Taufe oder Tod

Der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt versucht in einer Studie zu beweisen, dass das Christentum immer tolerant war. Eine streitbare These, die er faktenreich zu belegen sucht

VON ROBERT MISIK

Es ist ein erbitterter Streit, der da in den Geisteswissenschaften tobt: ob die Religionen grundsätzlich gut oder eher schlecht sind; ob nicht gar der Monotheismus eine eigentümliche Unduldsamkeit, die Unterscheidung in wahren und falschen Glauben eingeführt hat, dessen Folge eine ununterbrochene Gewaltgeschichte war; und ob schließlich die liberalen Demokratien des Westens das christliche Erbe als Fundament benötigen oder ob die Religionen weitgehend aus dem öffentlichen Spiel rausgehalten werden müssen.

Gerade eben haben sich der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas und sein italienischer Kollege Paolo Flores d'Arcais ein kleines Scharmützel in der Hamburger Zeit geliefert. Die „Hilfe“ der Religion für den Zusammenhalt demokratischer Gesellschaften sei eine „bedrohliche Hilfe“, so Flores d'Arcais: „In der Regel ist die Religion eine sichere und permanente Versuchung zum konfessionellen Machtmissbrauch gegen die Demokratie.“ Der italienische Agnostiker hatte Habermas direkt angegriffen, weil der seit seinem legendären Gipfeltreffen mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger die Bedeutung des Religiösen für den Wertehaushalt liberaler Demokratien hochhält.

Hinter alldem steht gewissermaßen die Frage: Ist das Christentum eigentlich ein Segen für den liberalen weltanschaulich neutralen Staat? Oder ist es mit seiner Gewaltgeschichte, mit seinen neurotisierenden Sündenlehren, mit den moralischen Gewissheiten und seinem Anspruch, die moralische Lebensform einer Gesellschaft zu strukturieren, eher ein Fluch? „Der Fluch des Christentums“ hatte ja der Berliner Philosoph Herbert Schnädelbach schon vor einigen Jahren eine heiß umstrittene Polemik übertitelt.

Der Religionshistoriker Arnold Angenendt hat sich damals über Schnädelbachs Aufsatz offenbar sehr geärgert. Und sich daran gesetzt, das definitive Buch über das „Christentum zwischen Bibel und Schwert“ zu schreiben. Titel: „Gewalt und Toleranz“.

Es ist eine beeindruckende Studie, die erst langsam wahrgenommen wird, aber eines ist sicher: Wer über das Verhältnis von eifernder Kreuzzugsmentalität und christlicher Friedensbotschaft, von inquisitorischer Strenge und religiöser Toleranz substanziell mitreden will, kommt künftig um Angenendts Buch nicht mehr herum.

Der Autor hat ein Ziel: Er versucht zu zeigen, dass der Monotheismus und die christlichen Kirchen im Besonderen eine ganze Reihe von Fortschritten brachten, die die moderne Toleranz, den Individualismus und die Rechtsstaatlichkeit vorbereiteten. Zunächst hat erst der Monotheismus, der den Mensch in ein Zwiegespräch mit dem einen Gott verwickelte, „die Entstehung des inneren Menschen“ ermöglicht, so Angenendt. Weil nicht mehr Opfer, sondern ein gottgefälliges Leben die Götter besänftigen sollten, bedeutete dies eine Vergeistigung, die erst das geschaffen hat, was wir heute „Gewissen“ nennen.

Darüber hinaus klopft Angenendt auch eine Reihe von Geschichtsmythen auf ihren Realitätsgehalt ab. So hat sich das Christentum lange Zeit von den Mächtigen ferngehalten. Erst mit dem Erfolg des Christentums wandte sich die Oberschicht der Kirche zu. Dies führte dann zu der wachsenden Symbiose der feudalen Herrschaftsklasse mit der Kirche. Papst Pius VI. nannte die Freiheitsrechte, die die Französische Revolution proklamierte, einen „Wahn“.

Freilich, das religiöse Eiferertum, die Unbedingtheit, mit der Andersgläubigen begegnet wurde, ging dennoch nicht in erster Linie immer von Bischöfen und Päpsten aus. Die plädierten erstaunlich oft für Toleranz, wenn die weltlichen Mächte schon zum Schwert griffen. Erstens, weil ein erzwungener, unfreiwilliger Glaube in ihren Augen nutzlos war und zweitens gewaltsames Vorgehen gegen Anders-, Un- oder Irrgläubige gegen Gottes Willen verstoßen würde. Schließlich gebe es auch beim schlimmsten Häretiker noch „Hoffnung auf Bekehrung und Rettung“.

Dass diese Prinzipien mit der Promotion des Christentums zur Staatsreligion seit der Amtszeit des römischen Kaisers Konstantin nicht gerade vorbildlich eingehalten wurden, war mehr eine zentralstaatliche Strategie als eine religiöse. Der Zentralstaat wollte eine homogene Bevölkerung und unterschiedliche Religionen nicht dulden. Und wenn dann neue Gebiete hinzuerobert wurden, hieß das für die betroffenen Völker: Taufe oder Tod.

Noch die Inquisition, heute ein Synonym für religiöse Verfolgung, hat ihre ambivalenten Seiten. Sie forderte klare Beweise und zweifelsfreie Zeugen für die Untaten der Angeklagten, war also, vor allem im Verhältnis zum bis dahin historisch Üblichen, geradezu vom Geist der Rechtsstaatlichkeit durchdrungen. Weil aber als sicherster Beweis das Geständnis galt, zog das, so Angenendt, „eine böse Folge nach sich: die Folter“. Doch da man schnell erkannte, dass unter schlimmer Tortur die Angeklagten alles gestehen, zog man den Nutzen bald wieder in Zweifel.

So entwickelte die christliche Kirche noch in ihren dunkelsten Epochen Argumente, auf die sich seither humane Geister aller weltanschaulichen Richtungen stützen können. Und so schrecklich gewütet, wie man sich das landläufig vorstellt, hat die Inquisition nicht. In Spanien, wo die Verfolgung am härtesten war, gab es exakt 826 Todesurteile. In Rom, also im unmittelbaren Einflussbereich der Päpste, gab es kein einziges.

Ohnehin sind die Stimmen der Humanität auch im höchsten Klerus nie ganz verklungen. In den Zeiten tumultuarischer Hexenverfolgungen wandten sich Päpste und Bischöfe gegen diese Gewaltaktionen, etwa Gregor VII. „Glaubt nicht, Ihr dürftet Euch gegen Frauen versündigen, die … mit Unmenschlichkeit nach einem barbarischen Brauch abgeurteilt werden.“ Auch während der bestialischen Niedermetzelung und Versklavung der amerikanischen Ureinwohner während der Eroberung des Kontinents erhoben immer wieder Kirchenmänner ihr Wort. Papst Paul III. verfügte 1537 in einer eigenen Bulle, dass die „Indianer … ihrer Freiheit und Verfügungsgewalt über ihre Güte nicht beraubt werden dürfen“.

Auch die Stellung der Frau stellte sich in aller Regel nach der christlichen Missionierung besser dar als davor. Einzelne Kirchenväter haben sich schon früh mit Hinweis auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen gegen die Sklaverei gewandt und den Gefangenenfreikauf zur religiösen Pflicht erklärt. Freilich, auch das Gegenteil wurde oft mit kanonischen Schriften legitimiert – etwa, dass jeder, wie beim Völkerapostel Paulus zu lesen ist, in seinem Stand bleiben solle und Äußerlichkeiten wie Herr oder Sklave völlig irrelevant für das Seelenheil seien.

Die Vorstellung von der unheilvollen Affinität des Christentums zu Intoleranz und Gewalt „kann mit Angenendts Buch als widerlegt angesehen werden“, jubelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einer Besprechung. Nun, man muss nicht gleich zum Kirchenapologetiker werden – erhellend ist die Arbeit in jedem Fall. Und irritierend. Gewiss stellt Angenendt das Christentum in ein zu rosiges Licht. Da in bestimmten Epochen die religiöse Sprache im Grunde die einzige war, mit der Probleme zur Sprache gebracht und Ideen formuliert werden konnten, weil es „säkulare Denker“ angesichts der Dominanz des Christentums schlechterdings nicht gab, kann es gar nicht verwundern, dass auch humane Positionen in religiöser Sprache vorgetragen wurden.

Man kann die These auch leicht abstrus finden, dass das Christentum wegen der Dreifaltigkeit, also der gleichberechtigten Existenz Gottes in drei Betriebsmodi, eine besondere Affinität zu Pluralismus und Gleichberechtigung habe. Und ohnehin könnte man angesichts von Arnold Angenendts vielfältigen Hinweisen auf die kräftigen humanen Prinzipien der christlichen Theologie die Frage stellen, wieso die christlichen Religionen so oft in Gewalttätigkeit verfallen sind, woher die Anfälligkeit kommt, von Kreuzzügen bis Conquistadoren und Kolonialismus, Gewalt christlich zu legitimieren? Ist das nicht sogar ein Symptom für die Gefährlichkeit der Religionen, für eine innere Logik, gegen die die besten Prinzipien und schönsten Lehren offenbar keine Chance haben?

Angenendt hat ein beeindruckendes Plädoyer gehalten. Deswegen muss das Urteil noch nicht Freispruch lauten.

Arnold Angenendt: „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“. Aschendorff Verlag, Münster 2007, 799 Seiten, 24,80 Euro