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1.288 Tage Krieg in der UkraineUrlaub vom Krieg

Unsere Autorin fährt im Sommer nach Finnland. Aber darf man sich im Krieg überhaupt eine Auszeit gönnen, während es anderen so viel schlechter geht?

Ruhe und Natur: In Finnland kann man sich erholen Foto: imago

W as tut man an freien Tagen? Klare Antwort: sich erholen. In den letzten vier Jahren sah das bei mir anders aus: ich habe in der Zeit Nebenjobs, Praktika oder Fortbildungen gemacht. Und sogar krank vom Bett aus weitergearbeitet.

Ich würde mich selber nicht als Workaholic bezeichnen, aber mir scheint, dass das Wort „Erholung“ in der Ukraine mittlerweile tabuisiert wird. Zu sagen, dass man eine Pause braucht, ist peinlich. Denn an der Front, in Hitze und Kälte, harren unsere Soldaten aus. In den frontnahen Städten und Dörfern schlafen die Menschen in feuchten Kellern. Und rund um die Uhr retten Sanitäter Leben.

Bild: privat
Yuliia Shchetyna

Ukrainische Journalistin und Produzentin aus der Region Cherson, 28 Jahre, lebt in Kyjiw. Master in Kulturwissenschaften. Seit 2022 arbeitet sie an einem Nachrichten- und Analyseprojekt über das Leben der Menschen im Süden der Ukraine während des Krieges. Als Produzentin erstellt sie das Geschichts-Projekt „Deokupowana istoriia“ (Befreite Geschichte) über russische Mythen im Süden der Ukraine.

Sie alle haben es zweifellos sehr viel schwerer als ich. Darum fühlt es sich fast wie Verrat an, sich selbst eine Auszeit zu gönnen. Aber meine Akkus waren einfach komplett leer – und deshalb habe ich mich für einen Urlaub entschieden.

Krabben aus Cherson

Vor dem großen Krieg sah das anders aus. Ich komme aus dem sonnigen Gebiet Cherson, das an zwei Meeren liegt: dem Schwarzen und dem Asowschen. Fast alle Ferien und langen Wochenende habe ich an der Küste verbracht. Dort lag ich mit Freunden am Strand, wir aßen Krabben und gekochte Maiskolben und badeten endlos im Meer. Abends gingen wir auf die Promenade oder tanzten bis zum Morgengrauen. Geschlafen haben wir wenig, aber es war immer lustig und unbeschwert

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Diese Urlaube am Meer waren immer mein safe space. Zum letzten Mal war ich dort im Sommer 2021. Denn schon Anfang 2022 wurde die ganze Küste unseres Gebietes von russischen Streitkräften besetzt. Seitdem war ich nicht mehr dort. Die Russen haben mir diesen sicheren Ort gestohlen.

Als sich dieses Jahr endlich die Möglichkeit für einen Urlaub ergab, wusste ich erst gar nicht, was ich mit diesen Wochen anfangen wollte.

über leben

Für die Menschen in der Ukraine ist der Krieg ein Teil ihres Alltags geworden. Trotz der Todesangst vor Luftangriffen und Kämpfen geht das Leben weiter: Die Menschen gehen zur Arbeit, zur Schule und zur Uni. Sie lieben, lachen, heiraten, bekommen Kinder, machen Urlaub. Sie trauern, sorgen sich – und hoffen auf Frieden.

Strategische Reiseplanung

Ich könnte in Kyjiw bleiben, zu meinen Eltern aufs Land fahren oder in die Karpaten. Oder ins Ausland reisen. Schließlich habe ich entschieden, zu Verwandten nach Finnland zu fahren. Einfach, um mal ein paar Wochen keine Explosionen und Sirenen zu hören. Ich habe mich an das Leben in Kyjiw während des Krieges gewöhnt, aber es ist trotz allem anstrengend.

Auslandsreisen aus der Ukraine sind aufwändig: Ich brauchte ein Bahnticket an die polnische Grenze, die sind im Sommer schwer zu bekommen. Dann ein weiteres nach Warschau, wo ich übernachten musste, um am nächsten Tag nach Helsinki zu fliegen. Von dort ging es mit dem Zug weiter. Insgesamt dauerte das 32 Stunden.

Ich schäme mich

Als ich mit der kompletten Organisation fertig war, überkam mich die Scham: „Ins Ausland fahren, um einfach zu chillen? Während meine Freunde und Eltern hier bleiben. Was sage ich ihnen? Dass ich mich erholen möchte. Das klingt ziemlich verrückt.“ Diese Gedanken quälten mich jeden Tag. Erst im Gespräch mit einer Psychologin begriff ich, dass ich zu viel von mir verlangte und mir deshalb unbewusst nicht gestattete, Freude am Leben zu haben.

Tatsächlich war der Urlaub wunderbar: Im See schwimmen, Waldspaziergänge und mit den Verwandten über meine Sorgen sprechen. Es war aber gar nicht so leicht, nicht dauernd die Nachrichtenlage auf meinem Handy zu checken. Irgendwann hab ich es einfach nicht mehr mitgenommen.

Nur einmal war ich unter Schock: Am ersten Tag in Finnland hupte ein vorbeifahrendes Auto, sehr laut. Mein Körper reagierte sofort, als wäre es eine Raketenexplosion gewesen. Ich brauchte eine ganze Woche, um mich an die lauten Geräusche zu gewöhnen.

Noch immer bin ich nicht sicher, ob ich das Recht habe, mich zu erholen, während andere unter viel schwierigeren Bedingungen kämpfen und überleben müssen. Aber ich verstehe auch, dass Erholung weder Verrat noch Flucht ist. Es ist eine Möglichkeit, sich selbst zu schützen, um die Kraft zu haben, in die Realität des Krieges zurückzukehren.

Aus dem Ukrainischen Gaby Coldewey

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