Bildband zu DDR-Fotografin: Den Kollektivgeist sparte sie sorgsam aus
Im Auftrag des DDR-Regimes fotografierte Sibylle Bergemann das Werden des Marx-Engels-Denkmals. Wie freigeistig sie war, beweist ein Bildband der Serie.
„Die Fotografie ist immer eine Bekundung einer Weltauffassung.“ Ein gerader Satz, ein schöner Satz. Die Fotografin Sibylle Bergemann hat ihn geschrieben, man findet ihn im wunderbaren Katalog zur Bergemann-Retrospektive in der Berlinischen Galerie „Stadt, Land, Hund“.
Diesen Satz kann man mitnehmen und mit ihm auf die vielleicht bekannteste Sibylle-Bergemann-Werkgruppe „Das Denkmal“ blicken. Die dokumentarische und zugleich subtil kommentierende Bilderreihe erscheint nun als eigenständiger Band.
Der Satz gewinnt an Gewicht, wenn man all die Aufnahmen von Vorstudien und Überlegungen zu ebenjenem Denkmal betrachtet, dem Marx-Engels-Forum in Ostberlin. Da finden sich Eindrücke aus dem Atelier des Bildhauers Ludwig Engelhardt, von verschiedenen Fertigungsstufen aus der Kunstgießerei und schließlich vom Aufstellen zweier großer Bronzeplastiken, 1986 wurden sie eingeweiht.
Frei von Arbeiterschweiß und Pathos
Das Denkmal mit Karl Marx (sitzend) und Friedrich Engels (stehend) war Ergebnis einiger Wirren: Es blickt auf die mithin allertoteste Ecke der Stadt. Die SED hatte den Ort 1950 für das wichtigste Denkmal des Landes vorgesehen und das zerbombte Stadtschloss abreißen lassen.
Stadtplaner und Architekt Hermann Henselmann wollte hier einen Kulturpalast nach Moskauer oder Warschauer Vorbild hochziehen. Finanzprobleme verzögerten alles, entsorgten still auch die Idee mit den 25 Meter hohen Statuen. 1973 dann neuer Versuch, Ludwig Engelhardt kam ins Spiel, zwei Jahre später fiel der heikle Auftrag, die Arbeiten zu den Skulpturen fotografisch zu begleiten, in die Hände von Bergemann. Eine vielleicht überraschende Wahl.
Sibylle Bergemann, geboren 1941, aufgewachsen bei Berlin, gehörte stilistisch nicht zum fotografischen Humanismus, der in der DDR gefordert und gefördert wurde. Ihre Aufnahmen für freigeistigere Publikationen wie Das Magazin, die Kulturzeitung Sonntag und schließlich für Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur hatten wenig gemein mit dem Aufbau-Jubilismus und Nach-vorne-schau-Pathos, auf den die Kontrollorgane pochten.
Öfter wird ihr eine Art Lückenschluss zwischen der humanistischen Schule, poetisch-verträumten Kompositionen und konzeptueller Fotografie zugeschrieben. Vor allem diese, nicht von den Heldenfiguren des selbsternannten Arbeiter-und-Bauern-Staates getragene Fotografie, bekam in der DDR wenig Raum.
Wie nah Bergemanns Serie daran siedelte, lässt der Band erkennen, obwohl er noch tiefer ins Archiv greift. Sibylle Bergemann hatte bis zu ihrem Tod 2010 nämlich nur 22 Aufnahmen zur Publikation freigegeben. In der ursprünglichen Reihe fällt die Abwesenheit von Menschen auf, ganz so, als wolle Bergemann das überall klingelnde Pathos von Kollektivgeist und Arbeiterschweiß sorgsam aussparen.
Gleichwohl sehen wir Arbeit und Mühen: Da wachsen grobe Figurenskizzen aus Tonschichten, flüchtig übereinandergeworfen, Leiterchen und Treppchen daneben. Trageseile halten Teile der Abgüsse. Bergemann destilliert die Mühen aus nebeneinanderliegenden Texturen, Gips und grobes Leinen, Holzstufen und Metallfassungen, raue Seile und feingeschliffener Stein.
Sibylle Bergemann: „Das Denkmal“. Hrsg. von Sonia Voss, Frieda von Wild, Lily von Wild. Kerber Verlag, Berlin 2025, 160 Seiten, 45 Euro
Sie dokumentiert einen langsamen, keineswegs planvollen Prozess. Allenfalls einmal sitzt Ludwig Engelhardt im Halbdunkel, von uns abgewandt vor den Skulpturen, in einem Wäldchen aus Lichtstativen, wie ein Regisseur bei der Probe. Aus der Körperhaltung lässt sich nichts Heroisches herauslesen, vielleicht glückliche oder aber ratlose Erschöpfung.
Allegorische Aufladung
In einer Einordnung schreibt Sonia Voss dazu über die exemplarische Rolle, die Bergemanns Denkmal-Serie einnimmt, dass sich die Fotografin „mehr für die Ästhetik der miteinander harmonisierenden Gegenstände als für den menschlichen Aspekt ‚interessiert‘; sie befreit ihre Fotografien vom sozialen Diskurs; sie zieht die Feier von Alltagsgegenständen der Feier anerkannter Symbole vor.“
Die Ambivalenz tränkt auch die Aufnahmen der Figuren des Denkmals und lädt sie allegorisch auf: In berühmten Bildern sitzen und stehen Marx- und Engels-Torsi kopflos, gut vertäut, vor dräuenden Wolken. Ein tonnenschwerer Engels schwebt, in prekärer Balance gehalten, über dem alten Schlossplatz.
Er scheint die Plattenbaumitte der Hauptstadt der DDR aus dem Lot zu heben. Wie Aufnahmen von grob verhüllten Gestalten lässt sich alles wahlweise als Aufbau oder Dekonstruktion lesen: Mit langer Verspätung wurde das Forum 1986 eingeweiht.
Sibylle Bergemann blickt nicht nur auf den langen Prozess, den es braucht, um staatlich verordnete Pathosformeln zu unterlaufen. Sie dokumentiert auch dessen Flüchtigkeit. Darin findet man einiges von ihrer Weltauffassung.
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