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40. Todestag von Klaus Jürgen Rattay„Entscheidend für mein Leben“

Am 22. September 1981 kam der Hausbesetzer in Berlin ums Leben: Es war ein Fanal für die Bewegung. Gerhard Schuhmacher hat den Vorfall gefilmt.

„Ich hoffte, dass vor dem Rad des Busses eine Lederjacke liegt. Aber ich wusste, es ist ein Mensch“ Foto: Gerhard Schuhmacher
Interview von Plutonia Plarre

taz: Herr Schuhmacher, Sie waren mit einer Filmkamera zugegen, als der 18-jährige Klaus-Jürgen Rattay in der Potsdamer Straße in Schöneberg von einem BVG-Doppeldeckerbus zu Tode geschleift wurde. Das ist jetzt 40 Jahre her. Haben Sie die Szene noch vor Augen?

Gerhard Schuhmacher: Der ganze Ablauf dieses Tages ist mir noch in unmittelbarer Erinnerung.

Es geschah am frühen Nachmittag des 22. September 1981. Wie weit waren Sie von dem Bus entfernt?

Nur wenige Meter. In meinem Rücken gab es einen Aufprall, ich habe mich umgedreht und gefilmt. Ich habe gehofft, dass vor dem linken Vorderrad des Busses eine Lederjacke liegt oder eine Decke. Aber ich wusste, dass es ein Mensch ist.

Warum waren Sie vor Ort?

In den Vormittagsstunden hatte die Polizei in einer Großaktion acht besetzte Häuser geräumt. CDU-Innensenator Heinrich Lummer hatte erklärt, dass er die Hausbesetzerbewegung zerschlagen werde. Die Räumungen waren angekündigt, aber man wusste das Datum nicht. Deswegen waren ab dem 20. September Hunderte von Leuten zur Unterstützung der Besetzer im Umfeld der Häuser unterwegs. Ich wollte das Geschehen dokumentieren, um später einen Film daraus zu machen.

Sie gehörten dem Kollektiv „Gegenlicht“ an, einem Filmverleih für Super-8-Filme. Damals wurde fast alles mit Super 8 gedreht. Was war der Grund?

Im Interview: Gerhard Schuhmacher

Der Mensch Gerhard Schuhmacher wird 1953 bei Waldshut in Südbaden geboren. Nach der Bundeswehr geht er 1973 nach Berlin und studiert an der FU Publizistik und Film. 1979 ist er an der Gründung von „Gegenlicht“ beteiligt, einem alternativen Verleih für Super-8-Filme. Er selbst dokumentiert mit der Kamera unter anderem die Hausbeset­zer­zeit. Seinen Lebensunterhalt ver­dient er sich in den 80er Jahren als Kneipenwirt, Automechaniker und als Fahrer für einen Nachtexpress. Nach dem Mauerfall organisiert er für den THW Hilfsgütertransporte nach Russland.

Der Dokumentarfilmer In Südbaden, wo er seit 1994 wieder lebt, gründet er einen lokalen Fernsehsender. Der Sender existiert knapp zwei Jahre, wird von Jugendlichen betrieben und von einem Förderkreis finanziert. Danach dreht er unter anderem moderne Heimatfilme im Auftrag von Gemeinden.

Das Lebenswerk Seit dem Tod von Klaus-Jürgen Rattay verfolgt ihn der Gedanke, einen Film über die damalige Alternativbewegung und Hausbesetzerszene zu machen. An diesem Film arbeitet er jetzt konkret. Zugute kommt ihm dabei, dass es in Privatarchiven noch sehr viel unveröffentlichtes Material aus dieser Zeit gibt, das er verwerten kann.

