100. Geburtstag von J. D. Salinger: Die Waffen der Außenseiter
Viele Kraftlinien des 20. Jahrhunderts laufen durch J. D. Salinger hindurch. Der „Fänger im Roggen“ ist ein guter Einstieg in die Literatur.
Den „Fänger im Roggen“ habe ich, wie so viele Menschen, im Schulunterricht kennengelernt. Ich meine mich noch an den Gesichtsausdruck unseres Deutschlehrers zu erinnern. Okay, wir hatten jetzt die „Waage der Baleks“ von Böll, das „Urteil“ von Kafka und die „Deutschstunde“ von Lenz, aber dies hier ist noch etwas anderes, mal sehen, was ihr davon haltet, das sagte dieser Blick.
Er war wohl selbst gespannt darauf, wie wir Pubertierenden auf die Jugendsprache des Ich-Erzählers Holden Caulfield reagierten. Vielleicht fühlte er sich auch von der Figur des Lehrers getroffen, der Holden gleich am Anfang ins Gewissen zu reden versucht, vergeblich natürlich.
„Do you feel absolutely no concern for your future, boy?“ Der Spruch hätte ja auch von einem zeitgenössischen Lehrer kommen können.
Was ich genau bei diesem ersten Lesen gedacht habe, weiß ich dagegen nicht mehr. Das Klischee will, dass man diesen Roman als junger Mensch identifizierend liest – als Flaschenpost, die bei all seinen vielen Millionen LeserInnen nur an einen selbst gerichtet ist. Doch ich glaube nicht, dass das bei mir zutraf. Dieser Roman trat einem von Anfang an beschwert durch seine eigene Legende entgegen. Ich denke eher, ich werde mich angestrengt haben, ihn identifikatorisch zu lesen; aber das ist etwas anderes. Glücklich und bedeutsam fühlte ich mich aber schon, wenn es gelang.
Alles Mögliche ist verlogen
Was unbedingt beim Jugendlichen, der ich damals war, ankam, war das Motiv der Verweigerung. Alles Mögliche ist phony, verlogen also, im „Fänger im Roggen“, Menschen, Situationen, im Grunde ganz Manhattan, durch das Holden, nachdem er von der Schule geflogen ist, ein Winterwochenende lang streift. Wer sich mit der Gesellschaft einlässt so wie D. B., sein Bruder, den er gleichwohl auch bewundert, prostituiert sich in seinen Augen. Und Holden fliegt ja nicht von der Schule, weil er dumm wäre. Er hat nur keine Lust auf den ganzen Kram, der von ihm verlangt wird.
Dieses Motiv wird jedes Jahrzehnt in einer anderen Facette schillern. Um 1980 herum traf das auf eine Zeit, in der man es sich im Dagegensein längst gemütlich machen konnte. Jürgen Habermas hatte Verweigerungen und Motivationsdefizite von Jugendlichen als Kritik an den bestehenden Verhältnissen interpretiert. Aussteiger waren in. Punk leuchtete einem sofort ein.
Den „Fänger im Roggen“ habe ich also als ein Teil der Gegenkultur gelesen. Als Buch, das einem zeigte, dass man recht hatte mit seiner Abwehrhaltung gegen die Welt der Erwachsenen. Und das Motiv der Rettung? Der Fänger soll die Kinder, die durch ein Roggenfeld auf einen Abgrund zulaufen, ja fangen, bevor sie hinunterstürzen. Dieses Motiv, so schlicht, tief und schön, hat lange gebraucht, bis es mich wirklich erreicht hat. Aber dann traf es richtig.
Eine Zeitlang bin ich mit der fixen Idee herumgelaufen, dass Hanno Buddenbrook nicht hätte sterben brauchen, wenn er nur schon den „Fänger im Roggen“ gekannt haben könnte. Der mondäne New Yorker Hintergrund Holdens, Park Avenue und all das (er ist ja ein rich kid, das Unbehaustheit spielt), hat mit der Lübecker Kaufmannswelt, die Thomas Mann schildert, zwar wenig zu tun.
Beobachtungswut als Verbindung
Aber in einem Punkt treffen sich die literarischen Figuren Holden und Hanno eben doch: in ihrer Beobachtungswut, in der gesteigerten Aufmerksamkeit für ihre Umwelt, die von dem Gefühl herrührt, in der Welt, in die man geboren wurde, fremd zu sein. Beobachten, das ist ihre Abwehrwaffe.
Hanno entscheidet sich in der Tiefe seines Unbewussten gegen so ein Leben, wie es sein Vater führte. Dann stirbt er, oberflächlich gesehen an Typhus, in Wirklichkeit aber natürlich an seiner Entscheidung. Hätte er den „Fänger im Roggen“ gelesen, er hätte sich vielleicht verstanden und nicht so ausgeliefert gefühlt. Er hätte die Krise überstanden und dann – na, dann mal sehen, wie es weitergeht.
Der „Fänger im Roggen“ ist überhaupt ein guter Einstieg in die Literatur, viele literarische Kraftlinien des 20. Jahrhunderts laufen durch ihn hindurch.
Da ist natürlich das weitere, schmale, aber schillernde Werk J. D. Salingers, diese hochartifiziellen, seltsam mäandernden Geschichten rund um die Glass-Familie (hinter denen ich aber beim Lesen immer etwas Predigendes gewittert habe). Da wäre Thomas Pynchon, den man auch vom „Fänger“ aus lesen kann: der Autor als Holden, der sich mit Haut und Haaren in die Literatur als Sprache und Gegenwelt gestürzt hat.
