: Gammeln kommtvonFreude
In der Gammeloase könnendie dementen Bewohner*innen ihre Tage weitgehend selbst gestalten.Routinen gibt es kaum.Wie klappt das?

Aus Marl Katharina Federl (Text) und Magnus Terhorst (Fotos)
Frau Mittmanns Blick wandert durch den Speisesaal. Zwischen ihren Augen bildet sich eine tiefe Falte. Sie ist 84 Jahre alt, hat kurze, rot gefärbte Haare und stützt sich auf ihren Rollator, ohne den sie sich kaum fortbewegen kann. Ihr Ziel ist ein Zweisitzer-Sofa, das nur wenige Schritte vom Eingang entfernt ist. Dort angekommen fragt ein Pfleger, ob sie zugedeckt werden möchte. Frau Mittmann nickt. Fünf Minuten liegt sie unter Decke, dann steht sie auf und löst die Bremsen ihres Rollators. Wenn sie den Speisesaal verlässt, um sich auf eine andere Couch im Nachbarzimmer zu legen, hat sie all das längst wieder vergessen.
Frau Mittmann hat eine fortgeschrittene Demenz, ihr Kurzzeitgedächtnis ist stark beeinträchtigt. Selbst wenn Situationen sich wiederholen, nimmt sie diese immer wieder als neu wahr. Die Pflegenden beobachten sie und fragen hin und wieder, ob sie etwas braucht. Eingreifen würden sie nur in gefährlichen Situationen. Denn in der Gammeloase – so heißt die Demenzstation, in der Frau Mittmann seit Anfang des Jahres lebt – passt sich der Alltag der Pflegenden an die Bedürfnisse der 14 Bewohner*innen an.
Das heißt: kein Weckdienst um sieben Uhr, kein Frühstück um acht Uhr und keine verpflichtenden Beschäftigungen zwischen den Mahlzeiten. Ob die Bewohner*innen sich erst waschen oder Kaffee trinken wollen, entscheiden sie selbst, in der Gammeloase gibt es keine festen Abläufe. Sie ist deutschlandweit die erste und bis vor Kurzem auch die einzige stationäre Einrichtung, die diesen personenzentrierten Ansatz im Umgang mit dementen Menschen konsequent umsetzt. Könnte das Konzept die Pflege von demenzkranken Menschen revolutionieren?
Das therapeutische Gammeln geht zurück auf den Altenpfleger und Sozialwissenschaftler Stephan Kostrzewa. Den Begriff habe er bewusst gewählt, schreibt er in einer Mail aus dem Sommerurlaub, auch wenn er damit aneckt, weil viele ihn mit Faulheit und Nachlässigkeit verbinden. Doch folgt man dem althochdeutschen Wort „gaman“, bedeutet Gammeln so viel wie Lust, Freude oder Spaß.
Im „Kleinen Taschen-Gammler“, einem Demenz-Ratgeber für Angehörige, der in der Gammeloase ausliegt, schreibt Kostrzewa: „Orientieren wir Begleiter uns an diesen Zielen, werden wir weniger Konflikte mit den Demenzbetroffenen haben.“ Dass der Alltag mit Demenz so oft von Spannungen geprägt ist, liege auch daran, dass Angehörige oft nicht verstehen, was mit den Betroffenen passiert, so Kostrzewa. Konflikte entstünden, weil Erkrankte zu Routinen gezwungen würden, die ihnen fremd oder unverständlich sind. Ständig auf ihre Defizite hinzuweisen, kann bei Betroffenen Unruhe, Rückzug oder Wut auslösen. Daher sei es wichtig, dass Menschen mit Demenz unter sich sein können.
Auf gemischten Stationen werden sie jedoch oft von anderen Bewohner*innen korrigiert, mitunter auch gemobbt. Besonders in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung verlieren viele Betroffene die Fähigkeit, ihre Gefühle klar mitzuteilen. Deshalb ist ein Umfeld wichtig, das sensibel auf Körpersprache und Stimmungen reagiert. Die Gammeloase, die seit 2023 zum Julie-Kolb-Seniorenzentrum in Marl, einer Kleinstadt zwischen Münster und Duisburg, gehört, möchte genau dieses Umfeld bieten.
An diesem Donnerstag im Juli ist um die Mittagszeit einiges los im Speisesaal. Herr Köhler kann sich nicht für ein Gericht entscheiden und möchte einen Probierteller, „aber keine Vorlage!“, wie er betont. Gemeint ist wahrscheinlich die Vorspeise. Ihm gegenüber sitzt Frau Neumann, die den Platz neben sich freihält. Für wen, hat sie vergessen. „Nein, nein, nein“, ruft Frau Lemke vom Nachbartisch, auf ihrem Schoß ein Kuschelbär namens Heribert, vor ihr ein Marmeladenbrötchen und drei Tassen Kaffee. Sie ist noch beim Frühstück.
Frau Lemke heißt eigentlich anders, ihre Familie will nicht, dass ihr Nachname in der Zeitung steht. Sie ist mit 60 Jahren die jüngste Bewohnerin der Station und an einer seltenen und schnell fortschreitenden Form der Demenz erkrankt, bei der Nervenzellen im Stirnbereich absterben. Oft setzt diese Demenz schon in jungem Alter ein. Außer „Nein“ und „Aua“ hat Lemke ihren gesamten Wortschatz verloren. Nur wenn man ein ihr bekanntes Lied anstimmt, steigt sie manchmal mit ein. „Atemlos durch die Nacht, Pippi Langstrumpf, da ist alles dabei“, erzählt Christian Löbel, Wohnbereichsleiter der Gammeloase.
Christian Löbel, kurze braune Haare und mindestens einen Kopf größer als die anderen, arbeitet seit mehr als zehn Jahren in dem Seniorenzentrum. Schon sein Freiwilliges Soziales Jahr hat er hier absolviert. Seine Arbeit mache ihm noch immer Spaß, sagt der 29-Jährige, obwohl er oft an seine Grenzen komme. Auf dem Flur grüßt er alle Menschen, die ihm entgegenkommen. Er läuft vom Speisesaal zum Stationseingang, der kaum als solcher erkennbar ist. Nur eine rosafarbene Wand, auf der die sogenannte „Haus(un)ordnung“ abgedruckt ist, zeigt, dass ab hier vieles anders läuft:
Wer möchte, darf Tag und Nacht im Wohnbereich spazieren gehen, alles anfassen und mit sich herumtragen. Die wichtigste Regel: Für die Bewohner*innen gelten erst mal keine. Schiefe Bilderrahmen gehören genauso zur Gammeloase wie unordentliche Kleiderschränke und gepackte Koffer. Tischmanieren sind nicht so wichtig. „In Gemeinschaft schläft es sich auch gut im Sitzen“, steht dort außerdem. Deutlich macht das eine Bewohnerin, die einige Meter weiter friedlich in einem Sessel im Gang döst, ihr Frühstück hat sie kaum angerührt.
Über den verglasten Flur geht es Richtung Wohnzimmer, ein großer, heller Raum mit vielen Sitzmöglichkeiten. Durch eine Fensterfront schaut man in den Garten. An den Wänden hängen bunte Bilder und handgeschriebene Karten. Die meisten kommen von Angehörigen, die sich bei den Pfleger*innen für ihre Zeit und Kraft bedanken.
Laut Löbel unterstützen die Angehörigen das Konzept in der Regel, auch wenn manche anfangs von den fehlenden Strukturen irritiert sind. Sie sind rund um die Uhr willkommen, denn „nur wer sieht, wie es den Bewohnern geht, versteht, warum wir hier vieles anders machen“.
Die größte Herausforderung für Pflegende und Angehörige bestehe darin, die Bedürfnisse der betroffenen Person herauszufinden. „Wenn die Sätze keinen Zusammenhang mehr bilden, dann stehst du erst mal da und fragst dich blöd“, sagt Löbel. „Das Essen ist dunkel“ heiße bei einer Bewohnerin zum Beispiel, dass ihr etwas nicht schmeckt. „Wenn sie sagt, etwas muss heller werden, müssen wir es süßer oder dünnflüssiger machen.“
Die Freiheit der Bewohner*innen endet, wenn ihre Gesundheit gefährdet ist. Medikamente müssen verabreicht und Wunden versorgt werden. Bei Inkontinenzversorgung oder Körperpflege entscheide das Team je nach Fall, sagt Löbel. Besteht ein Risiko für den Bewohner? Gibt es negative Folgen für ihn, wenn eine Maßnahme verschoben oder ausgelassen wird? Über solche Fragen stimmen sich die Pflegekräfte täglich ab.
Zahlreiche Erfahrungsberichte und Studien zeigen, dass Menschen mit Demenz ausgeglichener und zufriedener sind, wenn sich Pflegende auf sie als Person statt auf ihre Krankheit fokussieren. Andrea von der Heydt, Gerontologin und Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Berlin, bestätigt am Telefon die Wirksamkeit solcher personenzentrierten Ansätze. Sie sagt aber auch: „Sich nach den Bedürfnissen der Erkrankten zu richten, kann durchaus belastend sein.“
Denn Pflegende bräuchten viel Ausdauer und Wissen über die Erkrankung. Laut von der Heydt liege es an den fehlenden Kapazitäten, dass das Modell Gammeloase nicht flächendeckend Anwendung findet. Im Februar dieses Jahres wurde immerhin eine Nachahmerstation im benachbarten Herten eröffnet. In kleineren Wohngemeinschaften werden seit Jahren ähnliche Konzepte erprobt.
Die Gammeloase hat insgesamt 16 Mitarbeiter*innen, viele von ihnen arbeiten in Teilzeit. Zwei Pflegefachkräfte sind pro Schicht vor Ort. Zusätzliche Stellen hat Löbel beantragt, bislang wurden sie noch nicht genehmigt. Dabei stehe mehr Arbeit an als in anderen Einrichtungen, ist er sich sicher. Auch, weil auf Psychopharmaka zur Beruhigung weitgehend verzichtet wird.
„Mehr Hilfe wäre immer schön, klar“, sagt Löbel, „aber irgendwie geht das schon.“ Ein Grund dafür ist, dass es in der Gammeloase keine feste Aufgabenteilung gibt. Wer in einem Moment für die Küche zuständig ist, begleitet im nächsten eine*n Bewohner*in beim Toilettengang. Medikamente werden verabreicht, wenn die Bewohner*innen wach sind. Zimmer müssen nicht bis zu einer bestimmten Uhrzeit gereinigt werden.

In der offenen Küche, die zum Speisesaal gehört, räumt Pflegerin Natalie Feuerstein Teller in die Schränke. Ihr Blick wandert zu den Bewohner*innen, deren Essen manchmal auf den Tischen, manchmal auf dem Boden landet. Feuerstein nimmt es mit Humor und sagt schulterzuckend: „So läuft das halt bei uns.“
„Ich brauch dich hier kurz!“, ruft Löbel durch den Raum. Er hält einen Bewohner an der Hand, dessen Hose im Schritt sichtbar durchnässt ist. Gemeinsam gehen sie durch den Gang, der zu den Zimmern der Bewohner*innen führt. Handläufe ziehen sich entlang der Wände, überall stehen Stühle für kurze Verschnaufpausen. Löbel und Feuerstein begleiten den Mann in sein Zimmer und schließen die Tür hinter sich. Er brauche viel Ruhe, erklärt Löbel, Menschen und Lärm seien ihm oft zu viel.
Im Flur ist es still. Die Zimmertüren reihen sich aneinander, an jeder hängen zwei Namensschilder mit je einem kleinen Bild. Es gibt ausschließlich Doppelzimmer auf der Station. Auf den Bildern zu sehen: ein Dackel, ein Fußballfeld, ein Pferd. „Das Motiv sucht sich jeder Bewohner selbst aus“, sagt Löbel, nachdem er wenig später wieder aus dem Zimmer des Bewohners kommt.
Frau Neumann hat sich ein tanzendes Mädchen für ihre Zimmertür ausgesucht. Öffnet man diese, riecht es nach Urin und Desinfektionsmittel. Anders als das Wohnzimmer und der Speisesaal ist das Zimmer steril eingerichtet. Die Bewohner*innen verbringen hier nicht viel Zeit, erklärt Löbel. Ein Putzeimer steht neben Frau Neumanns Bett, die Schranktüren hängen offen. Ein halb gepackter Koffer liegt auf dem Boden. Alle paar Tage beschließt Frau Neumann, dass es Zeit ist, zu ihrer Mutter nach Hause zu gehen. Dass die schon lange nicht mehr lebt, hat sie vergessen.
Christian Löbel, Pfleger
Es gibt rund 100 Krankheitsbilder, die Demenz auslösen können. Sie alle äußern sich unterschiedlich. Bei Menschen mit Alzheimer-Demenz verblassen die Erinnerungen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto tiefer verlieren sie sich in ihrer Vergangenheit. Dies äußert sich nicht nur in Erzählungen, sondern auch in irritierenden Verhaltensweisen. Wenn Betroffene in den Spiegel schauen, erkennen sie die alte Person darin nicht wieder.
Pflegende müssten mehr Wissen über die Vielseitigkeit von Demenz haben, sagt Löbel, während er Frau Neumanns Schranktüren schließt. Aktuell ist er mit der Pflegeschule der AWO im Gespräch. Ziel ist es, das Thema Demenz früher und umfassender in die Pflegeausbildung zu integrieren. „Menschen mit Demenz machen rund 60 Prozent der Bewohner in Seniorenzentren aus. Und wann wird in der Schule über die Erkrankung gesprochen? Im dritten Ausbildungsjahr, an fünf Tagen, und das nach den Abschlussprüfungen.“ Er schüttelt den Kopf.
Insbesondere in der Anfangszeit täten sich erfahrene Pflegefachkräfte schwer, sich an das Konzept zu gewöhnen, sagt Löbel. Viele verließen wenig später das Team wieder. Seine besten Mitarbeiter*innen seien ungelernte Pflegeassistent*innen, die die Strukturen aus der Ausbildung nicht kennen. Auch Fachkräfte, die mit dem klassischen Pflegesystem eigentlich schon abgeschlossen hatten, fanden in Marl ihren Platz. Die Qualifizierung dauert hier 580 Stunden, finanziert wird sie von der Einrichtung.
Die Gammeloase soll noch in diesem Jahr erweitert werden. Entstehen soll eine zweite Etage mit Platz für 17 weitere Bewohner*innen. Christian Löbel träumt davon, irgendwann ein eigenes Café und eine kleine Boutique auf dem Gelände des Seniorenzentrums zu errichten, in der die Bewohner*innen selbst einkaufen können. Natürlich wünsche er sich, dass auch andere Einrichtungen sich für solche Konzepte öffnen. Dafür fehle oft der Mut in Leitungsebenen, kritisiert er. „Es kommen Argumente wie: Das ist mir zu viel Unordnung, zu risikoreich, da kann ja alles Mögliche passieren!“
Aber sind diese Bedenken nicht nachvollziehbar? Menschen mit Demenz können sich selbst oder andere leicht gefährden, ohne es zu merken. Eine Studie zeigt, dass sich aggressives oder impulsives Verhalten oft verstärkt, je weiter eine Demenz fortschreitet. Auch, dass viele Betroffene orientierungslos herumlaufen – in der Fachsprache wird das Wandern genannt –, begründet, warum Stationsleitungen ungern auf klare Richtlinien verzichten.
„Aggression oder Gewalt kommt bei unseren Bewohnern nur selten vor“, sagt Christian Löbel. Und das, obwohl alle bereits eine fortgeschrittene Form von Demenz haben. Eskalationen ließen sich in der Regel durch Prävention vermeiden. Personen, die sich gegenseitig triggern, werden räumlich getrennt oder in Aktivitäten eingebunden. Aber: „Natürlich erleben wir, dass das Konzept für einzelne Menschen einfach nicht geeignet ist“, so Löbel.
Erst vor wenigen Wochen griff ein Bewohner, der sich durch die Unruhe im Haus überfordert fühlte, einen anderen tätlich an. „In dem Fall blieb uns nichts anderes übrig als eine Einweisung in die Psychiatrie.“ Das Ordnungsamt kam vorbei, ein Amtsarzt und die Polizei waren involviert. „Das passt natürlich überhaupt nicht zu unserem Ansatz“, sagt Christian Löbel, „aber manchmal geht es nicht anders.“ Mittlerweile ist der Bewohner zurück in der Gammeloase und verbringt die meiste Zeit im Ruheraum. In Kürze wird er auf eine andere Station der Einrichtung verlegt.
Zurück im Speisesaal ist Frau Neumann empört. „Bald ist aber Schluss mit dem Rumgefahre!“, ruft sie und meint damit ihre Mitbewohnerin Frau Mittmann, die gerade wieder den Raum betreten hat und nach einer Couch Ausschau hält. Ihr Mittagessen steht auf der Sitzfläche ihres Rollators, daneben ein Glas Apfelschorle, das gefährlich hin und her schaukelt. In anderen Demenzstationen hätte Frau Mittmann ihr Essen längst wieder auf den Tisch stellen und sich hinsetzen müssen. Sie schaut zu ihrer Mitbewohnerin und fragt in höflichem Ton: „Halten Sie mich für blöd?“ Dann setzt sie sich auf das rot-graue Sofa und fängt an, von ihrem Rollator zu essen.
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