10 Jahre Bürgerkrieg in Syrien: Schaut auf Nordsyrien!
Mit dem Arabischen Frühling kam in Syrien der blutige Krieg des Regimes gegen das Volk. EU und USA sollten die neuen Entwicklungen nicht ignorieren.
I ch erinnere mich an die syrischen Jungs, die mich vor zehn Jahren in der Altstadt Aleppos ansprachen und quatschen wollten. Was sie denn da machten, wollten die Männer wissen, die unverhofft dazu stießen. Ich erinnere mich an das alte Haus in Damaskus, in dem ich ein Zimmer mietete, und wie die syrischen Freunde, die zu Besuch kamen, mir nicht erzählten, dass sie beim Hausherrn ihren Pass abgeben mussten. Erst als ich dessen Ordner mit all den Passkopien sah, verstand ich.
Und ich erinnere mich, wie ich mit Freunden durch die Straßen lief, wie mein syrischer Freund einem deutschen Freund panisch den Arm herunterriss, als der auf eine Assad-Statue zeigte. Keine Aufmerksamkeit erregen! Anfang März 2011 verließ ich das Land.
In diesen Märztagen nun heißt es, der Kriegsbeginn in Syrien jähre sich zum zehnten Mal. Das ist genau genommen falsch. Ein Krieg braucht zwei Seiten. Im März 2011 gab es eine Seite, die Waffen hatte, Panzer, Folterknäste, eine Luftwaffe. Was im März 2011 begann, waren zunächst friedliche Demonstrationen gegen ein Regime, das damals so verbrecherisch war wie heute, das schon damals mit Überwachung, Angst und Repression regierte, ein Spitzelstaat, wie ihn ein Teil der deutschen Bevölkerung aus eigener Erfahrung kennt.
Es gibt in Syrien eine Foltermethode namens kursi almani, „deutscher Stuhl“. Dabei wird der Häftling auf ein Gerät gesetzt, das aus beweglichen Teilen besteht, mit denen die Wirbelsäule überdehnt wird. Sie soll über die Stasi nach Syrien gekommen sein, andere Quellen berichten, Nazi-Schergen hätten sie ins Land gebracht. Wie auch immer: Systematische Folter war eines der wichtigsten Herrschaftsinstrumente des Baath-Regimes, auch schon vor März 2011.
Dass sich in den letzten zehn Jahren viele syrische und ausländische Akteure die Hände mit Blut befleckt haben, ändert nicht, dass im Frühjahr jenes Jahres die syrische Regierung dem eigenen Volk den Krieg erklärte. Alle, die in der ehrlichen Hoffnung auf ein besseres Leben den Aufstand wagten, haben Respekt verdient – auch wenn es viele Leben gerettet hätte, wären sie still und untertänig geblieben.
Konflikt nicht gelöst
Der nationale Aufstand ist gescheitert und Baschar al-Assad herrscht wieder über zwei Drittel Syriens. Die Regimegebiete sind „gesäubert“ von Kräften, die sich mit seiner Unrechtsherrschaft nicht abfinden wollen. Die Opposition ist entweder tot oder im Ausland – oder aber versammelt in Syriens Norden, den Assad und sein russischer Verbündeter nicht zurückerobern konnten. Der Syrienkonflikt ist nicht vorbei, geschweige denn gelöst, auch wenn die Kämpfe nachgelassen haben.
In Nordsyrien bleiben grundlegende Territorialfragen ungeklärt. Je mehr Zeit aber vergeht, desto mehr verfestigen sich dort politische und militärische Strukturen, welche die Region auf Dauer prägen werden. Diese Entwicklung findet jenseits der europäischen Wahrnehmung statt, als wolle man in Brüssel, Berlin oder Paris lieber nicht genauer hinsehen – weil es weitere Fragen aufwirft, und weil immer auch das Flüchtlingsthema eine Rolle spielt.
Im Nordosten herrschen kurdische Syrer, im Nordwesten arabisch-sunnitische Syrer, die – maßgeblich! – von der Türkei unterstützt werden. Beide Herrschaftsbereiche ermöglichen mehreren Millionen Menschen ein Leben, ohne Verfolgung durch das Regime befürchten zu müssen. Beide halten also auch Geflüchtete von Europa fern. Gleichzeitig werfen beide schwierige politische und völkerrechtliche Fragen auf.
Die Türkei übt ihren Einfluss mithilfe islamistischer Stellvertreter-Milizen aus, hat aber auch eigene Truppen stationiert. Zudem hat Ankara Verwaltungsstrukturen aufgebaut wie türkische Telefonnetze und Postämter; Erdoğan betont aber, dass Nordwestsyrien nicht zu einer türkischen Provinz werden soll. Tatsächlich scheint eine Annexion nicht das Ziel zu sein. Vielmehr dient Türkisch-Nordwestsyrien als Pufferzone sowie als Abschieberaum für einen Teil der 3,7 Millionen Syrer*innen, die in der Türkei leben.
Das Kalkül der Türkei
Völkerrechtlich liegt in Teilen des türkischen Einflussgebiets eine Besatzung vor, vergleichbar mit dem Westjordanland oder der Westsahara. Eine solche ist per se noch nicht völkerrechtswidrig, allerdings gehen mit ihr Pflichten und Verbote für die Besatzungsmacht einher. Vieles weist darauf hin, dass in dem Gebiet ein völkerrechtswidriger Bevölkerungstransfer stattfindet: Kurd*innen werden vertrieben, sunnitische Araber*innen angesiedelt.
Im kurdischen Nordosten wiederum ist das Hauptproblem politischer Natur. Die Türkei fürchtet einen kurdischen Quasistaat an ihrer Südgrenze. Eine Zwischenlösung hat Ankara gefunden, indem es auch hier einen Pufferstreifen besetzt hält. Ansonsten bleibt die Frage, wie es mit dem aktuellen kurdischen Gebilde weitergeht.
Die Europäer wären gut beraten, den Konflikt nicht Russland, der Türkei und dem Iran zu überlassen und sich nicht allein noch für die Flüchtlingsfrage zu interessieren. Die internationale Gemeinschaft steht in Nordsyrien vor einer Mammutaufgabe. Es ist Zeit, dass Europa und die USA sich wieder einbringen.
Ohne Frage werden die Türkei und Russland die bestimmenden Akteure bleiben, aber Europa und die USA sollten zumindest versuchen, auf einen Friedensprozess unter UN-Ägide hinzuwirken, der die aktuellen Parallelforen der involvierten Kriegsmächte ersetzt, multilaterale Lösungsansätze stärkt und grundlegende Menschenrechts- und Völkerrechtsfragen zum Thema macht. Derzeit sind die UN-unterstützten Gespräche auf eine völlig aussichtslose Debatte über eine neue gesamtsyrische Verfassung verengt.
Eine große multilaterale Vereinbarung, die vor allem den Menschen vor Ort Perspektiven bietet, wird nicht mehr dieses Jahr kommen, auch nicht nächstes. Aber nach jetzigem Stand wäre selbst ein großer Syriendeal 2025 ein Riesenerfolg.
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