50 Jahre Anwerbeabkommen mit Türkei: "Güle güle Ali!"
Ali Başar kam 1961 als einer der ersten türkischen Gastarbeiter ins Ruhrgebiet. Hinter ihm lag eine Jugend in Armut, vor ihm lag harte Arbeit in einem fremden Land. Ein Porträt.
Im zweiten Zug aus Istanbul nach München sitzt Ali Başar. Ohne Ausbildung, ohne Sprachkenntnisse, ohne Geld kommt der heute 79-Jährige ins Ruhrgebiet. Seine Heimat Tunceli (kurdisch: Dersim) in Ostanatolien hatte er schon als 13-Jähriger verlassen, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen. Er landete in Istanbul, schlief auf Parkbänken, schlug sich als Tagelöhner durch. Ein Anwerbevertrag bringt ihn nach Deutschland, hier arbeitet er viele Jahre im Bergwerk und als Schweißer.
"An die Atmosphäre bei den medizinischen Untersuchungen kann ich mich noch gut erinnern. Alle waren aufgeregt, voller Hoffnungen. Die jungen Menschen, die sich beworben hatten, waren in der Türkei ja alle arbeitslos. Mit der Ablehnung verloren sie jede Hoffnung. Ich habe bestanden. Was für eine Freude das war! Mein erster Gedanke war: Nun würde ich meinen Geschwistern etwas zu essen geben können.
Ich bin der Älteste von uns. Meinen Vater habe ich kaum kennengelernt, er ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter hat uns allein großgezogen. Sechs Geschwister! Wir besitzen kein Land, meine Geschwister hatten keine Arbeit, einer meiner Brüder ist auf einem Auge blind. Wir haben in großer Armut gelebt. Wie kann ich das beschreiben, man kann sich das hier ja nicht vorstellen. In einer Blechhütte haben wir gewohnt."
Als Anfang der 60er-Jahre die ersten Züge vom Bahnhof Istanbul-Sirkeci nach Deutschland rollen, ahnt wohl kaum jemand, dass damit Migrationsgeschichte geschrieben wird. Im Enthusiasmus, mit dem der Aufbruch der Arbeiter begleitet wird, verbirgt sich jedoch die sichere Ahnung davon, dass die Reisenden auf diesem Wege Armut, Gewalt, politischem oder sozialem Druck entkommen. Der Bahnsteig verwandelt sich zum Festplatz: Mit Jubel, Trubel und Tränen werden die Gastarbeiter von Freunden und Verwandten verabschiedet.
"'Güle güle, Ali!' (Geh lachend), riefen sie mir zu. 'Schick uns ein Farbfoto aus Deutschland!' Es wurde gelacht, geweint, gesungen, manche haben sogar Musik gemacht. Bis Edirne an der bulgarischen Grenze ist eine Gruppe Journalisten mit uns im Zug gefahren. Am nächsten Tag waren die Zeitungen voll mit uns. Wir waren ja der zweite Zug, das hat ganz schön für Aufsehen gesorgt. Vor der Grenze stiegen die Journalisten aus, und dann passierte etwas Lustiges.
Ali Başars hier in Auszügen veröffentlichte Geschichte ist eins von elf Porträts ehemaliger Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern, die zwischen 1961 und 1973 die Türkei verließen, um dem deutschen Wirtschaftswunder auf die Sprünge zu helfen. Erschienen ist sie in dem Buch "Auf Zeit. Für immer. Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich", herausgegeben von Jeannette Goddar (freie Journalistin in Berlin) und Dorte Huneke (Kulturforum TürkeiDeutschland, Köln). Weitere Porträts finden sich auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung.
Jeannette Goddar/Dorte Huneke (Hrsg.): "Auf Zeit. Für immer. Zuwanderer aus der Türkei erinnern sich". Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, Schriftenreihe Band 1183, 232 Seiten, 4,50 Euro, Bestellungen: info@bpb.de
Kiepenheuer&Witsch, Köln, 232 Seiten, 12,99 Euro.
In Sirkeci hatte ein Mann durch ein Megafon gesagt: 'Sehr geehrte Damen und Herren, hinter dem Eisernen Vorhang werden die Türen der Züge verschlossen bleiben. Bitte verlassen Sie hinter dem Eisernen Vorhang nicht mehr den Zug!' Als wir nach Bulgarien kamen, schauten wir neugierig aus dem Fenster, sahen aber nichts. 'Wo ist denn nun der Vorhang aus Eisen?', fragten die Leute, 'wir können ihn nicht sehen!' Was hatten wir schon eine Ahnung von der Welt da draußen!?"
Die Männer machten "Muuuh!"
Am Münchner Hauptbahnhof werden Ali Başar und die Mitreisenden aus der Türkei mit einem Tusch empfangen, per Megafon willkommen geheißen.
"In einem großen Raum, einer Art Salon unterhalb des Bahnhofs, haben sie uns versammelt. Sie gaben uns Obst, frisches Brot, Käse – und Würstchen. Wir dachten natürlich, das sei Schweinefleisch und wollten es nicht essen. Die Männer schauten uns an und machten 'Muuuh!' Wir verstanden und haben die Würstchen beruhigt gegessen. Dann wurden wir eilig in Gruppen aufgeteilt – je nach Ort und Arbeitgeber. Es breitete sich Panik aus, als wir erfuhren, dass wir getrennt werden sollten und alleine weiterreisen würden. Alle riefen durcheinander: Hasan, wo gehst du hin? Mehmet, in welche Stadt fährst du?
Ich wurde mit zwei anderen Männern nach Dortmund geschickt. So stiegen wir in den Zug – und staunten: Um uns herum waren überall so gut gekleidete Frauen und Männer in Nylonhemden! Das sind bestimmt Politiker, Abgeordnete, Minister, waren wir überzeugt. Wir haben es nicht gewagt, uns in eines der Abteile zu setzen. Also haben wir die gesamte Fahrt im Stehen verbracht."
Ali Başar ist froh, in Deutschland zu sein – aber anfangs auch sehr einsam.
"In den Pausen saß ich meist alleine da, auf einem Stein. Ich fühlte mich so einsam wie nie zuvor. Ich konnte mit niemandem reden, die Deutschen haben mich nicht beachtet. Bis Lorenz kam, der war anders. Er setzte sich neben mich, sprach mit mir. 'Ich: Lorenz, du: ?' – 'Ich: Ali.' So begann unsere Freundschaft. Am nächsten Tag brachte Lorenz mir von der Trinkhalle eine Sinalco mit, die er von seinem eigenen Geld für mich gekauft hatte! Ich gab ihm von meinem Brot, machte Tee für ihn. Irgendwann luden er und seine Frau Edith mich auch zu sich nach Hause ein. Die beiden haben mir sehr geholfen, so liebe Menschen. Wenn ich sehr traurig war, hat Lorenz mir den Arm um die Schulter gelegt und mich aufgemuntert."
Das Umfeld ist deutsch und links
Ali Başars Leben in Deutschland ist geprägt von Arbeit – und seinem Engagement für die Rechte der Arbeiter. Dass es für ihn und seine Kollegen eine Möglichkeit gibt, sich zu organisieren, und dass ihre Stimme auch gehört wird, ist eine einschneidende Erfahrung. 1969 wird er Gewerkschaftsmitglied, besucht regelmäßig die Gewerkschaftsschule der IG Metall, organisiert Diskussionsrunden, Demonstrationen, Weihnachtsfeiern, Sommerfeste. Sein Umfeld ist deutsch und politisch links. Dennoch begegnet er auch Menschen, die anders denken.
Am 30. Okrober 1961 wurde zwischen Bonn und Ankara eine Vereinbarung zur Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland getroffen worden. Zwischen 1955, als das Anwerbeabkommen mit Italien in Kraft trat, bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 kamen mehrere Millionen Menschen aus den Mittelmeerländern zum Arbeiten in die Bundesrepublik. Viele blieben für immer. Zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei bringt das Kulturforum TürkeiDeutschland am Sonntag in München eine Erinnerungstafel für Gastarbeiterinnen aus Gastarbeiter aller Anwerbestaaten an. Am Gleis 11 des Hauptbahnhofs, dem zentralen Ankunftsort für Gastarbeiter aus Süd- und Südosteuropa, enthüllt Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) um 13 Uhr ein Kunstobjekt der Künstlerin Gülcan Turn.
"Natürlich sind auch Dinge passiert, die nicht ganz in Ordnung waren. Einige Kollegen waren nicht sehr nett zu mir, ich musste manchmal mehr arbeiten als die anderen. Aber das ist alles nicht so wichtig. Meine Arbeitgeber haben mich immer sehr gut behandelt, mich für meine Arbeit geschätzt. Das ist denen ja das Wichtigste: dass die Leistung stimmt. Manchmal hat ein Chef mich sogar in Schutz genommen, wenn Kollegen mich respektlos behandelt haben."
Als kleiner Junge erlebt Ali Başar, wie das türkische Militär neben vielen anderen kurdischen Siedlungen auch sein Heimatdorf räumt, brutal gegen vermeintliche Aufständische vorgeht. Die Familie flieht – und verliert so den schmalen Besitz. Die Lage in der Region Tunceli bleibt angespannt. Armut, Hunger, Willkür und Gewalt prägen das Leben der Menschen. Ali Başar wird im Alter von 13 Jahren zu Verwandten nach Elazığ geschickt. Von dort geht er nach Malatya – und schließlich nach Istanbul. Die Menschen in Istanbul sehen anders aus als dort, wo er aufgewachsen ist.
Am Großen Basar trifft er einen Mann mit einem Bart, der aussieht wie die Männer in seinem Dorf. "Hey, du siehst aus wie ich!", ruft der junge Ali Başar. "Ich bin aus Tunceli, ich kenne hier niemanden!" Er bekommt einen großen Korb in die Hand gedrückt, den man auf dem Rücken trägt: Er soll den Frauen, die auf dem Markt einkaufen, die Taschen mit Obst und Gemüse nach Hause tragen.
An manchen Tagen schleppt er die schweren Lasten viele Kilometer. Nachts schläft er auf Parkbänken. Im Winter dient ihm sein Korb als Schutz vor der Kälte. Er verkriecht sich bis zur Hälfte darin, um seinen Körper vor dem Erfrieren zu retten. An einem Tag verdient er manchmal nur 10 Kuruş, dafür kann er sich ein halbes Brot kaufen, ansonsten ist er auf Almosen angewiesen.
Peitschenstriemen der Armut
Die Erinnerungen an seine Vergangenheit verlassen ihn in Deutschland nicht. Wohl deshalb erscheinen ihm rassistische Bemerkungen, denen er gelegentlich begegnet, erträglich; auch Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz. Durch sein hart erarbeitetes Geld fühlt er sich reich beschenkt. Eine Selbstverständlichkeit wird der bescheidene Wohlstand für ihn nie.
"Mit 29 habe ich mir meinen ersten Anzug gekauft, ein Hemd, Schuhe und Krawatte. Zu Hause habe ich die Sachen angezogen – und mich eine halbe Stunde lang im Spiegel betrachtet. Wie schön ich aussah! Irgendwann konnte ich mir auch ein Auto kaufen, einen Opel Kapitän. 10.000 Mark hat das gekostet! Zweimal sind wir damit in die Türkei gefahren.
Meine Mutter hatte noch nie in einem Auto gesessen. Sie konnte es gar nicht fassen, als sie uns sah, und lief aufgeregt hin und her. Zögernd stieg sie zu uns ein, hielt aber während der kurzen Fahrt die Griffe so fest umklammert, als hätte sie Angst rauszufallen. Die Armut, die ich in der Türkei erlebt habe, hat mich zur Dankbarkeit erzogen. Mit den Peitschenstriemen der Armut kam ich nach Deutschland, das Gefühl habe ich nie verloren."
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