20 Jahre Völkermord in Srebrenica: Der Deal mit dem Hass
Über 8.000 Menschen wurden 1995 in Srebrenica von serbischen Militärs ermordet. Unser Autor war nah dran. Glauben wollte man ihm erst nicht.
Es ist der 11. Juli 1995: Der bosniakisch-kroatische Krieg war seit einem Jahr beendet. Und in Mostar, der herzegowinischen Hauptstadt, die in den vergangenen Jahren mal von Serben, dann wieder von Kroaten umkämpft war, heiratete Tatjana, eine Freundin, einen holländischen Polizeichef. Wir wollten mit dem Paar auf einer sonnigen Terrasse unterhalb der zerstörten alten Brücke mit Blick auf das grünliche Wasser der Neretva feiern. Nur noch die Enden der Alten Brücke ragten aus dem Stein, sie schärften das beeindruckende Panorama, das die halb zerstörte und nun zwischen Bosniaken und Kroaten geteilte Stadt bot. Und sie passten zu den schlimmen Nachrichten: Serbische Kampfverbände griffen erneut bosnische Landesteile an.
Deshalb hatte ich am Vortag die Radioamateure in Ostmostar, dem bosniakischen Teil Mostars also, besucht und erfahren, dass die Lage in der Enklave Srebrenica immer brenzliger wurde. Weil es in weiten Landesteilen weder Strom noch Telefon gab, waren die Radioamateure die Einzigen, die noch Nachrichten aus den von serbischen Truppen bedrohten und von der UN als „Save Haven“ – sichere Häfen – deklarierten Enklaven Žepa, Goražde, Bihać und Srebrenica bekamen.
„Srebrenica ist bedroht, die Serben rücken von allen Seiten auf die Enklave vor“, hatte der Funker aus Srebrenica mit sich überschlagender Stimme geschrien. „Die holländischen UN-Truppen verteidigen uns nicht. Die Serben werden uns alle töten.“ Dann brach der Kontakt ab.
Ich schrieb sofort einen Artikel über die bedrohliche Lage in Srebrenica, wo über 40.000 Menschen, viele von ihnen Flüchtlinge, um ihr Leben fürchteten. Ich schickte den Text an die taz, doch die Redakteure hatten Zweifel und druckten ihn nicht.
Die Wirklichkeit in Berlin korrespondierte nicht mit meiner in Bosnien. Sollte doch wahr sein, was ich zuvor recherchiert hatte: dass es einen schmutzigen Deal zwischen den serbischen Nationalisten und der internationalen Gemeinschaft um Srebrenica gab? Es wurde eine quälende Nacht. Die Radioamateure Ostmostars empfingen weiter nur noch Rauschen aus Srebrenica. Das Morden hatte begonnen.
Noch am gleichen Tag beschloss ich in die von bosnischen Truppen verteidigte, 300 km entfernte Stadt Tuzla zu fahren, die Srebrenica am nächsten lag. Ich fuhr Richtung Sarajevo entlang der Neretva flussaufwärts, hinein in die Berge, wo es so schön war und so gefährlich. Wo nichts mehr war, wie ich es von vor dem Krieg kannte. Wo es den serbischen und kroatischen Nationalisten gelungen war, die jahrhundertealte multinationale Gesellschaft fast ganz zu zerschlagen.
Fluchtorte
Srebenica, aber auch die Städte Goražde und Žepa, waren Zufluchtsort für Überlebende der ethnischen Massaker in Ostbosnien 1992. In diesen Enklaven gelang es den Verteidigern sogar, bewaffnete Einheiten aufzubauen. Der aus Srebrenica stammende, kaum Zwanzigjährige ehemalige Leibwächter des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, Naser Orić, organisierte in der Stadt die Verteidigung gegen die serbischen Truppen.
Während des Dauerfeuers der serbischen Artillerie wurden in dieser Enklave Hunderte Menschen getötet, es herrschten Hunger und Verzweiflung. 1993 kam der UN-General Philippe Morillon nach Srebrenica. Er versprach Hilfe der UN, die Enklave wurde zu einem „Save Haven“ erklärt. Bedingung war, dass die bosniakischen Verteidiger ihre Waffen abgeben, was sie zögerlich taten. UN-Schutztruppen sollten einrücken, zuerst Kanadier, Anfang 1995 dann holländische Blauhelme.
Auf der Fahrt nach Tuzla ging mir auch durch den Kopf, wie ich im Februar 1995 dort Flüchtlinge aus Srebrenica getroffen hatte, die vergeblich davor warnten, dass die Serben ihre eroberten Gebiete in Bosnien und Kroatien miteinander verbinden wollten. Der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić wolle einen zweiten serbischen Staat gründen. Srebrenica und die anderen als sicher deklarierten Enklaven störten diesen Plan.
Als ich im April dann in der kroatischen Hauptstadt Zagreb war, sprach ich mit dem politischen Leiter der UN im ehemaligen Jugoslawien, Sasushi Akashi. Was er von Karadžić’ Vorschlag halte, fragte ich. „A very good idea“, antwortete er. Waren die Vereinten Nationen bereit, Karadžić nachzugeben?
Aus Kreisen der aus den USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland bestehenden Kontaktgruppe, die einen Friedensplan mit den „Kriegsparteien“ verhandeln sollte, erfuhr ich – unter dem Siegel der Verschwiegenheit –, dass ein Friedensabkommen vorsah, dass die Serben die Kontrolle über die Enklaven Srebrenica, Žepa und Goražde bekommen und dafür den Belagerungsrings um Sarajevo aufheben. Ins Bild passte, dass Naser Orić, der doch vorher die Verteidigung Srebrenicas organisiert hatte, ein paar Tage zuvor mit seinem Leuten aus der Enklave ausgeflogen worden war.
Mit solch bedrückenden Gedanken fuhr ich weiter auf den gefährlichen Wegen, die mancherorts in Reichweite der serbischen Artillerie lagen, durch Wälder und auf Feldwegen über Bergpässe nach Tuzla.
Dort sah ich, dass auf dem Flughafengelände Zelte aufgebaut, Wassertanks und Toiletten installiert sowie Essenpakete deponiert waren. Der UNHCR-Sprecher Chris Janowski machte ein bedrücktes Gesicht. „Erich, es ist grauenhaft. Wir erwarten die ersten Busse.“ Da kamen sie, voll mit Frauen und Kindern. Erschöpft ließen sie sich auf dem Rasen nieder. Manche weinten, andere tranken apathisch vom Wasser. „Sie haben uns von den Männern getrennt, ich weiß nicht, wo mein Mann, meine Brüder, mein Vater sind“, sagte eine Frau. Immer neue Busse trafen ein. Neuankömmlinge berichteten, sie hätten Schüsse gehört. „Bringen die unsere Männer um?“ Schließlich waren es Tausende, die erschöpft auf dem Rasen saßen. Die Frauen erzählten, dass die Männer versuchten, durch die serbischen Linien zu brechen und sich die 90 Kilometer bis ins befreite Gebiet durchzuschlagen.
Mit einer bosnischen Journalistin fuhr ich an die Front. Die bosnischen Soldaten wollten uns nicht durchlassen. Doch dann waren sie abgelenkt; aus dem Wald stürmten einige Männer – keine serbischen Soldaten, sondern Männer aus Srebrenica. Der erste war ein Polizist, ein durchtrainierter Mann. „Ich weiß nicht, wie viele der 15.000 durchkommen werden.“ Völlig erschöpft tranken sie vom angebotenen Tee. „Wir haben uns durchgekämpft, konnten einigen Serben die Waffen abnehmen. Sie haben uns mit Artillerie beschossen, Hinterhalte aufgebaut und versuchten unsere Kolonne zu trennen.“
Ich erfuhr zudem, dass zwei Wochen zuvor zehntausend Liter Benzin an die Serben geliefert worden waren. War das wahr? „Das Benzin war für die Busse“, zog ich Janowski, dem UNHCR-Sprecher, aus der Nase. Ein weiterer Beweis: Die Umsiedlung der Menschen aus Srebrenica war vorbereitet. Dass die serbischen Nationalisten unter Ratko Mladić jedoch drei Jahre nach 1992, als Zehntausende Zivilisten ermordet wurden, erneut alle wehrfähigen Jungen und Männer umbringen wollten, damit hatte niemand in der internationalen Gemeinschaft gerechnet.
Damals wusste ich noch nicht, dass in Srebrenica mehr als 8.000 Männer ermordet worden waren. Ich wusste auch nur wenig über die klägliche Rolle der niederländischen UN-Truppen, und ich wusste ebenfalls nicht, dass General Ratko Mladić vor dem Genozid erklärte: Das ist die Rache an den Türken für 1389. Er meinte die nach serbischem Verständnis verlorene Schlacht des serbischen Königs gegen das Osmanische Reich 1389.
Mein Bild von den Vereinten Nationen als Friedensmacht brach zusammen. Entscheidungsträger wie Sasushi Akashi, seine Berater und UN-Generäle wie Bernard Janvier und Rupert Smith, die einen Bombenangriff der Nato auf die vorrückenden Serben verhinderten, haben sich mitschuldig gemacht. Ich lernte, dass sie und andere für internationale Organisationen tätige Politiker für Fehler, die zu tausendfachem Mord führten, nicht verantwortlich gemacht werden können.
Fluchorte
Nach Srebrenica fiel noch Žepa. In Goražde bombardierten Nato-Flugzeuge die serbischen Stellungen schließlich. Goražde konnte sich halten.
Der im November unterzeichnete Teilungsplan von Dayton – fälschlicherweise „Friedensplan“ genannt – trug dem Ansinnen der serbischen Angreifer Rechnung. Die Belagerung Sarajevos wurde aufgehoben, Srebrenica und Žepa blieben in der serbischen Teilrepublik Republika Srpska. Die serbischen Nationalisten wurden für ihre Untaten mit der Kontrolle über 49 Prozent des Territoriums von Bosnien-Herzegowina belohnt.
Einige Monate später, im Februar 1996, ging ich hinter Srebrenica einen Abhang hinauf. Aus dem schmelzenden Schnee ragten unzählige Leichen, dort ein Bein, ein Kopf, da eine Hand. Mit Helfern der UN zusammen fand ich Kennkarten der Toten. Die Serben hatten sich nicht die Mühe gemacht, die Leichen zu bestatten. Es war entsetzlich. Entsetzlich auch das kaum unterdrückte Lachen bei den serbischen Polizisten, die uns begleiteten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter