung. Zwei davon enden tödlich.
Generalprobe der Samtrevolution
Doch es ist Fackel Nummer Eins, die als kleine Flamme zumindest in einem Teil der Gesellschaft weiterlodert. Sie flackert zwanzig Jahre später wieder auf, als Gedenkveranstaltungen anlässlich Palachs Selbstverbrennung zu Protesten und Demonstrationen, wie sie die Tschechoslowakei seit Niederschlagung des Prager Frühlings nicht mehr gesehen hatte.
Mehr noch: die brutale Reaktion, in der das Regime die Proteste niederknüppeln lässt, bringen den tschechoslowakischen Dissens aus dem Schatten der polnischen Solidarnosc und den ungariscen Reformkommunisten hervor ins in internationale Bewusstsein. Die Palach-Woche, als die die Unruhen vom Januar 1989 in die tschechische Geschichte eingingen, gilt als Generalprobe der Samtrevolution, die das kommunistische Regime zehn Monate später stürzen sollte
Das realsozialistische Regime ist aber nicht an Märtyrern wie an Jan Palach zerbrochen. Sondern an der eigenen Unzulänglichkeit. Die Gleichgültigkeit, aus der Palach wachrütteln wollte, hat es aber überlebt. Es sind nicht die Dissidenten von damals, die heute die Geschichte Tschechiens schreiben. Es sind die Wendehälse. Die, die dank der gesellschaftlichen Apathie, die Palach zu seinem Opfer zwang, Karriere gemacht haben.
KP als führende Kraft der tschechischen Linken
Am 50. Jahrestag von Palachs Selbstverbrennung ist Tschechien ein gespaltenes Land, das regiert wird von einem ehemaligen Spitzel der kommunistischen Staatssicherheit. Der wird zudem beschuldigt, als Unternehmer EU-Fördergelder missbraucht zu haben, frei nach der informellen Losung: „Wer nicht den Staat bestiehlt, bestiehlt die eigene Familie“. Die Kommunistische Partei fungiert derweil als graue Eminenz der Regierungsbildung und definiert sich als führende Kraft der tschechischen Linken.
Sie wurden aber nicht, wie die Normalisierungskommunisten der späten 1960er von ausländischen Panzern installiert. Sondern in freien Wahlen von einer Mehrheit der Bevölkerung an die Macht gebracht, als Manifestation dessen, dass die gleichgültige Mentalität der Normalisierungsjahre bis heute die tschechische Politik und Gesellschaft dominiert. Die Reden, Debatten und Gedenkveranstaltungen mit denen dieser Tage an Jan Palach und seine Selbstverbrennung erinnert wird, bergen vor allem eine bittere Erkenntnis: sein Opfer war umsonst.
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