Nachruf auf Paolo Virno: Verweigerung der Spielregeln
Der italienische Philosoph Paolo Virno gehörte zu den Vertretern des postoperaistischen Marxismus. Ein Nachruf auf einen linken Denker.
In den Gesellschaften der Gegenwart findet Arbeit längst nicht mehr nur als Tätigkeit von Hand und Kopf statt. Sich auszutauschen, zu kommunizieren, dabei Gefühle zu investieren, zu kommunizieren, all das ist Teil der kapitalistischen Wertschöpfung geworden. Dass auch die gesamten Kenntnisse und das Wissen einer Gesellschaft in die Arbeit mit einfließen, erscheint in algorithmisch formierten Zeiten selbstverständlich. Theoretisch herausgearbeitet wurden diese Veränderungen bereits vor Jahrzehnten im Rahmen des postoperaistischen Marxismus, zu dessen Vertreter:innen der Philosoph Paolo Virno gehörte.
Der Operaismus, benannt nach dem italienischen Wort für Arbeiter (operaio), bildete sich als radikale, linke Strömung im Italien der 1960er Jahre heraus und beeinflusste die sozialen Bewegungen der 1970er stark. In diese war auch der 1952 in Neapel geborene Virno als Aktivist und Autor involviert. 1979 wurde er verhaftet und verbrachte wegen „subversiver Aktivitäten“ drei Jahre im Gefängnis. Nach einem späteren Freispruch arbeitete Virno, der über Adorno promoviert hatte, als Philosophieprofessor in Urbino, Cosenza und Rom.
Spätestens mit den globalisierungskritischen Bewegungen und dem Bestseller „Empire“ von Antonio Negri und Michael Hardt wurde auch Virnos Ansatz im deutschsprachigen Raum rezipiert, seine Bücher „Grammatik der Multitude“ (2005) und „Exodus“ (2010) erschienen im Verlag Turia + Kant, die Zeitschrift Texte zur Kunst widmete ihm ein ausführliches Interview (2006). Dessen Titel, „Ihr seid Euer Potential“, bringt vielleicht die stets ermutigende Haltung Virnos schön auf den Punkt, der trotz aller Eingebundenheit der menschlichen Fähigkeiten in die kapitalistische Verwertung optimistisch blieb.
Die Flucht war seine Option: Den Exodus verstand er nicht als Abhauen, sondern als grundlegende Verweigerung, sich den gegebenen Spielregeln zu unterwerfen. Mit Virno, der am 7. November 73-jährig starb, verliert die Linke eine inspirierende Stimme.
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