 
Jüdische Gemeinden in Hamburg: Streit ums jüdische Erbe
In Hamburg soll die große Synagoge wiederaufgebaut werden. An dem Bau entzünden sich auch widerstreitende Interessen in der jüdischen Gemeinde.
P rotokollarisch ist das Ereignis von erstem Rang: Die Spitzen von Senat und Bürgerschaft sind in das jüdische Gemeindezentrum im Hamburger Grindelviertel gekommen, dort wo auch der Unicampus liegt. Es gilt, ein fast 90 Jahre altes Unrecht zu korrigieren – die Zerstörung von Norddeutschlands größter Synagoge während des Pogroms am 9. November 1938.
An Stellwänden im Gemeindesaals sind Architekturentwürfe zu sehen: Seitenansicht, Aufriss, Vogelflugperspektive. Wiedererrichtet werden soll die Synagoge am ehemaligen Bornplatz, weithin sichtbar, im neoromanischen Stil, ungefähr so, wie sie 1905 erbaut wurde.
Geplant ist ein ganzes Ensemble von Gebäuden, das künftig ein Zentrum des jüdischen Lebens in Hamburg sein soll – anknüpfend an die jüdisch geprägte Geschichte des Grindelviertels. Doch bei dem versöhnlich-optimistischen Plan wollen nicht alle mitspielen.
Das Problem ist, dass neben der Jüdischen Gemeinde Hamburg (JGH) eine zweite Gemeinde entstanden ist, die sich von der JGH nicht vereinnahmen lassen will.
Die JGH mit rund 2.300 Mitgliedern sieht sich selbst als Rechtsnachfolgerin der Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu Hamburg, eines Dachverbandes großer, unterschiedlich ausgerichteter Vorkriegsgemeinden, die mit der Ermordung der Juden durch die Deutschen untergingen. Bereits im September 1945 gründeten 72 überlebende Juden die Nachfolgegemeinde, die sich schon mangels Masse als Einheitsgemeinde verstand, das heißt zumindest dem Anspruch nach als spirituelle Heimat für alle praktizierenden Juden.
Wesentlich jünger oder – je nach Lesart wesentlich älter – ist die Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg. Sie wurde 2004 nach Konflikten mit dem orthodox ausgerichteten Vorstand der JGH gegründet und hat circa 340 Mitglieder. Seit 2022 tritt sie mit dem Zusatz Israelitischer Tempelverband auf. Mit diesem Namen versucht die Liberale Gemeinde an die Gründung des reformierten Judentums 1817 in Hamburg anzuknüpfen, das sich von hier aus über die ganze Welt verbreitete.
Verfasst als Neuer Israelitischer Tempelverein war es aus dem Bedürfnis entstanden, den als erstarrt und nicht mehr zeitgemäß empfundenen Gottesdienst zu modernisieren und für ein bürgerlich-deutsches Publikum attraktiv zu machen.
Seine Gründerväter sprachen vom Bedürfnis, „den fast erkalteten Sinn für die ehrwürdige Religion der Väter wieder zu beleben“. Der alte Gottesdienst habe sich überlebt, „er war zu einer leeren Form geworden, das Hersagen von unverständlichen Gebeten, der abstoßende Gesang der Vorbeter, das lärmende Treiben in den Synagogen waren nicht mehr zeitgemäß, sie brachten keine Erbauung, befriedigten das Andachtsbedürfnis nicht“. So zitiert es eine Festschrift zum 120-jährigen Bestehen des Israelitischen Tempels.
 
Auch mit dem Tempelverein verbindet sich ein Gebäude: In einem Hinterhof in der Hamburger Neustadt befindet sich die wahrscheinlich älteste reformierte Synagoge der Welt, wenn auch nur als Ruine erhalten. Das dreischiffige Gotteshaus wurde 1842 bis 1844 im klassizistisch-neugotischen Stil erbaut. Es war die zweite Synagoge des Tempelvereins, und weil sie noch erhalten ist, gilt sie als Geburtsstätte des Reformjudentums. Der Tempelverein will sie wiederhaben.
Bornplatzsynagoge
Die 1938 niedergebrannte Synagoge am Bornplatz – heute Joseph-Carlebach-Platz – zählte zu den größten Synagogen Deutschlands. Mit ihrer 40 Meter hohen Kuppel prägte sie das Stadtbild.
Wiederaufbau
Die Idee, eine neue Synagoge zu errichten, entstand nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle. Im Januar 2020 sprach sich die Bürgerschaft für einen Wiederaufbau aus. Der Bund gibt 65 Millionen Euro für das Projekt, noch einmal so viel soll vom Land kommen.
Architekturwettbewerb
Der Siegerentwurf des Architekturwettbewerbs schlägt den Wiederaufbau in Form einer Abstraktion vor. Zusammen mit Nebengebäuden soll die Synagoge in einen frei zugänglichen Park eingebettet werden. Alle Entwürfe sind noch bis zum 10. November in der Diele des Hamburger Rathauses zu sehen.
Doch mit welchem Recht eigentlich? Kann ein mit 70 Jahren Abstand gegründeter Verein einfach die Nachfolge des alten Tempelverbandes beanspruchen? Die JGH meint: nein.
Mehr noch: Sie klagt sogar gegen diesen Anspruch. Im vergangenen Jahr schickte sie dem Tempelverband eine Abmahnung mit der Aufforderung, „Falschbehauptungen zu seiner Entstehungsgeschichte zu unterlassen“. Der Tempelverband sei mitnichten eine Institution, die 200 Jahre zurückreiche, sondern ein 2004 gegründeter Verein, der sich im Übrigen erst seit 2022 Tempelverband nenne.
Der JGH ist das wichtig, weil sie sich selbst als Rechtsnachfolgerin der Deutsch-Israelitischen Gemeinde zu Hamburg, eines Dachverbandes großer Vorkriegsgemeinden sieht, zu dem auch der Tempelverein gehörte. Die JGH sehe sich „verpflichtet, dem falschen Narrativ des Tempelverbandes als Rechtsnachfolger des historischen Tempelvereins sowie Hauptvertreter des liberalen Judentums in Hamburg“ entgegenzutreten, sagte Philipp Stricharz, der Vorsitzende der JGH dem Hamburger Abendblatt.
Alleinvertretungsanspruch bestritten
Der Tempelverband betont, dass die JGH keinen Alleinvertretungsanspruch für die jüdischen Gemeinden Hamburgs geltend machen könne. Seine Anwälte verweisen auf eine entsprechende Einschätzung des Senats aus dem Jahre 1958 sowie der britischen Militärregierung 1946.
Die Briten verwiesen darauf, dass die Vereinigung sämtlicher jüdischer Gemeinden 1937 auf Druck der Gestapo zustande gekommen sei. Eine Gemeinde zur Rechtsnachfolgerin „der zahlreichen Gemeinden und Verbände in Hamburg“ zu erklären, würde diesen Zustand verewigen.
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Für den Tempelverband ist das ein Argument gegen seine Vereinnahmung durch die JGH. Ende Juni bekräftigte er seinen Anspruch auf Eigenständigkeit und darauf, selbst die historische Kontinuität zu verkörpern – zumindest des Reformjudentums: Er klagte beim Verwaltungsgericht auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, was ihn mit der JGH gleichstellen würde.
Und nicht nur das: Der Tempelverband möchte als „altkorporiert“ gelten, das heißt als Körperschaft, die schon vor dem Krieg bestand – eine weitere Provokation für die JGH.
Unterstützung aus New York
Zur Bekanntgabe der Klage flog der Tempelverband Rabbi Sergio Bergman aus New York ein, den Vorsitzenden der World Union for Progressive Judaism (WUPJ) mit zwei Millionen Mitgliedern. Der Israelitische Tempelverband Hamburg stehe „in direkter historischer und institutioneller Kontinuität mit der Gründung des Reformjudentums 1817“, argumentiert die WUPJ. Seit 1868 bezeichne sie sich als Tempelverband und sei 1894 von der Hansestadt Hamburg als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt worden.
 
Dem widerspricht der Hamburger Senat: Eine Prüfung unter Beiziehung eines Gutachtens habe ergeben, dass nicht der damalige Tempelverein sondern der Dachverband, dem der Tempelverein angehörte, Körperschaft des öffentlichen Rechts gewesen sei. Dazu komme, dass sich auch eine Rechtsidentität der 2004 gegründeten Liberalen Gemeinde nicht bestätigen lasse. Die Nachfolge einer Vorkriegsgemeinde antreten zu können, setze eine unmittelbare Kontinuität voraus. Dagegen spreche schon die viele Zeit, die zwischen 1945 und 2004 vergangen sei.
Indes betont der Senat, er lege äußersten Wert darauf, beide Gemeinden gleich zu behandeln. Bei Veranstaltungen wie dem Festjahr „1.700 Jahre jüdisches Leben“ 2021 und 2022 würden stets alle eingeladen, sich zu beteiligen. Landesleistungen an die Gemeinden würden grundsätzlich pro Kopf bezahlt – neben Zahlungen für besondere Einrichtungen wie Schulen.
Der Senat hat dem Tempelverband in der ehemaligen Israelitischen Töchterschule im Karolinenviertel die „Einweihung der ersten liberalen Synagoge in Hamburg seit der Shoah“ ermöglicht, wie der Tempelverband selbst vermeldete. Und er hat die ehemalige Synagoge des Tempelvereins in der Poolstraße erfahrbar gemacht. Seit ein paar Monaten ragt aus einem Torbogen ein Schild mit einem QR-Code, der zu einem virtuellen Rundgang durch die Ruine im Hinterhof führt.
Wunsch auf Unterstützung
Der Tempelverband weiß das zwar zu würdigen – es reicht ihm aber nicht. Er begrüße es, dass die Bornplatzsynagoge wieder aufgebaut werden solle, teilte er mit, um zu ergänzen: „Wir würden uns auch dieselbe Aufmerksamkeit und Unterstützung wünschen, um wieder ein blühendes liberales Judentum in Hamburg zu fördern.“ Wenn die JGH eine historische Kontinuität behaupte und ihr Grundstück zurückbekomme, müsse das auch für den Tempelverband gelten.
Das Misstrauen gefördert haben die Vorgänge um die Wiederbesetzung des Hamburger Antisemitismusbeauftragten. 2021, bei der erstmaligen Besetzung des Ehrenamtes, hatten beide Gemeinden Stefan Hensel, Geschäftsführer eines Trägers der Kinder- und Jugendhilfe, zum Beauftragten für Jüdisches Leben sowie die Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus vorgeschlagen.
Drei Jahre später war beim Tempelverband von dem Vertrauen in Hensel nicht mehr viel übrig. Eike Steinig, stellvertretender Vorsitzender des Tempelverbandes, warf Hensel vor, seine Mitgliedschaft in der JGH verschwiegen und den Tempelverband ausgegrenzt zu haben. Hensel erscheine ihm „feindlich gesinnt“, sagte Steinig der taz.
Der Tempelverband hätte sich Hensel zwar weiterhin als Antisemitismusbeauftragten vorstellen können, wegen dessen unterstellter Voreingenommenheit jedoch nicht als Beauftragten für jüdisches Leben. Steinig brachte sich selbst für das Amt ins Spiel. Der rot-grüne Senat entschied sich jedoch, Hensel erneut zu bestellen – ohne Steinigs Bewerbung in Betracht zu ziehen.
Der Tempelverband klagte und bekam Recht: Der Senat müsse das Bewerbungsverfahren unter Berücksichtigung Steinigs fortführen. Inzwischen hat Hensel seinen Rücktritt erklärt. Der „zeitliche Umfang des Amtes in einer Zeit des Anstiegs antisemitischer Übergriffe sowie persönliche Angriffe“ seien die Gründe für diesen Schritt. Er werde das Amt längstens bis Ende des Jahres ausüben.
Zweifel an der Eignung
Der Streit rückte die Rolle der zuständigen Wissenschaftsbehörde in ein schiefes Licht. Behördenintern waren nämlich Zweifel an Hensels Eignung für das Amt laut geworden. In einem Vermerk dazu heißt es: „Aus fachlicher Sicht kann eine Neubestellung nicht empfohlen werden.“ Hensel habe polarisierend gearbeitet, Stakeholder ausgegrenzt und sich zu wenig in der Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus engagiert.
Die zuständige Amtsleiterin wollte diese Bedenken, wie sie eidesstattlich versichert, in die Akten aufnehmen – wogegen sich die Behördenspitze, namentlich die Staatsrätin Eva Gümbel (Grüne) gesperrt habe. Hensel müsse die Stelle wieder bekommen, soll Gümbel in zwei Besprechungen deutlich gemacht haben.
Schließlich entschied sich die Senatorin Maryam Blumenthal (Grüne), die hoch dotierte Beamtin abzuberufen und auf einen untergeordneten, offenbar neu geschaffenen Fantasieposten zu versetzen. Die Beamtin klagte gegen ihre Abservierung – und bekam Recht.
Woran der Beauftragte für jüdisches Leben gescheitert ist – allen Juden gerecht zu werden –, das soll am ehemaligen Bornplatz, dem heutigen Joseph-Carlebach- und Salvador-Allende-Platz, die Architektur richten: Zur Mantelbebauung der wiedererstehenden Synagoge soll als eigenes modernes Gebäude eine Reformsynagoge gehören als Angebot an das liberale Judentum. An sich ein bestechender Gedanke.
Doch an dieser Stelle zeigt sich eine weitere Spaltung. Denn seit neun Jahren gibt es unter dem Dach der JGH eine weitere liberale Gruppe, die „Reformsynagoge“, deren Mitglieder im ehemaligen Israelitischen Krankenhaus auf St. Pauli praktizieren. Mitgründer Michael Heimann betont die Bedeutung der JGH als Einheitsgemeinde für alle Juden. Er habe die Initiative ergriffen, „weil ich ganz stark das Gefühl hatte, dass wir zusammengehören“.
Die Liberale Jüdische Gemeinde in Hamburg habe jedes Recht, eine eigenständige Gemeinde zu sein, sagt Heimann. Was ihn aber geschmerzt habe, sei die Umbenennung in Tempelverband, denn damit gehe ein Alleinvertretungsanspruch einher. „Damit fühle ich mich in meinem Selbstverständnis getroffen“, sagt Heimann.
Aus seiner Sicht ist es kein Problem, liberales Judentum unter dem Dach der JGH zu praktizieren. „Wir sind zwei getrennte Teile der jüdischen Gemeinde Hamburg.“ Sicher sei die Reformsynagoge für Shlomo Bistritzky, den Rabbi der orthodoxen Synagoge, „nicht das Judentum, das er unterstützen könnte“. Die Reformsynagoge habe aber ihren eigenen Rabbi und Kantor. Überdies sehe sich der Vorstand der JGH für alle Juden zuständig.
Dem widerspricht der Tempelverband in einer Pressemitteilung zur Causa Antisemitismusbeauftragter scharf. „Die sogenannte Reformsynagoge fungiert lediglich als Feigenblatt und taucht nicht einmal in der Satzung der Gemeinde auf“, kritisierte der Gemeindevorstand. Es sei geradezu absurd, der nicht jüdischen Öffentlichkeit weiszumachen, man sei offen für alle Richtungen innerhalb des Judentums. „In Wirklichkeit haben liberale Jüdinnen und Juden in der anderen Gemeinde nichts zu sagen.“
Streng orthodox
Vertreter des Tempelverbandes sorgen sich besonders, weil Rabbi Bistritzky der mystischen und streng orthodoxen Chabad-Bewegung angehört. Die Darstellung der sogenannten Einheitsgemeinde als alleinige Repräsentantin jüdischen Lebens sei daher „faktisch unzutreffend und politisch bedenklich“.
Anlässlich des Wiederaufbaus der Bornplatzsyngagoge äußerte sich der Tempelverband versöhnlich. „Herzenswunsch“ der Gemeinde sei es, „dass auch die Synagoge Poolstraße für uns saniert wird und wir sie mit liberalem jüdischem Leben wieder füllen könnten.“ Dafür sollte die Ruine „aus moralischer Verpflichtung an den Israelitischen Tempelverband rückübertragen“ werden.
Von der ehemaligen Synagoge stehen nur noch die Reste der Vorhalle und der Apsis. Lange Jahre arbeitete in der Ruine eine Autowerkstatt. Seit 2003 steht sie unter Denkmalschutz. 2020 hat der Senat sie gekauft und sichern lassen.
Eine Zukunft für das Gebäude soll in einem Workshopverfahren erarbeitet werden, an dem auch die jüdischen Gemeinden und die Nachbarn beteiligt werden. Die nächste Sitzung dazu soll im November stattfinden.
Der Tempelverband hat schon mal verlauten lassen, die Synagogen-Ruine in eine Gedenkstätte des toten liberalen Judentums in Hamburg zu verwandeln, sei eine schlechte Idee. „Das empfinden wir, als lebendige liberale Jüdinnen und Juden, als zynisch.“
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