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10 Jahre Maidan-ProtesteGanz in der Gegenwart

Essay von Marci Shore

Vor 10 Jahren begannen in der Ukraine die Maidan-Proteste. Ihr Vermächtnis sind Menschen, die sich selbst als Subjekte der Geschichte verstehen.

Da waren die Proteste schon drei Wochen alt. Menschen auf dem Maidan im Dezember 2013 Foto: Konstantin Chernichkin/EST&OST

D ie Gegenwart ist nicht fassbar weil sie nicht von Dauer ist. Jean-Paul Sartre verstand die Gegenwart als eine Grenze zwischen dem Bereich der Faktizität – dem, was bereits geschehen ist und deshalb einfach ist – und dem Bereich der Transzendenz, einer Öffnung, die über das hinausgeht, was bisher gewesen ist. Die Revolution beleuchtet diese Grenze. Sie ist ein Moment der Entscheidung.

Im Jahr 2004 beging das Team des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch, ein mit dem Kreml verbündeter Oligarch, Wahlbetrug – und Janukowitschs Gegner, Wiktor Juschtschenko, wurde während des Wahlkampfs mit Dioxin vergiftet. Massenproteste auf dem zentralen Platz in Kyjiw, dem Maidan, erzwangen eine Wiederholung der Wahl. Diesmal gewann Juschtschenko deutlich. In Kyjiw herrschte eine ekstatische Stimmung. Es schien, als könne Janukowitsch nie wieder zurückkommen.

Bild: Jindřich Nosek/CC BY-SA 4.0
Marci Shore

ist Professorin für Osteuropageschichte an der Yale University, New Haven, USA. 2018 erschien ihr Buch über die Maidan-Revolution: „The Ukrainian Night. An Intimate History of Revolution“.

Doch Juschtschenko erwies sich als Präsident als eine große Enttäuschung. Und Janukowitsch wählte aus den Angeboten der amerikanischen PR-Industrie eines für Gangstertypen mit Präsidentschaftsambitionen aus. Unter Anleitung seines Washingtoner PR-Beraters trat er 2010 erneut an und gewann die Präsidentschaftswahlen, diesmal rechtmäßig.

Anschließend überreichte Janukowitsch seinem Washingtoner Berater Paul Manafort als Dankeschön ein Glas Kaviar im Wert von über 30.000 Dollar.

In letzter Minute abgesagt

Der Trostpreis, den Janukowitsch der ihm verhassten liberalen Intelligenz in Aussicht stellte, war die Aussicht, wenn auch weit entfernt, auf die europäische Integration. Vor allem für die junge Generation war „Europa“ das Objekt ihrer Sehnsucht. Im November 2013 sollte die Ukraine dann ein lang erwartetes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union unterzeichnen. In letzter Minute, am 21. November 2013, weigerte sich Janukowitsch.

Besonders geschockt von dieser Entscheidung waren Studierende, die das Gefühl hatten, ihre Zukunft sei vorbei. Europa würde ihnen verschlossen bleiben. Am selben Abend noch schrieb ein 32-jähriger ukrainischer Journalist namens Mustafa Nayyem, der aus Kabul stammte, auf Russisch auf seiner Facebook-Seite: „Kommt schon, lasst uns ernst machen. Wer ist bereit, heute um Mitternacht auf den Maidan zu gehen? ‚Likes‘ zählen nicht.“

In dieser Nacht kamen überwiegend Studierende auf dem Maidan zusammen und blieben dort. Sie hielten sich an den Händen und riefen: „Die Ukraine ist Europa!“

Am 30. November 2013 schickte Janukowitsch um 4 Uhr morgens seine Bereitschaftspolizei auf den Maidan, um die Studierende zusammenzuschlagen. Die Gewalt gegen friedliche Demonstranten war ein Schock. Janukowitsch rechnete offenbar damit, dass der Schock die Eltern dazu bringen würde, ihre Kinder von der Straße zu holen. In diesem Moment geschah aber etwas Frappierendes: Anstatt ihre Kinder von der Straße zu holen, schlossen sich die Eltern ihnen an. Jetzt waren fast eine Million Menschen auf den Straßen von Kyjiw, und sie riefen: „Wir werden nicht zulassen, dass ihr unsere Kinder schlagt!“

Eines dieser geschlagenen Kinder war der 16-jährige Roman Ratushnyy.

„Deine Mutter muss sehr besorgt gewesen sein“, sagte ich zu ihm später in einem Gespräch. „Aber sie hat dich zurückgehen lassen?“

„Meine Mutter hat in der Hrushevskogo-Straße Molotow-Cocktails gemacht“, antwortete er.

Eine Polis

Der Maidan wurde nicht nur zu einem Ort des Protests, sondern auch zu einer Polis. Musiker traten auf, Künstler malten, Ärzte behandelten die Verletzten. Es gab eine Bibliothek, eine offene Universität, ein gemeinsames Klavier. Die Menschen errichteten Zelte, machten Lagerfeuer und kochten Suppe in eisernen Kesseln. Freiwillige räumten Schnee und Eis. Eine LGBT-Organisation verwandelte ihre vertrauliche Hotline für LGBT-Personen in eine Notfall-Hotline für den Maidan.

Grenzen, die normalerweise zwischen Menschen bestehen, lösten sich auf. Es wurde sehr einfach, mit Fremden zu sprechen. „Es gab sehr unterschiedliche Menschen“, erzählte mir ein Student namens Misha, „Ukrainer, Russen, Juden, Polen, Tataren, Armenier, Georgier“. Man hatte das Gefühl, dass nicht nur ethnische, sondern auch sozioökonomische Trennungen überwunden worden waren.

Der Maidan war ein „Laboratorium des Gesellschaftsvertrags“, wie es ein Schriftsteller beschrieb, „eine Vereinigung von IT-Spezialisten aus Dnipropetrowsk und einem huzulischen Hirten, einem Mathematiker aus Odessa und einem Kyjiwer Geschäftsmann, einem Übersetzer aus Lemberg und einem tatarischen Bauern von der Krim“.

Der Historiker Yaroslav Hrytsak beschrieb den Maidan als eine Art Arche Noah: Er nahm „zwei von jeder Art“ auf. Es gab Menschen mit allen politischen Sympathien, von der radikalen Linken bis zur radikalen Rechten. Der junge linke Filmemacher Oleksiy Radyński sagte, Europa blicke voller Erschrecken in einen Spiegel, wenn man auf dem Maidan auch Neonazi-Symbole neben EU-Fahnen sehe, schließlich säßen Vertreter der fremdenfeindlichen extremen Rechten auch in fast jedem europäischen Parlament.

Am 16. Januar verabschiedete Janukowitschs Regierung „Diktaturgesetze“, mit denen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit aufgehoben wurde. Jeder, der sich auf dem Maidan aufhielt, wurde zu einem Kriminellen erklärt. Janukowitschs Bereitschaftspolizei setzte Tränengas, Gummigeschosse, Blendgranaten und bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt auch Wasserwerfer ein.

Demonstranten verschwanden. Die Leiche eines Aktivisten wurde verstümmelt und erfroren in den Wäldern gefunden. Diejenigen, die zurückkehrten, waren oft entstellt, ihnen fehlte zum Beispiel ein Teil eines Ohrs.

In Kyjiw schlief niemand mehr

Hannah Arendt beschrieb den „Charakter des verblüffend Unerwarteten, der allen Anfängen innewohnt“. Als die Ukrainer am 21. November auf den Maidan gingen, erwartete niemand, dort zu sterben. Aber Ende Januar, nachdem die ersten Demonstranten von der Polizei erschossen worden waren, war eine existenzielle Veränderung spürbar. Die Qualität der Zeitlichkeit selbst veränderte sich. Die Menschen verloren das Gefühl für die Zeit, für Tag und Nacht.

In Kyjiw schlief niemand mehr. Der Maidan lebte in einer Zeit, die Walter Benjamin die „Jetztzeit“ nannte. Eine kritische Masse von Menschen hatte eine Entscheidung getroffen: Sie waren bereit, dort zu sterben, wenn es sein musste.

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Dies war der Moment – so glaubt der Kunstkurator und Maidan-Aktivist Vasyl Cherepanyn –, in dem die ukrainische Gesellschaft, wie sie heute existiert, geboren wurde.

Im Februar 2014 gipfelte die Spannung des Maidans in einem Massaker, das Scharfschützen anrichteten. Etwa hundert Demonstranten starben. Janukowitsch floh nach Russland. Der Kreml annektierte illegal die Krim und schickte „russische Touristen“ über die Grenze, um einen Krieg in der Ostukraine anzuzetteln, wo eine bunt zusammengewürfelte Truppe vom Kreml unterstützter Separatisten behauptete, russischsprachige Menschen vor den ukrainischen Nazis zu schützen, die durch den von den USA inszenierten faschistischen Putsch in der Hauptstadt an die Macht gekommen waren.

Dieser Krieg ist noch nicht zu Ende.

Subjekte, nicht Objekte der Geschichte

Während des Winters 2013-2014 fragten russische Journalisten die Menschen auf dem Maidan immer wieder, wer sie organisieren würde, welche Hilfe sie von den Amerikanern erhielten. „Sie konnten einfach nicht begreifen“, erzählte eine junge Frau, „dass wir uns selbst organisiert haben.“ Die Propaganda des Kremls, die Überzeugung, dass der US-Geheimdienst oder eine andere weltbeherrschende Macht die Fäden zieht, verriet nicht nur böswillige Absichten, sondern auch die Unfähigkeit zu glauben, dass es so etwas wie selbständig denkende und handelnde Individuen geben könnte.

