100 Jahre Volkshochschule: Hungrige Geister und leere Kassen
Trotz hundertjährigem VHS-Jubiläum ist nicht allen nach feiern zu Mute: Die Lehrkräfte sind oft prekär beschäftigt, die Finanzierung stagniert.
Wenn Hedwig Schulte ein Deutschkurs wegbricht, bekommt sie kein Geld. Auch wenn das nicht ihre Schuld ist. „Das ist dann mein persönliches Pech“, sagt sie. Schulte arbeitet als freie Deutschlehrerin an der Volkshochschule Düsseldorf. Dort unterrichtet sie in 20 Stunden pro Woche Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, leitet Alphabetisierungs- und Integrationskurse. Ein anspruchsvoller Job: häufig wechselnde Klassen, vielfältige Hintergründe und Leistungsgrade der Teilnehmenden. Gleichzeitig auch ein äußerst wichtiger. Denn Volkshochschulen sind urdemokratische Institutionen, die Bildungsgerechtigkeit ermöglichen sollen.
Hundert Jahre alt ist diese Idee – 1919 gilt als Geburtsjahr der Volkshochschulen in Deutschland. Das Jubiläum feiern etwa 350 der insgesamt 895 Schulen am Freitag unter dem Motto „Zusammenleben. Zusammenhalten“ in einer langen Nacht der Volkshochschulen. Schon im Februar fand der offizielle Festakt in der Frankfurter Paulskirche statt, in der 1849 die erste Deutsche Nationalversammlung getagt hatte. Dort sprachen auch der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle und CDU-Vorsitzende und Volkshochschul-Präsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer. „Ein Schlüssel zum Status activus des Staatsbürgers ist Bildung“, sagte Voßkuhle. „Wer hundert Jahre im Dienste der Menschen und der Demokratie hinter sich gebracht hab“, so Kramp-Karrenbauer, „braucht sich vor den nächsten hundert Jahren nicht zu fürchten.“
In der Weimarer Republik hatte man 1919 die Notwendigkeit erkannt, auch der Arbeiter*innenschicht geistige Weiterbildung zu ermöglichen. Brücken sollten geschlagen werden zwischen „dem kleinen Volkteil, der geistig arbeitet“, und dem immer größer werdenden „Teil der Volksgenossen, der mit der Hand schafft, aber geistig hungrig ist“. So steht es in einem Erlass des damaligen Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Konrad Haenisch. Laut Weimarer Reichsverfassung sollten Reich, Länder und Gemeinden die Volkshochschulen fördern. Das löste eine Gründungswelle aus: 1919 wurden so viele noch heute existierenden Volkshochschulen geöffnet wie in keinem anderen Jahr. Die Lehrkräfte sollten aus der Mitte der Gesellschaft stammen. An der Vorstellung hat sich bis heute wenig geändert – an den Rahmenbedingungen schon.
„Es herrscht immer noch die überholte Idee aus den 50er Jahren, dass verbeamtete Hauptschullehrer in ihrer Freizeit an Volkshochschulen unterrichten“, sagt Hedwig Schulte, „aber das entspricht nicht mehr der Realität.“ Etwa 188.000 Volkshochschullehrer*innen in Deutschland arbeiten in Vollzeit und, die allermeisten als Selbstständige. Anders als ihre Kolleg*innen an Schulen oder Berufsschulen sind sie aber auf Honorarbasis beschäftigt. Dafür brauchen sie einen akademischen Abschluss, Fortbildungen, Berufserfahrung in der Erwachsenbildung.
Deutlich niedrigere Gehälter
Ihr Honorar liegt aber deutlich niedriger als das Gehalt etwa an Berufsschulen. Verdient eine Vollzeitlehrkraft dort etwa 3.700 Euro brutto im Monat, kommen VHS-Lehrkräfte auf circa 1.500 Euro. Um ihre Kosten zu decken, arbeitet Schulte im Schnitt für 4 bis 6 Auftraggeber pro Jahr. Ausfälle habe sie einkalkuliert, aber oft erfährt sie von ihnen erst kurzfristig, sagt sie. „Und das ist dann unangenehm.“
Die schlechte Bezahlung hat nichts mit fehlender Nachfrage zu tun – zumindest nicht in den Deutschkursen. Dadurch bleiben die Teilnehmerzahlen insgesamt relativ konstant. 6,4 Millionen Personen besuchen pro Jahr einen VHS-Kurs. Rechnet man Einzelveranstaltungen oder Studienfahrten hinzu, sind es sogar 8,9 Millionen Teilnehmer*innen, wie die Volkshochschul-Statistik von 2017 ausweist. Mehr als die Hälfte aller Angebote sind Sprachkurse. Seit 2015 ist der Bereich stark angewachsen, insbesondere beim Fach Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache.
In allen anderen Bereichen, so die Statistik, gehen die Kurse und Belegungen aber zurück, bundesweit. Am zweitstärksten ist der Bereich Gesundheit mit Fitness- und Entspannungskursen vertreten. Danach folgt die berufliche Weiterbildung. Kurse, die Computerprogramme wie Excel lehren, sind mittlerweile weniger gefragt – die beherrschen die meisten mittlerweile. Kurse im Bereich Politik/Gesellschaft und Arbeit/Beruf/Schulabschlüsse gehen in manchen Bundesländern auch im zweistelligen Prozentbereich zurück.
Das Honorar für die Lehrkräfte errechnet sich aus den abgehaltenen Kursstunden. Im Schnitt sind das 20 bis 25 Euro – die Vergütungen variieren jedoch in verschiedenen Ländern, Schulen und Fächern, da die Volkshochschulen meist in Trägerschaft der Kommunen liegen. Diese können dann darüber entscheiden, die Lehrkräfte besser zu bezahlen – müssen das aber aus eigener Finanzkraft stemmen. Mit 35 Euro besser vergütet werden die Integrationskurse, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) bezahlt. An diesem Satz orientieren sich die Volkshochschulen etwa in Berlin. Im August hatte der Senat die Honorare für alle Lehrkräfte angeglichen. An der Düsseldorfer VHS sind es zurzeit 24 Euro für DaZ und DaF-Kurse, bald soll noch einmal erhöht werden – das Ergebnis hartnäckiger Forderungen von Lehrkräften wie Hedwig Schulte.
Oder Ruth Janßen. Seit etwa 30 Jahren unterrichtet die Deutschlehrerin an der Düsseldorfer Volkshochschule und ist wie Schulte im Bündnis der DaZ- und DaF-Lehrkräfte organisiert, außerdem ist sie Sprecherin der dortigen VHS-Lehrkräfte. „Die 24 Euro reichen uns längst nicht“, sagt sie. Denn die VHS-Lehrer*innen verdienen nicht nur weniger, sie haben auch sehr viel höhere Ausgaben. Sozial- und Rentenversicherung müssen sie selbst tragen. Sie haben keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – längere Ausfälle können sie in den Ruin treiben. Nach allen Abgaben bleibt von den 24 Euro nur knapp die Hälfte übrig. Janßen arbeitet neben der VHS auch an der an der Universität. Dort zahlen sie besser.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert 57 Euro pro Stunde für VHS-Kräfte. Das DaZ- und DaF-Lehrkräfte-Bündnis hat zum Jubiläum im März eine Petition an das Bildungsministerium gestartet. Darin fordert es unter anderem feste Anstellungen für längerfristig Beschäftigte und Vergütungen von 60 Euro pro Stunde, orientiert am Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD E 12).
Wegen der schlechten Bezahlung sind mittlerweile viele VHS-Lehrkräfte an Schulen gewechselt. Als 2016 die Zahl der Geflüchteten zunahm, gab es plötzlich mehr Schüler*innen als früher – und gleichzeitig weniger Lehrkräfte, die an Volkshochschulen unterrichten wollten. Viele zogen an Schulen in befristete Festanstellungen ab, die neu entstanden. Um der Abwanderung entgegenzuwirken, reagierten Volkshochschulen vielerorts und senkten Qualifikationsansprüche an Lehrkräfte. Ähnlich reagierte auch das Goethe-Institut.
Zu geringe Mittel vom Bund
Auch an einer Volkshochschule in Niedersachsen hat man die Deutsch-Honorare auf 35 Euro angeglichen. Hier arbeitet Bündnissprecher Artur Sieg, der neben DaZ-Kursen auch Polnisch und Geschichte für 21,50 Euro pro Stunde unterrichtet. 25 Stunden pro Woche – eine Vollzeitstelle – für 1.500 Euro. Sieg weiß, dass die Mittel an seiner Volkshochschule knapp bemessen sind. Aus Rücksichtnahme verzichtet er auf seinen Anspruch auf Urlaubsentgelt.
Auch den haben nicht alle Lehrkräfte, sondern nur diejenigen, die in arbeitnehmerähnlichen Verhältnissen arbeiten – also überwiegend für einen einzelnen Arbeitgeber tätig sind. „Viele arbeitnehmerähnlich Beschäftigte an Volkshochschulen verzichten auf diesen Anspruch“, sagt Sieg. Einige wissen nichts davon, andere haben Angst davor, zu klagen, da der Träger kündigen könnte. In Stuttgart machten DaZ-Lehrkräfte im März auf ihre Situation aufmerksam – dort warten Lehrkräfte seit 2016 auf die Bearbeitung ihrer Anträge, die sie nun einklagen wollen.
„Volkshochschulen haben eine hohe Bereitschaft, ihre Lehrkräfte fair zu bezahlen und sozial besser abzusichern – aber oft fehlen die finanziellen Mittel dafür“, sagt die Pressesprecherin vom Deutschen Volkshochschul-Verband Simone Kaucher. Die Trägerschaft der Kommunen verhindere eine bundesweite Honorarordnung. Dass der Bund zu wenig in Weiterbildung investiert, zeigt eine Studie der Universität Duisburg-Essen im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung aus diesem Jahr. Rund 26,9 Milliarden Euro werden in Deutschland pro Jahr für die Weiterbildung ausgegeben. Der Großteil davon, 20,9 Milliarden, wird privat finanziert. Nur 6,3 Milliarden Euro bringt der Bund auf.
Anders als in allen anderen Bildungsbereichen stagniert die öffentliche Finanzierung in der Weiterbildung seit 1995. Außerdem fand die Studie heraus, dass insbesondere Geringqualifizierte und Arme kaum von dem Weiterbildungsangebot profitieren. Nur 5,6 Prozent der Menschen ohne formalen Berufsabschluss und nur 7,7 Prozent der von Armut gefährdeten Menschen besuchten im vergangenen Jahr eine Weiterbildung. Nun könnten auch noch Zehntausende VHS-Kurse teurer werden – da die Bundesregierung beschlossen hat, die Umsatzsteuerbefreiung für viele Kurse aufzuheben. Das dürfte vor allem Menschen mit weniger Geld von der Teilnahme an VHS-Kursen abhalten. Also genau jene, für die Volkshochschulen gegründet wurden.
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