25 Jahre Le Monde diplomatique: Alarm im Cyberspace!

1995, im Geburtsjahr des Internet Explorer 1.0, macht sich ein Philosoph Gedanken über die gesellschaftlichen Folgen der virtuellen Globalisierung.

Person hängt über altmodischem Computer

„Internet Cafe“ auf der CeBIT 1996 Foto: Wolfgang Weihs/dpa

Das Phänomen der Unmittelbarkeit, der Instantaneität, ist eines der wichtigsten Probleme, die sich heute sowohl den politischen wie den militärischen Strategen stellen. Die Echtzeit triumphiert über den realen Raum und die Geosphäre. Der Vorrang der Echtzeit vor der Ausdehnung des Raums ist eine vollendete Tatsache, die eine neue Ära einleitet. Das läßt sich beispielsweise an einer Werbung für Handys ablesen: „Die Erde war noch nie so klein“. Ein äußerst folgenreiches Ereignis, das das Verhältnis zur Welt und das Weltbild ganz wesentlich verändern wird.

Es gibt drei Mauern: die des Schalls, die der Wärme und die des Lichts. Die beiden ersten wurden durchbrochen. Die Schallmauer vom Überschallflugzeug. Die Wärmemauer der Atmosphäre von der Rakete, die es den Menschen erlaubt, die Erdumlaufbahn zu verlassen und auf dem Mond zu landen. Die dritte Mauer, die des Lichts, wird nicht durchbrochen, sondern man begibt sich in sie hinein. Dieser Zeitmauer sieht sich die Geschichte heute konfrontiert.

Die Tatsache, daß die Mauer des Lichtes, der Lichtgeschwindigkeit erreicht wurde, ist ein historisches Ereignis, das die Geschichte und das Verhältnis des Menschen zur Welt völlig durcheinanderbringt, sie ist ein Ereignis, das uns desorientiert. Wer dies nicht klar sagt, betrügt oder desinformiert die Bürger. Es geht um eine entscheidende Tatsache, die die Geopolitik und Geostrategie in Frage stellt, und selbstverständlich auch die Demokratie, die immer an einen Ort, an eine Stadt gebunden war.

Was sich mit dieser absoluten Geschwindigkeit für das 21. Jahrhundert ankündigt, ist die Erfindung einer Perspektive der Echtzeit. Diese könnte die Perspektive des realen Raums ersetzen, wie sie im 15. Jahrhundert von den italienischen Künstlern entdeckt wurde. Man ist sich nicht bewußt, wie sehr damals die Stadt, die Politik, der Krieg und die Ökonomie der mittelalterlichen Welt durch die Erfindung der Perspektive erschüttert wurden. Der Cyberspace ist eine neue Form von Perspektive.

Neue taktile Perspektive

Wir haben es hier nicht nur mit der visuellen und auditiven Perspektive zu tun, wie wir sie alle kennen, sondern mit einer neuen Perspektive, für die es keinerlei Vorbild gibt: mit einer taktilen Perspektive. Aus Distanz zu sehen oder zu hören, war die Grundlage der visuellen und auditiven Perspektive. Aber in der Distanz zu berühren und zu fühlen bedeutet, die Perspektive auf einem Gebiet einzuführen, das ihr bislang verschlossen blieb: auf dem des Kontakts, des Telekontakts.

Die Entwicklung der Datenautobahnen konfrontiert uns mit einem neuen Phänomen: dem der Desorientierung. Es handelt sich dabei um eine ganz grundlegende Desorientierung, die zur Deregulierung des Sozialen und der Finanzmärkte, deren unselige Folgen wir bereits kennen, hinzukommt und sie vollendet. Das Reale läßt sich kaum noch vom Virtuellen unterscheiden. Wir bewegen uns auf eine Verdoppelung der sinnlichen Realität zu, auf eine Art Stereo-Realität. Das Sein verliert seine Bezugspunkte. Sein heißt in situ sein, hier und jetzt, hic et nunc. Genau diese Verortung aber wird vom Cyberspace und der globalisierten Realzeit-Information erschüttert.

Was sich hier ankündigt, ist eine traumatische Störung unserer Wahrnehmung des Realen. Und dafür sollte man sich interessieren. Warum? Weil es noch bei jeder neuen Technik darum gegangen ist, ihre negativen Auswirkungen zu bekämpfen. Die wichtigste negative Auswirkung der Datenautobahnen besteht eben gerade in der Desorientierung, was das Sich-Gegenüberstehen, das Verhältnis zum anderen und das Verhältnis zur Welt betrifft. Es liegt auf der Hand, daß diese Desorientierung, diese traumatische Ent-Ortung, nach den Individuen auch die Gesellschaft und damit die Demokratie heimsuchen wird.

Die repräsentative Demokratie wird sich der Tyrannei der absoluten Geschwindigkeit erwehren müssen. Wenn Essayisten begeistert von „Cyber-Demokratie“ oder virtueller Demokratie reden, wenn andere uns sagen, daß die „Demokratie der Meinungsumfragen“ die Demokratie der Parteien ersetzen wird, ist dies bloß ein weiteres Symptom jener Desorientierung im politischen Bereich, von der uns im März 1994 Silvio Berlusconis Medienputsch in Italien einen Vorgeschmack gab. Die neuen Technologien aber werden die Herrschaft der Einschaltquoten und der Meinungsumfragen fördern.

Allein schon der Begriff „Globalisierung“ ist trügerisch. Nicht Globalisierung, sondern eine Virtualisierung findet statt. Denn das, was das Augenblickliche wirklich globalisiert, ist die Zeit. Die Echtzeit bewirkt, daß sich von nun an alles in einer einzigen Zeit abspielt.

Zum ersten Mal also wird sich Geschichte in einer einzigen Zeit abspielen: in der Weltzeit. Bisher fand Geschichte in lokalen Zeiten, in lokalen Räumen, in Regionen und Nationen statt. Globalisierung und Virtualisierung aber führen eine Weltzeit ein, in der sich ein neuer Typus von Tyrannei andeutet. Unsere Geschichte ist darum so reich, weil sie lokal ist, weil es immer lokale Zeiten gab, während die universelle Zeit nur in der Astronomie existierte. Morgen aber wird sich unsere Geschichte in der neuen universellen Zeit des Augenblicklichen abspielen.

Bisher fand Geschichte in lokalen Zeiten und Räumen statt

Einerseits triumphiert die Echtzeit über den realen Raum; die Distanzen und die Ausdehnung verschwinden auf Kosten der – unendlich kurzen – zeitlichen Dauer. Andererseits dominiert die Weltzeit von Cyberspace und Multimedia die lokalen Zeiten des Alltagslebens in den Städten und Stadtvierteln. Und zwar so sehr, daß man davon spricht, den Ausdruck global durch glocal zu ersetzen, eine Zusammenziehung aus global und lokal. Man ist der Meinung, daß das Lokale zwangsläufig global und das Globale zwangsläufig lokal ist. Eine derartige Dekonstruktion des Bezugs zur Welt wird für die Beziehungen der Bürger untereinander nicht folgenlos bleiben.

Es gibt keinen Gewinn ohne Verlust. Auch zu den Errungenschaften, die wir der Informatik und der Telematik verdanken, wird notwendigerweise ein Verlust gehören. Wenn wir den Verlust nicht richtig einschätzen, wird das Erreichte wertlos sein. Diese Erfahrung machte man bei der Entwicklung der Transporttechnologien. Wenn es heute Hochgeschwindigkeitszüge gibt, so dank der Eisenbahningenieure, die bereits im 19. Jahrhundert das Blocksystem erfanden, ein Signalsystem zur Steuerung des Verkehrs, das hohe Geschwindigkeiten zuläßt, ohne daß es zu Katastrophen kommt. Beim heutigen Datenverkehr fehlt hingegen ein Steuerungssystem.

Dieser Artikel stammt aus der Sonderbeilage „26 Texte aus 25 Jahren“, die am 7. Mai Le Monde diplomatique beiliegen wird. Zum Jubiläum gibt es außerdem ein besonderes Abo: Zeitung, App und Audio für 25 Euro im ersten Jahr. Jetzt bestellen unter: monde-diplomatique.de/abo25.

Und: Es gibt keine Information ohne Desinformation. Künftig könnte es eine Desinformation neuen Typs geben, die nichts mit absichtlicher Zensur zu tun hat: Es handelt sich um eine Art Erstickung des Sinnes, eine Art Kontrollverlust der Vernunft. Darin liegt, verursacht durch die Informatik und Multimedia, eine weitere große Gefahr für die Menschheit.

Darauf wies Albert Einstein übrigens schon Anfang der fünfziger Jahre hin, als er von der „zweiten Bombe“ sprach. Nach der Atombombe die Datenbombe. Eine Bombe, bei der die Interaktion in Echtzeit für die Information das ist, was die Radioaktivität für die Energie. Der Zerfallsprozeß betrifft nicht mehr nur die Elementarteile, aus denen die Materie besteht, sondern auch die Personen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Erste Kostproben davon liefern die strukturelle Arbeitslosigkeit, die Telearbeit und die Verlagerung von Produktionsstätten.

Nach der Atombombe die Datenbombe

So wie die Atombombe sehr rasch ein System der militärischen Abschreckung erforderlich machte, um die nukleare Katastrophe zu verhindern, so wird die Datenbombe im 21. Jahrhundert eine neuartige Abschreckung erforderlich machen, eine gesellschaftliche Abschreckung, um sich gegen die Schäden der allgemeinen Informations-Explosion zu wappnen. Diese Explosion wird der künftige GAU sein, der die Serie typischer Unfälle des industriellen Zeitalters erweitert. (Als der Zug, das Flugzeug, das Schiff und das Kernkraftwerk erfunden wurden, „erfand“ man gleichzeitig die Entgleisung, den Absturz, den Schiffbruch und die Havarie von Tschernobyl...)

Mit der fortschreitenden Globalisierung der Telekommunikation muß man sich auf einen Generalunfall gefaßt machen, auf einen noch nie gesehenen Unfall, ebenso überraschend wie die Weltzeit, diese noch nie gesehene Zeit. Auf einen Generalunfall, der ein wenig dem gleichen könnte, den Epikur den „Unfall der Unfälle“ nannte. Der Börsenkrach gibt einen kleinen Vorgeschmack davon.

Wie der Generalunfall aussehen wird, wissen wir noch nicht. Doch wenn man in der Wirtschaft von „Seifenblasen der Spekulation“ spricht, verwendet man eine bezeichnende Metapher, denn der Ausdruck läßt einen an eine Wolke denken, die andere Wolken in Erinnerung ruft, beunruhigende, wie die von Tschernobyl...

Revolution auf militärischem Gebiet

Stellt man sich die Frage der Unfallrisiken auf den Datenautobahnen, so geht es nicht um die Informationen, sondern um die absolute Geschwindigkeit, mit der sie übertragen werden: Es geht um die Interaktion. Nicht die Informatik, sondern die Telematik wirft die Probleme auf. In den USA spricht das Pentagon, der Erfinder des Internet, in dieser Hinsicht bereits von einer wahren „Revolution auf militärischem Gebiet“. Und sogar von einem „Wissenskrieg“, der den Bewegungskrieg verdrängen könnte, so wie dieser einst den Belagerungskrieg verdrängte, der in Sarajevo einen tragischen Atavismus darstellt.

Als General Eisenhower 1961 das Weiße Haus verließ, erklärte er, daß der militärisch-industrielle Komplex „eine Gefahr für die Demokratie“ sei. Er wußte, wovon er sprach, da er an seiner Entwicklung maßgeblich beteiligt war. Heute, 1995, entsteht vor unseren Augen ein industriell-informationeller Komplex, und einige führende Politiker Amerikas, insbesondere Ross Perrot und Newton Gingrich, sprechen von „virtual democracy“ in einem Ton, der an mystischen Fundamentalismus gemahnt. Wie sollte man da nicht alarmiert sein? Wie sollte man da nicht die Gefahr einer tatsächlichen sozio-politischen Kybernetik wittern?

Die Technologien der Virtualisierung besitzen eine unvergleichliche Suggestivkraft. Neben dem alten Drogenkapitalismus, der ein destabilisierendes Element der Weltwirtschaft darstellt, bildet sich ein Drogenkapitalismus der elektronischen Medien heraus.

Man kann sich sogar fragen, ob die entwickelten Länder ihre Technologien der Virtualisierung nicht mit dem Ziel entwickeln, den unterentwickelten Ländern, die, vor allem in Lateinamerika, mehr schlecht als recht vom Drogenhandel leben, das Wasser abzugraben. Wenn man sieht, wie sehr die Spitzentechnologien gerade im „Game-Bereich“ Anwendung finden (Videospiele, Cyberspacehelme und so weiter), fühlt man sich da nicht an Techniken erinnert, mit denen schon früher die Bevölkerung unterdrückt und bei Laune gehalten wurde?

Eine Art „Cyberkult“ kündigt sich an. Die neuen Technologien werden jedoch nur dann zur Verbesserung der Demokratie beitragen können, wenn wir zunächst jenes Zerrbild von Weltgesellschaft bekämpfen, das den multinationalen Konzernen vorschwebt, die mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit den Bau der Datenautobahnen vorantreiben.

Aus dem Französischen von Andreas Knop

Dieser Text erschien im August 1995 in LMd.

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