Klaus-Jürgen Rattay stammt aus Kleve. Der 18-Jährige lebt seit anderthalb Monaten als Hausbesetzer in Berlin, als er am 22. September 1981 stirbt. Tags zuvor sagt er in einem Interview mit „Panorama“, er finde es gut, dass die Leute so zusammenhielten und so viel gekifft werde. Das Gespräch endet mit dem Satz: „Vor den Räumungen habe ich Angst, aber ich habe gleichzeitig Mut zu kämpfen.“

Es gab noch kein Video, geschweige denn digitale Technik. Kodak hatte Anfang der 70er Jahre einen Super-8-Film auf den Markt gebracht, der für Film­amateure und Familienfilmer gedacht war. Für uns, die Jugendbewegung, die in dieser Zeit entstanden ist, war das ideal. Wir waren die erste Generation, die einfach filmen konnte. Das Material war nicht teuer, überall haben sich Filmgruppen gebildet – nicht nur in Berlin, auch in Westdeutschland. Über alles, was die Alternativbewegung anging, wurden Filme gemacht, von Anti-AKW- und Abrüstungsdemos bis hin zu ökologischen Themen, für die man sich damals zu interessieren begann. Und Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre dann schließlich auch über die Hausbesetzerbewegung.

„Gegenlicht“ war der Verleih der Bewegungs-Filmer. Welches Selbstverständnis hatten Sie?

Wir sahen uns als Gegenöffentlichkeit. Wir waren breit aufgestellt, was Super 8 anging. Wir haben auch Experimentalfilme und Satiren verliehen, aber die politischen Bewegungsfilme waren zentral. Anfangs haben die Gruppen ihre Filme noch selber verliehen, das war viel Aufwand. Wir hatten eine gemeinsame Zeitung und irgendwann war klar, wir brauchen auch einen gemeinsamen Verleih. Die stärkste Gruppe war in Berlin. Und die Berliner haben gesagt, wir machen den Verleih.

Kurz bevor Klaus-Jürgen Rattay ums Leben kam, hatte Innensenator Lummer in dem geräumten Haus Bülowstraße 89 eine Pressekonferenz abgehalten. Was haben Sie davon mitbekommen?

Ich wollte mich gerade auf den Heimweg machen, weil die Räumungen abgeschlossen zu sein schienen. Dabei kam ich an der Bülowstraße vorbei und erfuhr von der Pressekonferenz in dem geräumten Haus. Lummer hatte sich dort in Siegerpose präsentiert und seinen Erfolg verkündet. Ich stand unten vor dem Haus in einer Menschenmenge mit vielleicht hundert Personen. Wenig später gab es überraschend einen Polizeieinsatz. Die Leute vor dem Haus hatten Sprechchöre gerufen und wurden von der Polizei Richtung Potsdamer Straße getrieben. Den Einsatz sieht man auf dem Film.

Die Menschen wurden in den fließenden Verkehr getrieben, die Straße war nicht abgesperrt.

Die Ampel an der Potsdamer Straße standen noch auf Rot, als die vor der Polizei flüchtenden Menschen an der Kreuzung ankamen. Aber dann schaltete die Ampel auf Grün. Der BVG-Bus, der ganz vorne gestanden hatte, fuhr los und zog in die Mitte. Es waren viele Leute auf der Straße, auch Polizisten mit gezogenen Knüppeln. Es war sehr konfus.

Einer der Menschen war Rattay. Was ist passiert?

Es gibt Augenzeugen, die haben gesagt, Rattay habe mit erhobenen Armen versucht, den Bus anzuhalten, weil Leute auf der Straße saßen. Er ging davon aus, dass der Busfahrer reagiert und anhält.

Von dem Moment, in dem er vom Bus erfasst wird, gibt es kein Filmmaterial. Ihre Aufnahmen setzen Sekunden später ein. Es sind mehr oder weniger die einzigen. Zu sehen ist, dass der Bus mit dem Körper unter den Vorderrädern mit Tempo über die Kreuzung fährt und erst dahinter auf Höhe der Commerzbank stehen bleibt. Was haben Sie mit dem Film gemacht? Das war ja Beweismaterial.

Der BVG-Bus ist noch in Fahrt. Unter dem linken Vorderrad schleift er Klaus-Jürgen Rattay mit sich Foto: Gerhard Schuhmacher

Ich stand mittendrin und habe die Kassette noch abgedreht, man hatte drei Minuten pro Film. Es gab sofort Tumulte um den Bus herum und Polizeiangriffe, denen man ausweichen musste. Ich war vor Ort, bis die Feuerwehr kam und die Leiche abtransportiert wurde. Danach musste ich zusehen, dass ich den Film ganz schnell entwickelt bekam. Das bedeutete, ihn zu Kodak nach Stuttgart zu bringen.

Sind Sie da selbst mit dem Auto hingefahren?

Ich habe ihn per Eilbote einem Freund in Tübingen geschickt. Der ist damit zum Sonderservice von Kodak. Er hat dort auf die Entwicklung gewartet und ihn mir dann zurückschickt. Das Ganze hat zwei, drei Tage gedauert. Ich habe in der Zeit mit niemandem darüber gesprochen. Es hätte ja sein können, dass alles schwarz ist aufgrund irgendeiner Fehlschaltung. Aber dann habe ich gesehen, dass alles okay ist und es wahrscheinlich ein wichtiger Beitrag ist. Zu dem Zeitpunkt war die Medienmaschinerie ja schon voll im Gange, allen voran die Springer-Presse.

Welchen Tenor hatte die Berichterstattung?

BZ und Bild schrieben, Rattay sei auf die Stoßstange des Busses gesprungen und habe mit einem Stein die Frontscheibe eingeschlagen – dabei wäre der Busfahrer unter Schock weitergefahren. Das konnte widerlegt werden: An dem Bus war oberhalb der Stoßstange eine deutliche Delle zu sehen; es war klar, dass diese vom Zusammenprall mit einem Körper stammen musste. Damit war diese Angriffsvariante obsolet.

Letztlich wurde der genaue Hergang nie geklärt.

Das ist richtig. Es gibt aber auch keinen einzigen Zeugen, der diese Variante mit dem Sprung auf die Stoßstange des Busses geschildert hat. Ich habe später von dem Anwalt der Familie Rattay den Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft in Kopie bekommen, daraus geht das hervor.

Lassen Sie uns noch einen Moment bei Ihrem Film bleiben. Was haben Sie als Nächstes unternommen?

Ich bin mit dem Film zum Ermittlungsausschuss, der sich um den rechtlichen Beistand kümmerte, wenn Hausbesetzer festgenommen worden waren. Dort hat man mir eine Adresse gegeben und ich traf das Team von Stefan Aust.

Stefan Aust arbeitete damals als Redakteur für das NDR-Magazin „Pa­no­rama“.

Er war an meinem Film sehr interessiert. Im Gespräch erfuhr ich auch, dass er am 21. September zufällig ein Interview mit Klaus-Jürgen Rattay gemacht hatte, also am Tag vor dessen Tod.

Sie haben Aust den Film dann überlassen.

Wir Super-8-Filmer waren gegenüber dem Fernsehen kritisch eingestellt. Es gab damals nur die öffentlich-rechtlichen Sender und die waren noch sehr konservativ. „Panorama“ war eine Ausnahme. Ich hatte Vertrauen, dass Aust objektiv berichten würde. In einem Studio wurde der Super-8-Film dann an eine Wand projiziert und von einer Fernsehkamera abgefilmt. Im Gegenzug hat Aust für „Gegenlicht“ das höchste Honorar zugesagt, das der Sender nur in Ausnahmefällen bezahlte. Es war eine kooperative Zusammenarbeit. Wir haben aus dem Rattay-Film dann einen Kurzfilm gemacht und 15 Kopien gezogen. Die wurden überall gezeigt, auch in Westdeutschland.

Wer war die Zielgruppe?

Die Alternativbewegung existierte ja bundesweit. In allen Großstädten wurden Häuser besetzt. Es gab noch nie so eine große Jugendbewegung in der deutschen Geschichte. Es war einzigartig, dass die Jugend einen derartigen Einfluss nimmt.

Am 29. September 1981 lief der Film in voller Länge bei „Panorama“. Die Sprengkraft war gewaltig.

Das Thema hat damals alles bestimmt. Es gab permanente Straßenschlachten. Schon am Abend nach dem Tod von Rattay waren Tausende von Leuten unterwegs. Wochenlang ging das so. Immer wieder wurde der Todesort besetzt, immer wieder vertrieb die Polizei die Leute mit Knüppel. Es gab martialische Szenen auf beiden Seiten.

Es wurden zum Teil schlimme Legenden verbreitet.

Das war ein Kampf auf allen Ebenen. Bei der Polizei kursierte in der Nacht nach Rattays Tod das Gerücht, ein Polizist wäre erstochen worden. Auf der Demonstration habe ich mit einem Jugendlichen gesprochen, der hatte eine geladene Pistole dabei. Er hat gesagt, ich lasse mich von denen nicht verprügeln. Ich habe gesagt, du gehst sofort nach Hause und bringst dieses Ding weg.

Sie sprechen hörbar badischen Dialekt. Wie lange lebten Sie damals schon in Berlin?

Ich komme aus einer sehr ländlichen Gegend in der Nähe von Waldshut in Südbaden. Dort wohne ich inzwischen auch schon lange wieder. 1973 – ich war damals gerade 20 Jahre alt geworden – bin ich direkt von der Bundeswehr zum Studium nach Westberlin. Man musste einfach raus aus diesem ländlichen Milieu.

Viele Westdeutsche sind damals vor der Bundeswehr nach Berlin abgehauen; wer dort lebte, wurde nicht eingezogen. Warum haben Sie den Wehrdienst gemacht?

Ich habe gedacht, den zieht man halt durch (lacht). Aus meinem Dorf sind damals mindestens zehn Leute nach Berlin. Das war ein unglaublicher Zustrom in den 70er Jahren. Die Universitäten waren freigekämpft von den 68ern. An der Freien Universität habe ich Publizistik – Tendenz Film – studiert. In Berlin konnte man alles selbst bestimmen. Ein Bekannter hat hier eine Autowerkstatt gegründet; man konnte preiswert eine Altbauwohnung mieten. Aber dann kam der Kahlschlag und die Flächensanierung und die Häuser wurden blockweise abgerissen.

Das war die Geburtsstunde der Hausbesetzerbewegung. 1981 gab es in Berlin rund 170 besetzte Häuser. Haben Sie auch in einem gelebt?

Nein (lacht). Ich hatte eine Berlinerin kennengelernt, die hat uns eine Wohnung besorgt. Aber ich habe mich immer als Teil der Alternativbewegung gefühlt.

Die Fronten zwischen Senat und Hausbesetzern waren damals vollkommen verhärtet. War der Tod von Rattay in dem Sinne ein Wendepunkt, dass er die Bereitschaft zur Aufnahme von Verhandlungen zur Legalisierung von Häusern gefördert hat?

Auf jeden Fall. Für alle Seiten war das ein Schock, das war deutlich zu spüren. Es gab dann eine von Vermittlern wie dem evangelischen Bischof Kruse angeführte Friedensinitiative.

Sie sind heute 68 Jahre alt. Was für ein Stellenwert hatte dieser Todesfall für Sie selbst?

Polizist vor dem BVG Bus, unter dem Klaus Jürgen Rattay liegt Foto: Gerhard Schuhmacher

Er war entscheidend für meinen weiteren Lebensgang. Als Dokumentarfilmer habe ich einige Filme gemacht, aber dieser Film hat eine besondere Bedeutung. Gerade vor dem Hintergrund, dass nie abschließend geklärt wurde, was wirklich passiert ist.

Es ist nie jemand dafür verurteilt worden.

Die BVG hat den Busfahrer abgeschirmt. Der Anwalt von Rattays Familie hat gesagt, dass es lange nicht möglich war, seinen Namen in Erfahrung zu bringen. Auch das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht hat sich jahrelang hingezogen. Erst 1984 wurde der Polizeieinsatz als rechtswidrig eingestuft. Das Hauptargument war, dass die Potsdamer Straße entgegen der Vorschrift nicht abgesperrt war. Aber wer den Einsatz angeordnet hat, ist unklar geblieben. Es gab die Vermutung, Lummer habe ihn ausgelöst, damit er bei seiner Pressekonferenz in dem geräumten Haus Ruhe hat. Zu der Verhandlung war ich auch noch mal mit dem Film geladen.

Sie sind auch derjenige, der Klaus-Jürgen Rattays Wikipedia-Eintrag vervollständigt hat. Warum ist Ihnen das wichtig?

Vieles an dem ersten Eintrag war falsch, ich habe das dann nach und nach ausgebaut. Auch durch das Interview, das Stefan Aust am Tag vorher mit ihm geführt hat, ist er mir nahegekommen. Das war kein Verbrechertyp, zu dem ihn die Springer-Presse und andere Medien zu stilisieren versuchten. Das war ein relativ harmloser junger Mann, der nach Berlin gegangen ist, weil er dort alles toll fand. Er war mir nicht unsympathisch.

In Rattays Leichenbegleitschein war als Berufsbezeichnung „berufsmäßiger Chaot“ eingetragen.

Das kennzeichnet die Denke dieser Zeit. Das war noch eine andere Gesellschaft, da waren auch noch sehr viel Nazis in den Behörden präsent.

Es scheint wenig Filme aus der Hausbesetzerzeit Anfang der 80er Jahre zu geben. Wissen Sie noch von anderem Material?

Als Filmverleiher habe ich mir immer gedacht, dass ich alle Filme kenne, Super-8-Filme, aber auch die anderen. Es gab noch einen 16-mm-Film, den ein paar Leute von der Filmakademie damals gedreht haben. Und die ersten Videos, das ging dann ja allmählich los. Im Nachhinein habe ich aber erfahren, dass mit mir noch vier oder fünf Jungs die Hausbesetzerzeit dokumentiert haben. Es gibt also ein breites Spektrum, das noch in den Schubladen liegt.

Das heißt, jemand müsste diesen Schatz mal heben?

Genau das ist mein Ziel. Ich bin derjenige, der am meisten Zeit hat, daraus einen Film zu machen. Die anderen sind familiär und beruflich eingebunden. Aber sie haben zugesagt, dass ich das Material bekomme. Die Rechte übertragen – mündlich mit Handschlag –, mehr braucht es eigentlich nicht. Natürlich wird die Rattay-Sequenz in diesem Film einen wichtigen Raum einnehmen, die Hausbesetzer auch. Im Grunde genommen geht es mir um die Gesamtdarstellung der Alternativbewegung. Es war ja alles miteinander verflochten. So einen Film zu machen war schon lange vor Corona mein Vorhaben. Aber ich bin jetzt froh, dass es damals nicht gelang.

Wieso das?

Wir haben jetzt haben eine andere Situation. Die Jugend interessiert sich plötzlich wieder für diese Zeit. Und die Protagonisten von damals sind auch noch da. Diese Generation 60plus, die gibt es ja noch fast vollständig. Sie weiß auch nur zum geringen Teil, dass es diese Filmaufnahmen gibt. Das habe ich gemerkt, als ich in Kreuzberg Vorführungen mit dem Super-8-Material gemacht habe. Da war das Staunen groß.

Sind Sie oft in Berlin?

So oft wie möglich. Ich lebe in einem Dorf mit gerade mal 150 Einwohnern. Aber ich habe mich in Süddeutschland nie wieder richtig festgesetzt, im Sinne von eine Familie zu gründen oder so. Ich wusste, ich muss immer wieder nach Berlin und das kann auch länger sein.

Hat das mit Rattay und dem geplanten Film zu tun?

Ganz sicher. Mein ganzes Archiv liegt auch in einem professionellen Store in Berlin.

In welchem Zustand sind Ihre Filme?

Digitalisiertes Super 8, wenn es von Kodak stammt, besitzt eine hervorragende Qualität. Wenn man das heute auf Monitoren abspielt, ist das viel besser, als man es von früher in Erinnerung hat. Das Material ist auch kinofähig und es gibt noch eine Besonderheit: Wenn Super 8 läuft, weiß jeder, das ist authentisch, da stimmt alles, nichts ist manipuliert.

Die Szene, wo Rattay von dem Bus mitgeschleift wird, ist ohne Ton. Liegt das daran, dass man bei Super 8 Ton und Bild nicht parallel aufnehmen konnte?

Ja, aber diese Szene muss keinen Ton haben. Da reicht das Bildmaterial.

Da, wo wo der Bus auf der Potsdamer Straße zum Stehen kommt, gab es mal ein Denkmal für Klaus-Jürgen Rattay. Was wissen Sie über dessen Verbleib?

Es ist bei Bauarbeiten auf dem Gehweg versehentlich zerstört worden. Ich bin auch immer wieder dahin, habe dort reflektiert und mir das alles noch mal angeguckt. Das ist auch so ein Zeichen.

Wie meinen Sie das?

Dass ich doch stark berührt bin, dass ich den Tod gefilmt hab.

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Ich gehörte zu den Demonstranten vor dem Gebäude, habe aber als Augenzeugin einige Einzelheiten anders in Erinnerung.



    Nach der Feldherrnpose des Innensenators gab es einzelne Pflastersteinwürfe aus der Menge der vor dem Haus Demonstrierenden.



    Daraufhin wurden die Demonstranten von der Polizei in Richtung Bülowstraße getrieben. Die Pflastersteinbewehrten warfen weiter und heftiger. Die Strecke zur Potsdamer Straße war sehr kurz, dort rollte der normalen Berliner Verkehr.



    Demonstranten waren also gezwungen, abrupt umschalten, "Lummer raus aus unserem Haus" wurde ja mitten auf der Straße skandiert, anschließend war man aber wieder Verkehrsteilnehmer einer der lebhaftesten Berliner Kreuzungen.



    Einzelne preschten auf die Kreuzung vor und warfen im Sprung weiter Steine, jetzt über die Gruppe der anderen Demonstrierenden, die in Richtung Potsdamer Straße strömten, darunter auch Leute mit Kindern.



    Dabei drehten sie dem anrollenden Verkehr der Gegenseite den Rücken zu. Für mich sah es so aus, als hätten sie in ihrem Eifer gar nicht wahrgenommen, dass sie sich mitten im Verkehr befanden.



    Einer wurde im Sprung vom linken Vorderrad des anrollenden Buses der Gegenseite, d.h. Fahrtrichtung Norden, erfasst. Ich sah, wie sein Körper zunächst einmal quasi von hinten um das Vorderrad gedreht wurde und danach vor dem Rad mit dem Bus mitgeschleift wurde.



    Das Schockbild dieser "Räderung" auf dem großen Busrad werde ich nie vergessen.



    So etwas kann keiner überleben, dachte ich.



    Um mich herum ging das Gezerre zwischen Demonstranten und Polizei weiter, als wäre nichts geschehen.



    Ausgesprochen deprimiert verließ ich das Geschehen. Nachmittags erfuhr ich, dass es einen Toten gegeben hatte. Bis dahin waren für mich wie für die meisten anderen Hausbesetzungen vor allem ein aufregender großer Spaß.

    Nach meiner Beobachtung hatte der Busfahrer den Unfall nicht mal unbedingt wahrnehmen müssen, die Busfenster waren damals kleiner, das waren nicht so Panoramafenster wie heute.

    • @Calliope:

      Die Beschreibung des Zusammenpralls ist zu bedenken und das mit den Steinen erstaunlich. Denn ich war von Anfang (vorm Haus), im Tumult beim Einsatz und als Fliehender zur Potsdamer, unter der Brücke stehend, dann unmittelbar am Bus - mittendrin! Und habe keinen Stein fliegen gesehen und nur einmal gehört: vermutlich das Krachen, als die Frontscheibe des Busses eingeworfen wurde. Das ist bestätigt und so bleibt der Zwiespalt um den Fahrer. Auch Bedenken, dass kurze Zeit wegen der Ampelschaltung kein Verkehr auf der Kreuzung war.

  • Vielen Dank!

    Sehr bewegend. Ich war zwar damals nicht dabei, dennoch ist mir das Geschehene sehr präsent, wenn ich an der Stelle vorbeikomme, wo das alles passiert ist.

    Genauso ist es, wenn mich mal ins Gallus in Frankfurt verschlägt, wo Günter Sare 1985 bei einer antifaschistischen Demonstration von einem Wasserwerfer überrollt und getötet wurde.

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "CDU-Innensenator Heinrich Lummer hatte erklärt, dass er die Hausbesetzerbewegung zerschlagen werde. " Dies tat er dann auch tatkräftig.



    Er war einer der härtesten Law & Order Politiker mit einer samten Stimme, die sehr an Ronald Reagan erinnert.

    Danach folgte Wilhelm Kewenig (CDU), ein Kölner. Die Kaderschmiede des Terrorismus nannte er die Fachhochschule für Wirtschaft. Völlig absurd.



    "Aussagen wie „am Tatort muss die Pressefreiheit schon mal zurücktreten“ waren Anlass für Kritik durch Opposition und Medien. In der Zeit als Innensenator überstand er drei Misstrauensanträge.(Wikipedia)"