1.-Mai-Prozess: Tumulte im Gerichtssaal
Weiter Haft für zwei Schüler, die am 1. Mai einen Molotowcocktail geworfen haben sollen. Mitschüler und Angehörige fordern ihre Freilassung.
Als Richterin Petra Müller verkündet, dass die Angeklagten in Haft bleiben müssen, verliert der 17-jährige Rigo B. die Fassung. "Na klar", ruft er der Richterin entgegen, hält sich die Hände vors Gesicht, beginnt zu weinen. Zehn Prozesstage lang hatten Rigo B. und Yunus K. still dem Vorwurf des versuchten Mordes wegen eines geworfenen Molotowcocktails gelauscht. Am Dienstag, dem 11. Prozesstag, bricht die ganze aufgeladene Spannung des Prozesses vor dem Landgericht auf.
Rigo B.s Eltern eilen zu ihrem Sohn, nehmen ihn in den Arm. "Was wollt ihr denn noch?", ruft der Vater den Richtern zu. Auch Yunus K., 19 Jahre, weint. "Skandal", schimpfen einige Zuhörer im Publikum, andere schluchzen. Die Schwester von Rigo B. erleidet einen Weinkrampf. Richterin Müller muss die Verhandlung unterbrechen.
Yunus K. und Rigo B. sollen am 1. Mai am Kottbusser Tor in Kreuzberg einen Brandsatz auf Polizisten geworfen haben. Der Wurf verfehlte die Beamten, Teile der brennbaren Flüssigkeit verletzten aber eine umstehende Frau schwer. Zwei Polizisten hatten ausgesagt, die Angeklagten bei der Tat gesehen und anschließend festgenommen zu haben.
Die Haft werde aufrechterhalten, hatte Müller begründet, da sich im Prozessverlauf an den Aussagen der Polizisten "keine ernsthaften Zweifel" gezeigt hätten. Wegen einer zu erwartenden hohen Strafe bestehe weiter Fluchtgefahr der Schüler. Es ist das erste Mal, dass das Gericht die bisherigen Beweise und Zeugenaussagen in dem Prozess öffentlich bewertet. Für die Schüler wird es nun eng, denn Müller folgt mit ihrem Beschluss überwiegend der Anklage.
Kopfschüttelnd verfolgen die Verteidiger die Worte der Richterin - und kündigen einen erneuten Befangenheitsantrag gegen das Gericht an. Vor anderthalb Wochen hatte die Strafkammer einen ähnlichen Antrag abgelehnt. Ihre Mandanten bestritten die Tat und seien Opfer einer Verwechslung, so die Anwälte. Alles beruhe auf den beiden Polizisten, die keineswegs glaubwürdig, sondern widersprüchlich ausgesagt hätten. Objektive Beweise wie Videoaufnahmen oder Benzinspuren an der Kleidung der Angeklagten gebe es nicht. Stattdessen hätten Zeugen, die die Brandsatzwerfer gesehen hatten, Yunus K. und Rigo B. als Täter ausgeschlossen. "Im Zweifel für die Angeklagten", betont Verteidiger Ulrich von Klinggräff. "Welche Zweifel denn noch?"
Die Anwälte kritisieren auch die zähen Ermittlungen gegen zwei andere Jugendliche zu dem Molotowcocktailwurf. Einer davon war auf einem Foto von Zeugen als der vermeintlich tatsächliche Brandsatzwerfer erkannt worden. Laut Strafkammer wird auch gegen ihn "umfangreich ermittelt".
Bereits am Montagabend hatten sich in der ehemaligen Schule von Yunus K., der Freien Waldorfschule Mitte, mehr als 150 Mitschüler und Angehörige zu einer Informationsveranstaltung versammelt. Auf einer Bühne vor dem Banner "Freiheit für Yunus und Rigo" sprachen Eltern, Anwälte, Freunde und Lehrer über den Prozess. "Es ist eine unerträgliche Zeit", sagte der Vater von Yunus K. Sein Sohn habe "nichts, gar nichts" mit dem Brandsatzwurf zu tun. Die Zeit in der Haft habe Yunus "runtergezogen und angeknackst". Es müsse endlich einen Freispruch geben. Die Mutter einer Mitschülerin beklagte den politischen Druck auf den Prozess: "Hier schleicht sich Politik in den Gerichtssaal, wo sie nichts zu suchen hat."
Die Versammelten beschlossen, dass der "skandalöse" Prozess mehr in der Öffentlichkeit bekannt werden müsse. "Wenn wir alle zusammenhalten, kriegen wir sie da raus", sagte der Vater von Rigo B. Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.
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