Acht Jahre später, im Frühjahr 2022, konnten die russischen Soldaten, die damals Cherson besetzt hielten, nicht glauben, dass die Menschen, die zum Protestieren auf die Straße gingen, nicht von einem „Mastermind da draußen“ gesteuert wurden. „Sie waren nicht in der Lage, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Menschen, denen Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung am Herzen liegen, sich selbst organisieren“, erzählte eine Frau aus Cherson später Journalisten.

Roman Ratushnyy gehörte zu der Generation, die auf dem Maidan erwachsen geworden ist. Das Vermächtnis des Maidan sind Menschen, die sich als Subjekte und nicht als Objekte der Geschichte sehen. Roman wurde Umwelt- und Anti-Korruptions-Aktivist. Als Russland im Februar 2022 eine groß angelegte Invasion startete, ging er zum Militär.

Im Juni 2022 wurde Roman an der Front getötet.

„Nach dem Sieg“

Heute sprechen die Ukrainer nicht von der Zeit „nach dem Krieg“, sie sagen „nach dem Sieg“ –пiсля перемоги (pislya peremohy). „Peremoha“ – so schlug der polnische Theaterregisseur Krzysztof Czyżewski vor – sollte Teil eines neuen universellen Wortschatzes werden. Die Vorsilbe pere bezeichnet eine Kreuzung und moha bedeutet „ich kann“. Peremoha – „Sieg“ – drückt buchstäblich aus, dass man über das hinausgeht, wozu man in der Lage ist.

Wenn die Kollegen der ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mischtschenko über den Krieg sprachen, sprachen sie über den russischen Imperialismus, den Stalinismus und die Kolonialisierung. „Für mich“, schrieb Kateryna Mischtschenko, „hat dieser Krieg einen ziemlich klaren Bezugspunkt – den Maidan. Vielleicht lohnt es sich, an diesen Ort zurückzukehren, um die Zukunft zu finden.“

Unaufrichtig zu leben, bedeutete für Sartre, das Faktische in die Zukunft zu projizieren und damit die Möglichkeit – und die Verantwortung – zu leugnen, über das, was ist, hinauszugehen. Die Lehre des Maidan ist, dass wir über das hinausgehen können, was wir bis jetzt gewesen sind. Wir können es – auch wenn das Licht, das die Grenze, die die Gegenwart ist, erhellt, nur in seltenen Momenten aufleuchtet, flackert und dann wieder zu verschwinden scheint.

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3 Kommentare

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  • Man sollte sich sich grundsätzlich vor jeder Romantisierung hüten. Der Mensch ist immer auch Objekt, das zu akzeptieren erfordert auch Mut. Ein Nawalny, der sich freiwillig in die Hände seiner Gegner begeben hat, ist dafür ein Beispiel, aber auch das ist natürlich schon heroisch. Viele andere einfache und eher unfreiwillige Opfer werden gar nicht gesehen. Die Revolution kann auch kein Dauerzustand sein, das kann man nicht leben, die "Jetztzeit" entsteht ja aus Not, aus Notwendigkeit und sie wünscht ihre eigene Überwindung als ganz normale Lebbarkeit. Niemand schlief? Ja, aus Angst. Die Erinnerung an den eigenen Mut tut natürlich gut und gibt Kraft, aber er bleibt eben die Arendtsche Selbstüberraschung und kann kein Dauerzustand sein. Wir sollten die Ukraine endlich siegen lassen und nicht ihre Tapferkeit besingen.

    • @Benedikt Bräutigam:

      Das sollten wir.



      Aber wir sollten auch so gut wir es vermögen noch etwas anderes: nämlich die Ukrainer des Maidan uns ein Vorbild sein lassen. Es gäbe so viele Bereiche, so viele Situationen, so viele Themen, in denen die beschriebene Grenze zwischen Gegebenem und Möglichem aufleuchten könnte - jetzt, hier, heute, morgen. Wir leben in unfassbaren Zuständen, in der Ukraine, Israel, Iran, Sudan, in den Waldbränden und Fluten, in den politischen Skandalen und in der schieren Narkolepsie der gegenwärtigen Politik. All das müsste uns empören und auf die Straße treiben.



      Stattdessen ziehen wir die Grenzen hoch, verhaften Klimakleber und schließen für uns eine neue Risikolebensversicherung ab. Am 9. November zünden wir eine Kerze an.



      Oder sitzen wie ich gerade am Schreibtisch und lesen schaurig-schöne Heldengeschichten in der Zeitung.



      Wir müssen auch lernen, wach zu werden und mehr als das absehbare Desaster für unsere Zukunft zu erstreiten. Das lese ich aus dieser Geschichte heraus.

      • @Annette Thomas:

        Das hier ist halt nur noch eine Konsumveranstaltung. Wir habens eigentlich nicht verdient aber die Ukrainer schon.