Der „Fänger“ als Durchlauferhitzer
Außenseitertum, das Durch-die-Straßen-Laufen – diese Grundmotive der literarischen Moderne sind natürlich auch drin, Knut Hamsuns „Hunger“ und der Anfang des „Malte Laurids Brigge“. Aber auch in der realistischen US-amerikanischen Literatur – in der es viel darum geht, den Menschen ihre eigene Stimme zu geben – ist der „Fänger“ ein Durchlauferhitzer. Die Linien gehen zurück bis zu Mark Twains „Huckleberry Finn“. Und sie reichen, meine ich, bis hin zur erwachsenen, durch alle Krisen hindurchgegangenen Erzählstimme bei Richard Ford.
Später habe ich den „Fänger im Roggen“ auch als historisches Dokument gelesen. Das war, nachdem klar geworden war, wie kriegstraumatisiert J. D. Salinger tatsächlich gewesen ist. In „Salinger. Ein Leben“, der Biografie-Collage von David Shields und Shane Salerno, kann man nachverfolgen, was für furchtbare Dinge Salinger als US-Soldat im Zweiten Weltkrieg gesehen hat (die ersten sechs Kapitel des „Fängers“ immer mit im Gepäck).
In der Normandie hat er die Schrecken wochenlangen Nahkampfs erlebt. Im Hürtgenwald war er bei einer der verlustreichsten taktischen Niederlagen der US-Army dabei. Schließlich war er bei den allerersten Soldaten, die im Außenlager des KZs Dachau Häftlinge befreiten, die nur schwankende Gerippe waren.
Nachläufer des Zweiten Weltkriegs
Man hat (und ich habe mit) den „Fänger im Roggen“ lange Zeit parallel zu den gesellschaftlichen Aufbrüchen und der Gesellschaftskritik von 68 gelesen. Tatsächlich ist das Buch auch ein Nachläufer des Zweiten Weltkriegs. Man hat es lange nicht gesehen, aber es steht drin: „Jedenfalls bin ich irgendwie froh, dass sie die Atombombe erfunden haben. Wenn je wieder Krieg ist, dann setz ich mich ganz obenauf.“
In Salingers berühmtester Story seines Bandes „Neun Erzählungen“, in „Ein idealer Tag für Bananenfische“, erschießt sich ein Mann ohne Vorwarnung selbst. Diesen Schuss kann man in seinem ganzen Werk nachhallen hören. Oder vielmehr die Stille nach diesem Schuss.
Bei Shields und Salerno erfährt man auch Dinge, die den Mythos gehörig ankratzen. So hatte Salinger, der die Erwachsenen wirklich verlogen fand, Affären mit Minderjährigen und setzte dafür seinen schriftstellerischen Ruhm ein. Sein legendärer Rückzug aus der Öffentlichkeit auf sein Anwesen in Cornish, New Hampshire wirkt auch viel unfreier als lange geglaubt. Jahrelang hat er in einem selbst gebauten Bunker im Wald gesessen, Frau und Kinder im Haupthaus wochenlang allein gelassen und zwanghaft an seinen Geschichten geschrieben.
Irgendwo im „Fänger“ merkt Holden an, dass ein gutes Buch eins sei, bei dem man gleich mit seinem Autor telefonieren wolle. Ging mir nach Shields/Salerno mit Salinger nicht mehr so.
Der Außenseiter ist in die Jahre gekommen
Dass der „Fänger im Roggen“ längst auch historisch geworden ist, liegt aber nicht daran – und im Kern auch nicht an den veralteten Slangausdrücken (dough für Geld, was Eike Schönfeld mit „Kohle“ übersetzt). Vielmehr ist die Figur des durch die Straßen tigernden Außenseiters selbst in die Jahre gekommen – vielleicht hat sie sich auch totgesiegt; so viele Caulfield-Kopien bevölkern mit ihrer Kulturkritik bis heute die literarischen Neuerscheinungen!
Dabei gilt doch: Wer seine eigene Stimme sucht, kann nicht ständig Holdens Stimme hinterherlaufen. Sich fremd fühlen, als eine Art einziger Gerechter in der Welt, das ist auch eine (männliche) Selbstermächtigungsstrategie.
Was bleibt, ist diese verdammte Sorgfalt, die Salinger in die Sprache gezaubert hat. Selbst mit auf feinste Stufe gestellten Bullshit-Detektoren wird man keine Szene, keine Dialogstelle finden, die ausgedacht erschiene.
Da war was
Ganz am Schluss, wenn Holden mit seiner Schwester Phoebe durch den Central Park streift, drückt Salinger sprachlich auf die Tube. Es sind immer noch dieselben jugendlichen Kraftausdrücke, nur haben sie jetzt etwas Glitzerndes, so als würde Holden selbst seine Geschichte ein Stück weit verklären oder auch, als würde er in ihr verschwinden.
Jetzt, beim Wiederlesen (der „Fänger“ ist auch eine Art Weihnachtsgeschichte), hat mich diese sanfte Verklärung eigentlich am meisten interessiert. Ich hatte geglaubt, dieses Buch könne mir nichts Neues erzählen. Aber doch, da war was. Bis heute jedenfalls finde ich es merkwürdig, wenn jemand über den „Fänger im Roggen“ schreibt, als sei das irgendein x-beliebiges Buch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr