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Pflegeversicherung unter DruckKürzung ersten Grades

In der Pflegeversicherung fehlen Milliarden. Die Union schlägt die Streichung des niedrigsten Pflegegrads vor. Das trifft vor allem die Angehörigen.

Pflege am Küchentisch: Entlastung gibt es oft nur in kleinsten Portionen Foto: Ute Grabowsky/photothek/picture alliance

Berlin taz | Seitdem durchgesickert ist, dass in Regierungskreisen darüber nachgedacht wird, Pflegegrad 1 ersatzlos zu streichen, winden sich die Verantwortlichen. CDU-Gesundheitsministerin Nina Warken wollte sich nicht festlegen lassen. Die SPD hingegen verwahrte sich gegen die Kürzungen.

Es ist jedenfalls plausibel, wenn darüber nachgedacht werden würde: denn das Sozialgesetzbuch XI (SGB XI), in dessen Rahmen die Pflegegrade organisiert sind, ist seit seiner Einführung unterfinanziert und reformbedürftig. SGB XI wurde 1995 durch Norbert Blüm durchgesetzt, um Pflegebedürftige aus der Sozialhilfe herauszuhalten. Um damals den Koalitionspartner FDP zu überzeugen, opferte Blüm den Buß-und Bettag.

Das SGB XI wird oft als Soziale Pflegeversicherung bezeichnet, das ist aber ein Missverständnis: es ist weder sozial noch im fachlichen eine Pflegeversicherung. Es geht in diesem Gesetz nicht um (fachliche) Pflege, sondern um die Standards einer Grundversorgung – also das bare Minimum.

Und unsozial an SGB XI ist, dass individuelle Bedürfnisse auf Bedarfe heruntergestutzt und verbürokratisiert werden. Beispielsweise möchte eine pflegebedürftige Person mittags gerne eine Hochzeitsuppe essen – es geht nicht nur um die Nahrungsaufnahme, sondern auch um die Erinnerung, den Geschmack, all die biografischen Eigenheiten, die sich an so einer Vorliebe brechen.

Der Grundgedanke war von Anfang an: Irgendeine Frau macht das schon

Martina Hasseler, Pflegewissenschaftlerin

Nach dem SGB XI aber ist der Bedarf: Nahrungsaufnahme. Und wenn eine Hochzeitssuppe zu aufwendig ist, muss eben die Kartoffelsuppe reichen, wenn es nicht gleich Essen auf Rädern wird.

Entsprechend muss die Individualität pflegebedürftiger Menschen von anderer Seite garantiert werden. Das sind in aller Regel pflegende Angehörige. „Das Gesetz ist so gebaut, dass die Hilfebedürftigkeit zuallererst von Angehörigen aufgefangen werden soll und muss“, sagte 2024 die Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler. „Der Grundgedanke war von Anfang an: Irgendeine Frau macht das schon.“ Entsprechend war die Soziale Pflegeversicherung von Anfang an in der Unterfinanzierung.

Wer sind diese pflegenden Angehörigen

Wer diese pflegenden Angehörigen sind, davon hat die Regierung nur ein vages Bild: Sie sind politisch derart vernachlässigt, dass sie nicht einmal gezählt werden. Gezählt werden nur die pflegebedürftigen Menschen: 4,9 Millionen wurden 2023 häuslich versorgt, das sind ungefähr 85 Prozent aller auf Pflege angewiesenen Personen. Im selben Jahr übernahmen bei 3,1 Millionen Pflegebedürftigen ausschließlich Angehörige die Versorgung.

Sie bezahlen dafür einen hohen Preis. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt Gehaltseinbußen von um die 17 Prozent im Vergleich zum Bevölkerungsschnitt. Zwar werden diese Einbußen (noch) durch Transferleistungen weitgehend aufgefangen, aber zum Preis der allgemeinen Lebenszufriedenheit: Die Studie zeigt auch, dass das Stresslevel enorm ansteigt. Das betrifft insbesondere Frauen: circa zwei Drittel pflegender Angehöriger sind weiblich.

Pflegegrad 1 wurde 2017 eingeführt, auch und gerade, um eine leichte Entlastung für pflegende Angehörige zu gewährleisten. Er unterstützt Menschen, die noch nicht auf professionelle Pflege angewiesen sind, und folgt damit dem nominellen Ziel von SGB XI, so lange wie möglich Eigenständigkeit zu erhalten und zu fördern. Neben umfassenden Beratungen und Umbauten in der Wohnung gehören dazu 131 Euro Unterstützung.

Das ist ohnehin wenig, aber nicht nichts: Es geht um solche essenziellen Dinge wie zweimal im Monat eine Putzhilfe finanzieren zu können; oder jemanden zu bezahlen, der die Einkäufe erledigt. Es geht auch um Sturzprophylaxe: darum, Oberschenkelhalsbrüche zu vermeiden, indem die Türschwelle zur Küche eingeebnet, indem die Dusche barrierefrei umgebaut wird. Ende 2024 waren den Angaben zufolge rund 863.000 Menschen im Pflegegrad 1 eingestuft.

Aktuell klafft wieder einmal ein riesiges Loch in den Kassen der Pflegeversicherung: 2 Milliarden fehlen. Und das, obwohl zum 1. Januar 2025 sich der Beitragssatz auf 3,6 Prozent erhöhte (bei Kinderlosen auf 4,2). Erst 2023 waren die Beiträge angehoben worden, damals um 0,35 Prozent. Das liegt zum einen daran, dass die Zahl der Pflegebedürftigen deutlich schneller steigt als vorhergesehen. Zum anderen aber auch, dass seit Jahren eine Reform von SGB XI verschleppt wird.

Erhöhungen um kurzfristige Löcher zu stopfen

Denn all diese Beitragserhöhungen waren nicht dazu gedacht, langfristig eine sichere Finanzierung der Sozialen Pflegeversicherung zu garantieren, sondern kurzfristig Löcher zu stopfen, um sich Zeit zu verschaffen für eine größere Reform.

Allerdings hat bisher jede Koalition neue Ideen mitgebracht, wie eine solche Reform aussehen müsste, und mit jedem Regierungswechsel verschwanden die Kommissionsberichte und Reformentwürfe wieder in den Schubladen. Dass Bundesgesundheitsministerin Nina Warken jetzt den nächsten Ex­per­t*in­nen­be­richt abwarten will, zeigt den Stellenwert der Pflege – und insbesondere der häuslichen Pflege – deutlich an: es hätte in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten genug Möglichkeiten gegeben, sich zumindest eine ungefähre Meinung zu bilden, insbesondere als Gesundheitsministerin.

Die Marschrichtung der Union hat hingegen Generalsekretär Carsten Linnemann vorgegeben: die Beiträge sollen nicht weiter steigen, Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden, alles andere scheint zweitrangig. „Der Wirtschaft die Vorfahrt geben“, hat Markus Söder das genannt. Alternativen zur Streichung des Pflegegrads 1 liegen schon lange vor: möglich wäre eine echte Pflegevollversicherung, die solidarisch finanziert wäre – eine Lösung, für die sich der Paritätische Gesamtverband starkmacht.

Möglich wäre aber auch eine kommunale Lösung, wie sie in Dänemark mit Erfolg praktiziert wird. Möglich wäre auch eine praktische Ausweitung der Pflegeleistungen zur Entlastung der Angehörigen, zum Beispiel der Tagespflege, die aktuell in ländlichen Bereichen nur schwer verfügbar ist.

All diese Modelle liegen seit Langem vor: sie passen aber nicht zur ideologischen Ausrichtung der CDU, die eine Politik der Entlastung ausschließlich für Ar­beit­neh­me­r*in­nen und Ar­beit­ge­be­r*in­nen verfolgt. Eine mögliche Streichung des Pflegegrads 1 ist nur mehr eine weitere Zumutung für jene Menschen, die auf Solidarität angewiesen sind.

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