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1.379 Tage Krieg in der UkraineWie ukrainische Städte aussterben

Im ostukrainischen Schachtarske hatten sich die Menschen an den Krieg gewöhnt. Doch ein Drohnenangriff im Oktober veränderte das Leben in der Stadt komplett.

Die menschenleere Stadt Kostjantyniwka in der Region Donezk liegt nur zwei Stunden von Schachtarske entfernt Foto: Oleg Petrasiuk/Ukrainian 24th Mechanized brigade/ap/dpa

N och Mitte Oktober erweckte die Kleinstadt Schachtarske den Eindruck eines von Gott gesegneten Ortes. Die Lage im Osten des Gebietes Dnipropetrowsk und die Nähe zur Front hatten in den letzten 4 Jahren nur wenig Einfluss auf das städtische Leben gehabt. Einige Dörfer in der Umgebung waren mehrfach bombardiert worden, Schachtarske aber blieb lange unbeschädigt.

Heute ist das Städtchen halbleer. Viele Familien sind nur noch da, weil es ihnen schwerfällt, von einem auf den anderen Tag alles zu verlassen, was ihnen wichtig ist. Manche planen zwar schon ihren Umzug, zögern den Abschied jedoch so lange wie möglich hinaus.

über leben

Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg zum Alltag geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden. ➝ zur Kolumne

An den Krieg gewöhnt

Schachtarske liegt nur 40 Kilometer von der Grenze zum Gebiet Donezk entfernt. Bis vor Kurzem lebten hier rund 30.000 Menschen, darunter über 8.000 Binnengeflüchtete. In der Stadt gab es zwei Kohlebergwerke, es mangelte nicht an gut bezahlten Arbeitsplätzen. Noch in diesem Jahr wurden neue Geschäfte und Cafés eröffnet.

Die Menschen hatten sich gewöhnt: an die wachsende Zahl der in der Stadt stationierten Soldaten und auch an den ständigen Lärm der Drohnen und das Donnern von der Front.

Als die russischen Streitkräfte das gut 70 Kilometer östlich gelegene Pokrowsk belagerten, stieg das Gefühl von Unsicherheit und Angst, auch aufgrund der eigenen Soldaten. Denn deren Sammelpunkte gelten als Ziele für russische Drohnenangriffe. Und viele der aus Pokrowsk rotierenden Soldaten mieten in Schachtarske Wohnungen.

Grygorij Palij

wurde 1978 in Tschernihiw geboren und ist in Krywyi Rih aufgewachsen. Später arbeitete er als Journalist und Kommentator in Donezk und Kyjiw. 2015/16 und 2022 meldete er sich zum Dienst in der Armee, nach der Demobilisierung ist er mit seiner Familie nach Berlin gezogen. Seitdem pendelt er hin und wieder zwischen Deutschland und der Ukraine.

Drohnenangriff mit Todesfolge

Und dann geschah es: In der Nacht auf den 19. Oktober wurde ein Mehrfamilienhaus in der Stadt gezielt von Drohnen angegriffen. Eine Frau starb später an den Folgen ihrer Verletzungen im Krankenhaus. In mehreren Häusern brannten Wohnungen aus. Gerüchte machten die Runde, viele glaubten, die ukrainischen Streitkräfte hätten selbst die Drohnen gestartet, um die Mietpreise zu senken. Das sind die Auswirkungen russischer Propaganda auf Social Media und der hybriden Kriegsführung.

Am 6. November wurde durch russische Luftangriffe ein wichtiges Umspannwerk in der Region zerstört. In vielen Orten, auch in Schachtarske, fiel der Strom aus. Rund 2.600 Bergarbeiter blieben in den Gruben eingeschlossen. Die Rettungsaktion dauerte mehrere Stunden.

Fast zwei Wochen gab es in Schachtarske dann kein fließendes Wasser und keine Zentralheizung mehr, Strom nur wenige Stunden pro Tag. Die Menschen begannen, den Ort zu verlassen. Ob die Wärmeversorgung je wieder funktionieren würde, war unklar.

Die Kämpfe im nahegelegenen Pokrowsk wurden immer heftiger. Aus Angst vor Angriffen auf die Heizwerke kündigten auch dort einige Mitarbeiter. Gerade zu dieser Zeit wurde der jüngste Korruptionsskandal in Kyjiw aufgedeckt. Das verstärkte Wut und Misstrauen der Bevölkerung.

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Heizung repariert, Bergwerke wieder in Betrieb

Zwar nahmen die Kohlebergwerke in Schachtarske den Betrieb wieder auf. Die Heizsysteme wurden repariert, ein russischer Durchbruch etwa 35 Kilometer südöstlich von Schachtarske wurde abgewehrt.

Dann stellte sich heraus, dass ukrainische Zivilisten, die von Russland angeworben worden waren, den russischen Drohnenangriff verursacht hatten. In dem bombardierten Haus hatten ukrainische Offiziere eine Wohnung gemietet und sie waren das eigentliche Ziel. Die ukrainischen Informanten wurden festgenommen.

Heute wird das Energiesystem im sogenannten West-Donbas mithilfe von Fachkräften aus der EU und Norwegen gestärkt. Die Ukraine benötigt Kohle für den kommenden Winter.

Wie eine Stadt ausstirbt

Doch das Stadtleben in Schachtarske hat sich drastisch verändert. Seit dem Herbst findet Schulunterricht nur noch online statt, viele Kinder sind weggezogen. Das Werk für die Wartung von Bergwerksanlagen wird bald in die zentrale Ukraine verlegt. Sollte die Ukraine gezwungen sein, das gesamte Gebiet Donezk aufzugeben, wären russische Truppen nur 40 Kilometer von der Stadt entfernt. Solche Aussichten wirken deprimierend.

Denn der Winter endet irgendwann, aber die gefährliche Nachbarschaft nie.

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