100 Tage Klimacamp in Bremen: Weit weg vom Ziel
Seit mehr als 100 Tagen steht das Klimacamp vor dem Bremer Rathaus. Manche hier haben den Glauben an die Politik jedoch längst verloren.
„Auf politischer Ebene gibt es noch keine Erfolge“, sagt Tobias. „Aber auf Bürger*innenebene: Wir schaffen ein ständiges Bewusstsein.“ Die beiden Aktivisten gehören zum Kernteam von sechs, sieben Leuten, die fast dauerhaft im Camp wohnen. Eigentlich hatten sie sich gewünscht, dass mehr Menschen mitmachen, sagt Simon. Bleiben will man hier mindestens bis zur Wahl, am liebsten länger.
Simon, Aktivist im Klimacamp
Direkt vor dem Rathaus, in dem Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) arbeitet, gegenüber des Doms, steht das Klimacamp. Dort, wo der Wind in der Regel für ordentlich Zug sorgt. Von hier aus lassen sich Wochenmarkt, Touris, Stadtführungen und Polizeipatroullien beobachten.
Die Gespräche mit Passant*innen können herausfordernd sein, erzählt Simon. Viele seien nicht gut informiert, dazu würden Menschen aus klimaskeptischen oder -leugnerischen Strömungen kommen. „Und die Vorstellung von einer Utopie, zu der wir uns hinentwickeln müssten, haben die wenigsten. Sie wird im öffentlichen Diskurs auch nicht behandelt.“ Einzelmaßnahmen, ja – „aber wie das alles zusammen geht und inwiefern auch ein Verzicht auf Verbrauch oder Mobilität in dieser Utopie enthalten sein muss, sind Fragen, die vom Politikbetrieb gescheut werden“.
Simon und Tobias sitzen auf bunt angemalten Palettenmöbeln unter dem Dach eines einfachen Pavillons; neben ihnen stehen ein großes und sieben kleine Zelte. An der Seite der vorbei flanierenden Passant*innen stehen ein Plakat, ein Hochbeet, Töpfe mit Pflanzen. „Bei euch sieht es ordentlicher aus als in Augsburg“, vergleicht eine Frau das Camp mit einem süddeutschen Pendant und fotografiert die Aufbauten gut gelaunt.
Auch andere Urlauber*innen halten drauf: „Greta ist ihr Vorbild“, kommentiert eine Frau die Fotos ihrer Tochter. Ebenso interessiert sind Einheimische. Ein älterer Mann mit Rad schaut sich das Plakat an: „1,5 Grad-Ziel einhalten, festes CO2-Budget und klimaneutral bis 2032“ steht da drauf. Er ist schon öfter vorbei gefahren, jetzt bleibt er stehen. „Tja, vielleicht bringen viele Maßnahmen zusammen mal was.“ Auch ein anderer Passant glaubt, dass das Camp „gut ist, um Aufmerksamkeit zu generieren“.
Aufmerksamkeit, die Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) gar nicht lieb war: Er legte im Frühjahr Beschwerde ein gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts, das ein Verbot des Camps durch das Ordnungsamt gekippt hatte. Doch das Oberverwaltungsgericht entschied, dass das Camp durch die Versammlungsfreiheit gedeckt sei.
Frustriert, aber nicht ängstlich
Das sehen wohl nicht alle so: Man sei schon beschimpft, bespuckt und mit Eiern und Blumentöpfen beworfen worden, heißt es in der Mitteilung zum 100-tägigen Bestehen.
Manchmal ist es frustrierend, sagt Simon. Wenn Menschen immer wieder darauf hinweisen: „Wir brauchen die Wirtschaft, die Arbeitsplätze, den Flughafen.“ Diese „vereinfachten Sichtweisen“ und die fehlende Bereitschaft, „größer zu denken“ machten keine Hoffnung. Doch Tobias erlebt, dass selbst diese Menschen den Aktivist*innen mit Respekt begegnen. „Die wollen schon, dass sich was verändert.“
„Ja, aber was? Wenn die an Veränderung denken, denken die an ein bisschen mehr E-Mobilität und ÖPNV und weniger Plastik“, sagt Simon. Das führe zu einem „unrealistischen Optimismus“. Auch der von ihm beobachtete Wunsch vieler, in das „harmonische, routinierte Alltagsleben vor Corona“ zurückzukehren, stehe „konträr zu dem, was wir brauchen“. Entsprechend sieht die Zukunft für Tobias „düster“ aus. Angst haben die beiden nicht. „Aber um mich geht es nicht“, sagt Simon. „Ich habe schon ein Leben gehabt.“
Einige aus dem Camp haben bereits mit verschiedenen Bürgerschafts-Abgeordneten gesprochen. Am Mittwoch kommt sogar der Bürgermeister. Tobias glaubt nicht, dass diese Gespräche viel bringen. „Die Politiker*innen wissen ja, was sie da tun.“ Für Simon braucht es viel eher die Gesellschaft, die eine Veränderung wollen und tragen muss.
Währenddessen läuten die Domglocken. Das passiere die ganze Nacht, sagt Tobias, alle Viertelstunde. Müde sei er aber nur manchmal. Jetzt dröhnen sie gleich für mehrere Minuten über den Platz: Es ist kurz vor zwölf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative