150. Geburtstag von Marcel Proust: Auf der Suche war er von Anfang an
Von Marcel Proust, Autor der „Suche nach der verlorenen Zeit“, wurden frühe Erzählungen entdeckt. Schon sie zeigen, wie skrupulös er mit Sprache umging.
„Marcel Prousts Œuvre ohne die ‚Recherche‘, woraus hätte das bestanden? Aus einem kleinen Jugendwerk, ‚Les Plaisirs et les Jours‘, Ende des 19. Jahrhunderts erschienen […]. Aus Übersetzungen von Ruskin, nicht ohne Beziehungen zum kommenden Meisterwerk, weil zentriert auf die Kathedralen und das Lesen. Sonst nichts. Ein disparates Buch, ein Übersetzer und Schriftsteller.“
Diese Feststellungen trifft Luc Fraisse, seines Zeichens Literaturprofessor in Straßburg, in seiner Einleitung zu den frühen, aber spät entdeckten Erzählungen und Erzählfragmenten Prousts, die im französischen Original vor zwei Jahren erschienen sind und nun in der Übertragung von Bernd Schwibs auf Deutsch vorliegen.
Das würde im ersten Moment die längst überholte Lesart stützen, der junge Mann aus reichem Hause habe seine ersten Lebensjahrzehnte damit vertändelt, in den Salons und adligen Milieus zu verkehren als der Snob, der er auch war und dem wir deshalb in der „Recherche“ uneinholbare Einsichten in das Wesen des Snobismus verdanken, bis er sich aus der Welt zurückgezogen habe, um sein Hauptwerk zu schreiben.
Auf der anderen Seite zeigen gerade diese frühen Erzählungen, die zeitlich in den Umkreis von „Freuden und Tage“ (1896) gehören, dass schon der junge Marcel Proust Schriftsteller war, spätestens als 25-Jähriger, eher aber schon als 15-Jähriger und eventuell bereits im kindlichen Alter: nämlich in dem Moment, an dem die „Tage des Lesens“ begonnen hatten.
Der Grund, aus dem die vorliegenden Erzählungen nicht in „Freuden und Tage“ aufgenommen wurden, wird schnell offensichtlich, denn dann wäre, wie Fraisse richtig schreibt, „die Inszenierung der Homosexualität nach und nach zum Hauptthema des Werks geworden“. Besonders deutlich wird das in der Titelerzählung, denn der geheimnisvolle Briefschreiber, der Françoise einen Liebesbrief schreibt, ist realiter eine Briefschreiberin, ihre todkranke Freundin Christiane nämlich.
Der Autor verrät sich
Der Autor Marcel Proust verrät sich indirekt durch einen Beziehungsfehler, als Françoise ihren Beichtvater befragt: „Abbé, wenn ein Mann sich in eine Liebe für eine Frau, die einer (sic!) anderen gehört, verzehrte …“ Fraisse weist im Übrigen darauf hin, dass im Proust’schen Manuskript die Namen der beiden Protagonisten ständig vertauscht und korrigiert werden.
In der Erzählung „Erinnerung eines Hauptmanns“ (die 1952 schon einmal im Figaro littéraire veröffentlicht wurde) kehrt der Protagonist in die Garnisonsstadt seiner Zeit als Leutnant zurück und trifft auf seinen ehemaligen Burschen, mit dem er zehn Minuten vor dem Kasernentor plaudert, „von niemandem belauscht als von dem wachhabenden Gefreiten, der gegenüber dem niedrigen Eingang auf einem Eckstein saß und Zeitung las […] Er übte einen völlig rätselhaften Zauber auf mich aus, und ich begann, auf meine Worte und Gesten zu achten in dem Wunsch, ihm zu gefallen.“
Er registriert dann, dass auch der Gefreite ihn aufmerksam betrachtet und schließlich aufsteht und salutiert. „Selbstverständlich habe ich ihn nie wiedergesehen und werde ihn nie wiedersehen. Doch sehen Sie, inzwischen kann ich mich an das Gesicht gar nicht mehr recht erinnern, und dies kommt mir lediglich sehr schön vor an jenem warmen und hellen Ort im Abendlicht und zugleich ein wenig traurig ob seiner Rätselhaftigkeit und Unvollendetheit.“
Zauber des jungen Gefreiten
Den rätselhaften Zauber des jungen Gefreiten und die Rätselhaftigkeit der ganzen Szene, die der Erzähler betont, weisen darauf hin, dass er sich seiner eigenen homosexuellen Regungen nicht einmal bewusst ist – sein Autor dagegen schon.
Marcel Proust: „Der geheimnisvolle Briefschreiber“. Frühe Erzählungen. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp, Berlin 2021, geb., Abb., 174 Seiten, 28 Euro
Natürlich gibt es weitere Gründe, warum Proust diese Stücke nicht veröffentlicht und einige davon abgebrochen hat. Sie mögen mehrheitlich seinen eigenen ästhetischen Ansprüchen nicht genügt haben. Einige Faksimiles im Band zeigen den manischen Streicher, Korrekteur und Ergänzer Proust, der später bekanntlich mit seinen Korrekturen die Setzer zum Wahnsinn getrieben hat. In den Texten selbst sind sämtliche Varianten und interlineare Einfügungen wiedergegeben, die zeigen, dass Proust – und schon der frühe Proust – in der Suche nach dem mot juste Flaubert in nichts nachstand.
An die Erzählungen schließt sich der von Luc Fraisse verfasste Teil „An den Quellen von ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ “ an, der sich mit Nachlassdokumenten und Manuskripten aus den ersten Jahren der Entstehung der „Recherche“ beschäftigt.
Gesetze der Nachahmung
Interessant ist hier vor allem der erste Text mit dem Titel „Proust kannte den Soziologen Gabriel Tarde“. Tarde (1843–1904), der Rechtswissenschaft studiert hatte, war in seinen letzten sechs Lebensjahren Professor für Philosophie am Collège de France, hatte sein soziologisches Hauptwerk „Die Gesetze der Nachahmung“ aber schon in seiner Zeit als Richter in seiner Heimatstadt Sarlat geschrieben.
Zwei neu entdeckte Dokumente zeigen nun, dass er einerseits zum Umkreis von Prousts Vater gehörte, dass andererseits dessen Sohn Marcel am 7. Januar 1896 die Eröffnung einer Vorlesungsreihe an der École libre des sciences politiques als einer von 50 Zuhörern gehört und darüber voller Enthusiasmus eine handschriftliche Seite verfasst hat, die bei Fraisse wiedergegeben wird. Tardes Theorie beruhte auf den Begriffen „innovation“ und „imitation“.
In der „Recherche“ tritt das Phänomen erstmals deutlich im „kleinen Kreis“ von Madame Verdurin auf, wo alle Zugehörigen darum bemüht sind, den Habitus der Gastgeberin, der patronne nachzuahmen, was öfters zu hochkomischen Missverständnissen führt und uns daran erinnert, dass Proust ein ausgeprägt komischer Autor war.
Eibe frühe Influencerin
Auf einer gesellschaftlich höheren Ebene „kann sich die Duchesse de Guermantes, die ihrerseits den Ton im Faubourg Saint-Germain angibt, das erlauben, was der Soziologe eine „Gegen-Nachahmung“ nennt, das heißt, sich von den Gesetzen der Soziabilität, die man selbst angeregt hat, auszunehmen“, schreibt Fraisse. Ins Heute übersetzt, könnte man die Herzogin also als eine frühe und sehr erfolgreiche Influencerin betrachten, die ihrerseits weiter ist als ihre Follower.
„Es steht außer Zweifel, dass das gesamte Personal der ‚Recherche‘ und selbst noch die ästhetische Anschauung des Erzählers in unendlichen Variationen von dieser Theorie geprägt ist“, so Fraisse. Dem würde ich sofort zustimmen, denn fast jede Seite der „Recherche“ zeigt dem Leser, dass der junge Mann aus reichem Hause nicht verträumt in der Welt herumgetrödelt ist, sondern von Beginn an den soziologischen, den analytischen Blick hatte, der sich später in der „Recherche“ in der ironischen Grundstruktur und als großer Maskenball niederschlagen wird, konzentriert in der Matinee der Herzogin von Guermantes am Ende, deren Schilderung fast 200 Seiten umfasst.
Andere Kapitel aus Fraisse’ Quellenstudium heißen etwa „Chronik der Familie Swann“, „Die männlichen Vorbilder von Gilberte“, „Im Schatten junger Männerblüte“, „Die Geographie von Balbec“ und „Die Rufe in den Straßen von Paris“. Denn Proust hat sich in seiner kurzen Zeit in der Rue Laurent-Pichat 1919 vom Concierge A. Charmel (einer der Diener von Charlus wird in der „Recherche“ so heißen) die Rufe der Straßenhändler notieren und aufschreiben lassen.
Ein Eldorado also für Proustianer. Das heißt zugleich aber: als Einstieg in das Werk von Marcel Proust völlig ungeeignet und nachgerade abschreckend. Dafür gibt es nur einen Weg, und das ist die Lektüre von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wenigstens einmal, und wenn das Leben lange genug währt, auch zwei- oder dreimal.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut