Rechtsradikale Mordserie: Dieser Verfassungsschutz macht gleichgültig
Das Verhalten der Behörde sorgt dafür, dass Bürger das Vertrauen in den Staat verlieren, sagt der Leiter der Kriminalpolizei in Mitte in einem Gastbeitrag.
Die Lage nach Bekanntwerden der Mordserie dreier Thüringer Neonazis ist gekennzeichnet von viel Nebel und markigen Aussagen politisch Verantwortlicher. Für mich ist nur so viel klar: Von dem, was hier öffentlich dargestellt wird, glaube ich nicht die Hälfte, genau genommen fast nichts. Und ich fühle mich bei Gesprächen mit Kollegen, Freunden, jung oder alt, mit dieser Einschätzung nicht gerade als Außenseiter. Ich halte es für notwendig, den Gesamtkontext bei der Betrachtung voranzustellen, bevor schnelle Entscheidungen getroffen werden, die zurzeit vor allem auf eines abzielen: die Öffentlichkeit besänftigen und dabei den Eindruck von Entschlossenheit vermitteln.
Die aktuellen Mordtaten sind - jede für sich - schon unfassbar genug. Ihre scheinbar ungestörte Fortsetzung aber fühlt sich nach Ohnmacht an. Wenn auch die Verfassung nicht wankt - für tatsächlich oder potenziell Betroffene fällt doch kein kleiner Schatten auf die Wirksamkeit des Schutzes unseres Gemeinwesens. Die Verfassung ist aber vor allem dadurch gefährdet, dass sehr viele Menschen, ohne sich als erklärte Verfassungsfeinde zu sehen, nach und nach das Vertrauen in staatliche Einrichtungen verlieren. Das fängt mit Behördendschungel an und endet bei Institutionen, wie dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit operierenden Verfassungsschutz. Die meisten Bürger haben sich möglicherweise innerlich schon abgewandt: nicht in einem politisch aufgeklärten Entschluss, aber in einer nicht weniger gefährlichen Gleichgültigkeit.
Geheim operierende Behörden sind das Gegenteil von dem, was Menschen unter Transparenz und Rechtsstaatlichkeit verstehen. Das Operieren im Geheimen wäre als allerletztes Mittel -unter strengster Anlegung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, vorheriger Ausschöpfung aller anderen, geeigneten Mittel und unabhängiger Kontrolle - vielleicht noch vermittelbar. Der Eindruck, der sich dem Beobachter aber aktuell stellt, zeigt ein ganz anderes Bild.
Der 49-Jährige ist seit 30 Jahren bei der Berliner Polizei und Leiter der Kriminalpolizei in Berlin-Mitte.
Es ist das Bild einer überbordenden Datensammelwut, bei der kein Mensch mehr darauf vertraut, dass sich die Nachrichtendienste im Sinne von Verhältnismäßigkeit eine aus sich heraus bestimmte Bescheidenheit auferlegen. Eine Datensammelwut, die im Fall der Neonazi-Morde dennoch nicht zu den Tätern führte. In Skandalsituationen wie gerade wird trotzdem flugs die Vorplanung für die Erweiterung von Aufgaben und Personal hervorgezaubert. Wir erweisen uns als handlungsfähig und entscheidungsbereit.
Nur leider in die falsche Richtung.
Die Kritik am Verfassungsschutz nach der Aufdeckung einer jahrelangen Neonazi-Mordserie wird auch in Berlin lauter. "Verfassungsschutzbehörden, die 13 Jahre lang nicht eine mordende rechte Terrorzelle finden, müssen sich nach ihrer Existenzberechtigung fragen lassen", stellt Grünen-Rechtsexperte Dirk Behrendt klar. Inwieweit der Verfassungsschutz Fehler begangen habe oder gar in Straftaten involviert war, müsse "schonungslos auf den Prüfstand", so Behrendt. Auch müsse geprüft werden, ob Landesämter künftig verzichtbar seien.
Heftige Kritik kommt auch aus der Linkspartei. "Die Verfassungsschutzämter sind ungeeignet, um rechtsextreme Strukturen zu bekämpfen", sagt Fraktionschef Udo Wolf. Beim Einsatz von V-Leuten bestehe immer Gefahr, dass Staatsgelder der Szene zugute kämen. Wolf fordert eine unabhängige Beobachtungsstelle zum Rechtsextremismus, zusammengesetzt aus Wissenschaftlern und Initiativen. "Dort ist das Know-How ohnehin meist größer als beim Verfassungsschutz."
Die SPD verabschiedete auf ihrem Landesparteitag am Montagabend einstimmig eine Resolution gegen Rechtsterrorismus. Die Partei sei "schockiert" darüber, dass die Ermittlungsbehörden keinen Zusammenhang zwischen den "rassistischen Morden" erkannt haben, heißt es in dem Papier.
Weiter gehen die Jusos. "Wozu brauchen wir eine Behörde, die finanziell Nazistrukturen stützt und schafft?", heißt es in einer Mitteilung. "Eine Abschaffung des Verfassungsschutzes würde diesen Geldfluss stoppen." Zur Aufklärung der Mordserie müsse "schonungslos mit den zuständigen Behörden umgegangen werden". KO
Die geheim operierenden Institutionen werden auf diese Weise selber zur Gefahr für die Verfassung, weil unser Grundgesetz nur dann nachhaltigen Bestand hat, wenn seine Bürger die staatlichen Handlungsfelder verstehen und grundsätzlich auch dahinterstehen. Verfassungsschutzbehörden, die auch nur den Anschein erwecken, als würden sie durch ihre Praktiken Organisationen wie die NPD wenigstens teilweise eher zu Vitalität verhelfen, als diese in ihrer Verfassungsfeindlichkeit zu bekämpfen, gefährden nicht nur ihre Glaubwürdigkeit. Der Staat und seine Einrichtungen geraten im Ganzen in Misskredit.
Was unsere Gesellschaft braucht, ist deshalb mehr Stärkung dessen, was unsere Verfassung ausmachen kann, und weniger Verfassungsschutz-Institutionen, die Vertrauen zersetzen können und deren Arbeitsergebnisse nicht überzeugen. Unsere eigene, höchstpersönliche Verfassung und Haltung zum Gemeinwesen, unsere Bereitschaft zu Mitwirkung und Teilhabe bei einem nie endenden Entwicklungsprozess schützt unsere Verfassung am stärksten. Hierzu kann jeder seinen Beitrag leisten.
Wichtig ist aber, dass hierin ein Sinn erkannt wird und frustrierende Erlebnisse nie ein Maß erreichen, das jede konstruktive Mitwirkungsbereitschaft erstickt. Wir brauchen deshalb politisch aufgeklärte Menschen, vor deren Einmischung sich dieses Gemeinwesen nicht fürchtet.
Tatsächlich müssen Politik und Justiz auf Nazi-Provokationen reagieren. Was wir in den letzten Jahrzehnten erleben, ist wenig geeignet, das Vertrauen zu stärken. Die NPD gehört nicht in das Spektrum demokratischer Parteien. Ihre Menschenverachtung ist offensichtlich. Das zu erkennen, bedarf nicht der Infiltration mit einer Vielzahl von V-Leuten, also Personen, die der Szene angehören, aber - aus meist weniger rühmlichen Motiven - Informationen an die Dienststellen weitergeben, wenn es für ihre Interessen passt.
Und: Eine Mordserie ist kriminalistisch zusammenzuführen. Das gilt für jede Art von dahinterstehender Motivation. Ob es im vorliegenden Fall an der Fantasie für ein zusammenführendes "rechtes Motiv" gemangelt hat, weiß ich nicht. Es ist jedenfalls keine vordringliche Frage von Verfassungsschützern, sondern kriminalistisches Handwerk. Wenn im Rahmen der Ermittlungen erhebliche Probleme entstehen, ist es durchaus möglich, im Strafermittlungsverfahren mit verdeckten Ermittlern - also Polizeibeamten - oder mit Vertrauenspersonen zusammenzuarbeiten. Hierbei sind aber Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter beteiligt.
Mein vorläufiges Fazit. Erstens: NPD verbieten, auch um den Preis eines relativen Rückzugs von V-Personen und verdeckten Ermittlern. Zweitens: Strafrechtlich relevantes Verhalten mit den rechtsstaatlichen Mitteln bearbeiten und bekämpfen. Das sind die Polizei, die Staatsanwaltschaft und schließlich die Gerichte. Drittens: Eine öffentliche und kritische Diskussion der Erforderlichkeit unserer Verfassungsschutzdienste. Eine stärkere Kontrolle dieser. Zu denken wäre an Gremien, die sich zum Beispiel aus Parlamentariern, Kriminalbeamten und Richtern zusammensetzen könnten. Und viertens: die Werte der Verfassung durch Teilhabe stärken. Politik und Wirtschaft wieder zurück zu den Interessen der Menschen orientieren und Tendenzen zu elitären Parallelgesellschaften eindämmen.
Hat noch jemand Vorschläge?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz