50 Jahre Kriegsende in Nigeria: Das Biafra-Tabu
Vor 50 Jahren endete in Nigeria die Sezession des Südostens unter dem Namen „Biafra“. Offiziell ist das kein Thema. Aber in den Köpfen schon.
Der Unabhängigkeitskrieg des Südostens von Nigeria unter dem Namen „Biafra“ kostete zwischen 500.000 und drei Millionen Menschenleben, er begann am 6. Juli 1967 und endete am 15. Januar 1970. Okafor, damals ein junger Staatsbeamter, kann sich noch gut daran erinnern, wie nach zwei Staatsstreichen und Pogromen am 30. Mai 1967 der damalige Militärgouverneur der Ostregion Nigerias, Chukwuemeka Odumegwu Ojukwu, das unabhängige Biafra ausrief.
„Ich war ziemlich glücklich“, sagt der Igbo. „In Nigeria hatte ich mich nicht mehr sicher gefühlt. Auch gab es keine Basis mehr für eine Einheit.“ Dabei lebte Okafor, der als Physiker für die staatliche Geologiebehörde arbeitete, vor dem Krieg fern von der Heimat in der nordnigerianischen Stadt Kaduna.
Für seine Feldforschung war er viel unterwegs. Im Jahr vor der Unabhängigkeitserklärung spürte er jedoch eine steigende Anspannung angesichts der Ausschreitungen gegen die Igbos, größte Ethnie im Südosten Nigerias. „Wir fanden deshalb: Lasst doch jede Region im Land unabhängig werden. Das war die Stimmung.“
„Wir haben alles selbst produziert“
Nach dem 30. Mai 1967 war der Kriegsbeginn nur noch eine Frage der Zeit. Südostnigeria hält die meisten Ölvorkommen des Landes, Nigeria wollte die Ölregion nicht ziehen lassen und sich sowieso nicht in seine Bestandteile zerlegen. In Biafra selbst, erinnert sich Okafor, folgten viel Propaganda und eine immense Mobilmachung. Junge Männer wurden eingezogen und in aller Eile zu Soldaten gemacht.
Der junge Physiker war für eine Armeekarriere zu gut ausgebildet, er kam stattdessen zum Fachbereich Forschung und Produktion (RAP) der Streitkräfte, um im Eiltempo Rüstungsgüter zu entwickeln und herzustellen. Es mangelte an Minen, Fahrzeugen, Waffen. „Wir haben alles selbst produziert, sogar unser eigenes Benzin. Wir hatten mobile Raffinerien, die wir innerhalb von zwei Stunden auf- und wieder abbauen konnten“, erinnert er sich. In seiner Stimme klingen Stolz und auch ein bisschen Wehmut mit.
Ein Teil der Waffen und gepanzerten Fahrzeuge ist heute im Kriegsmuseum von Umuahia ausgestellt. Auf verstaubten schwarzen Fahrzeugen ist noch immer die Flagge Biafras zu sehen: eine aufgehende Sonne vor rot-schwarz-grünem Hintergrund. Das alte Patrouillenboot „NNS Bonny“ wird gerade restauriert, die übrigen Exponate sollen folgen.
Mercy Aduaka, Kuratorin des Museums, führt durch die Ausstellung. Es sei unverständlich, seufzt sie, dass das Wissen der RAP nach dem Krieg nicht für zivile Zwecke genutzt wurde. Ihre Arbeit hätte gezeigt, wozu Nigeria fähig ist.
Mercy Aduaka steigt die 38 Stufen in den wohl ungewöhnlichsten Ausstellungsraum hinab: in Ojukwus alten Bunker. Nachdem Biafras Hauptstadt Enugu bereits Anfang Oktober 1967 an die Armee von Nigerias Zentralregierung gefallen war, zog Biafras Sezessionsregierung nach Umuahia. Auf dem Weg in die Tiefe des Bunkers hängen heute rechts und links unscharfe Fotos von Befehlshabern beider Kriegsparteien.
Unten angekommen, bleibt Aduaka vor den bekanntesten Bildern des Biafra-Krieges stehen: die hungernden Kinder, bis auf die Knochen abgemagerte Mädchen und Jungen mit riesigen Hungerbäuchen. „Sie litten an Hungerödemen“, erläutert sie, „später haben sie sich am meisten über das Kriegsende gefreut.“
Hungernde Kinder, abgeschnittene Bevölkerung
Weltweit wurde Biafra zum Synonym für hungernde Kinder. In Enugu gehen die Bilder auch Benjamin Julius Obiora Okafor nicht aus dem Kopf. Anfang 1968 ließ er seine Frau und den neugeborenen Sohn im Dorf zurück, wo es zumindest noch etwas zu essen gab. Manchmal hörten sie wochenlang nichts voneinander. Soldaten halfen, Informationen zu übermitteln.
Die Versorgungslage verschlimmerte sich, als Nigerias Armee im Mai 1968 die Hafenstadt Port Harcourt einnahm und den jungen Staat von der Außenwelt abschnitt. Aushungern galt als legitime Taktik, um die Sezession niederzuschlagen. Hilfswerke reagierten mit Luftbrücken, die größte Hilfsaktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Beginn der unabhängigen humanitären Nothilfe durch Aktivisten wie Ärzte ohne Grenzen.
Okafor erinnert sich, dass die „Joint Church Aid“ Milch- und Eipulver und Maismehl einflog. An die Erwachsenen richtete Biafras Militärmachthaber Ojukwu Durchhalteparolen: Sie sollten Gemüse und Getreide anbauen, Fußballfelder in Äcker umwandeln und jedes verfügbare Fleckchen nutzen. „In dieser Zeit haben wir gelernt, dass viel mehr Pflanzen essbar sind als gedacht“, erinnert sich Okafor.
Letzter Rückzugsort der Armee Biafras wurde Owerri. Dort gelang es im April 1969, die nigerianischen Streitkräfte zunächst zurückzudrängen. „Als die Stadt Monate später aber endgültig eingenommen wurde, war klar, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist“, so Okafor. Eine traurige Erkenntnis für den Physiker, der lange an Biafra geglaubt hatte.
„Hallo, du Überlebender!“
Nach Kriegsende bekam er wie alle anderen Menschen aus dem Südosten 20 nigerianische Pfund für einen Neustart. Er nahm sie mit nach Kaduna, wo er als Staatsdiener seine alte Arbeitsstelle wieder antreten musste. Von Ressentiments sei nichts zu spüren gewesen, blickt er zurück. „Meine Kollegen freuten sich, dass ich wieder da war. Sie begrüßten mich mit: Hallo, du glücklicher Überlebender!“
Denn Nigerias Präsident Yakubu Gowon hatte mit Kriegsende den Slogan „Kein Sieger, keine Besiegten“ ausgegeben: ein verordneter Schlussstrich. Der Krieg und dessen Ursachen sollten verdrängt und totgeschwiegen werden.
Das wirkt bis heute. Zwar sind mittlerweile Erinnerungen von Soldaten und Biafra-Romane wie „Die Hälfte der Sonne“ von Chimamanda Ngozi Adichie und „Under the Udala Trees“ von Chinelo Okparanta erschienen. Dennoch gehört der Biafra-Krieg bis heute nicht zum Schulunterricht.
In diesen Tagen des 50. Jahrestags gibt es keine Veranstaltungen, um der Opfer zu gedenken. Gedenkfeiern würden zu Unfrieden führen, fürchten manche. Im Südosten wird der 15. Januar 1970 weiterhin als Tag der Niederlage gesehen. Dabei ist das Erinnern so wichtig, sagt Kuratorin Mercy Aduaka. „Wir müssen über den Krieg sprechen, gerade mit Kindern“, fordert sie, „nur so lässt sich ein neuer vermeiden.“
Auch um die Bewegungen, die weiterhin für eine Unabhängigkeit des Südostens eintreten, ist es still geworden. IPOB (Indigene Menschen für Biafra) wurde 2017 von Nigerias Regierung als Terrororganisation eingestuft. Ihr Anführer Nnamdi Kanu hält sich im Ausland auf.
Der einsame Sezessionist
Das Haus der Familie Kanu in Umuafia ist ein großes, dunkles Eckhaus mit schwarzem Metalltor. Davor stehen zwei Autos, beide mit Sand bedeckt. Das Anwesen wirkt fast verlassen, nur ein Wachmann sitzt davor. Prince Emmanuel ist der Einzige, der zu Hause ist.
Der Bruder von Nanamdi Kanu führt über das Grundstück und zeigt ein paar Einschusslöcher, 2017 bei der Razzia der Armee entstanden. Da seien auch die Fensterscheiben im Erdgeschoss zersprungen. Seitdem, klagt er, wird das Haus überwacht. Die Armee hat es im Blick.
Emmanuel berichtet von Verhaftungen und Gewalt gegen IPOB-Mitglieder. Einige seien spurlos verschwunden. Den Traum vom eigenen Staat will er aber nicht aufgeben.
Im Gegenteil: „Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir sind zu noch größeren Opfern bereit.“ Das mag eine Einzelmeinung sein, doch im Südosten ist das Gefühl von Marginalisierung ein Dauerthema. Seit Kriegsende war nie ein Igbo Präsident von Nigeria. Auch bei der Vergabe von Regierungsämtern und Jobs sehen sie sich im Nachteil. Nigeria, so eine oft gehörte Forderung, muss grundlegend umstrukturiert werden.
Alleine, also ohne den Norden Nigerias, würde Biafra besser dastehen, findet auch John Akalazu, der auf dem Railway Ogbete Market in Enugu Handtücher und Bettwäsche verkauft. Was besser wäre, kann er nicht sagen. Es ist mehr ein Gefühl.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs