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Wiener Politikerin Nurten Yılmaz„Eine macht immer die Tür auf“

Nurten Yılmaz kam mit neun Jahren aus der Türkei nach Wien und prägte über Jahrzehnte die Politik. Heute ist sie Pensionistin und Wiener Ikone.

Nurten Yilmaz in Wien, 12.12.2022 Foto: Regine Hendrich
Doris Akrap
Interview von Doris Akrap

taz: Frau Yılmaz, Sie sind Österreichs bekannteste Politikerin mit Migrationshintergrund, waren über zehn Jahre Abgeordnete im Landesparlament von Wien und fast zehn Jahre Abgeordnete im Nationalrat. Als Sie 2022 in Pension gingen, haben Sie alle politischen Ämter abgelegt. Wollen Sie mit Politik nichts mehr zu tun haben, jetzt wo alles nach rechts rutscht?

Nurten Yılmaz: Ich bin ja noch am Leben und trage wie jeder Verantwortung für die Entwicklung der Gesellschaft. Es macht mich nicht gerade glücklich, dass ich jetzt nicht mehr auf professioneller Ebene dabei bin. Aber ich habe die Fackel übergeben, weil ich der nächsten Generation Platz machen wollte. Es gibt nichts Schlimmeres als alte Säcke, die den Neuen sagen: „Früher haben wir das aber anders gemacht.“

taz: Wir führen dieses Gespräch auf dem Ottakringer Bauernmarkt, weil Sie hier in der Nähe wohnen. Ich hab gelesen, dass es Beschwerden der Anwohner gibt, früher sei der Markt österreichischer gewesen?

Yılmaz: Ja, die gibt es. Ich finde das sehr lustig. Vor vielen Jahren habe ich ewig dafür gekämpft, dass die Marktstände eine ordentliche Infrastruktur bekommen: Wasserstellen, Toiletten und Kanalisation. Damals haben sich die Österreicher bei mir beschwert, dass zu viele Türken die Marktstände übernommen hätten. Die sind halt inzwischen hier die Altein­gesessenen und beschweren sich jetzt bei mir darüber, dass die Araber den Markt über­nehmen. Aber so ist das eben, eine Generation folgt der nächsten.

taz: Ihre Eltern kamen in den 1960er Jahren nach ­Österreich. Sie waren damals 9 Jahre alt. War es damals für Migranten schwieriger als heute, hier anzukommen?

Yılmaz: Definitiv. Sie waren ja nicht sichtbar. Sie waren nicht im Park, sie waren nur auf Baustellen. Sie waren nicht in den Magistratsämtern. Sie waren nicht in der Schule. Sie haben sich in irgendwelchen Kellerlokalen getroffen, um gemeinsam einen Tee zu trinken. Damals hat es auch diesen Fernseher nicht gegeben. Wir wussten nicht, was Weihnachten ist. Mein Vater sagte damals: Die Österreicher kaufen keine Blumen, aber sie kaufen ein Mal im Jahr einen Baum, den sie schmücken wie eine Blume.

taz: Hatten Sie gar keinen Kontakt zu Österreichern?

Yılmaz: Anfangs kaum. Wir kannten ja die Sprache nicht. In der Schule haben wir zum Beispiel Weihnachtsbaumanhänger gebastelt, die wir zu Hause an die Garderobe gehängt haben. Zu Ostern sollten wir ausgeblasene Eier mitbringen. Meine Mutter war ratlos. Hartgekochte, weichgekochte? Die Lehrerin hat meiner Mutter dann auf der Schultoilette gezeigt, wie man Eier ausbläst.

taz: Haben Sie rassistische Erfahrungen machen müssen?

Yılmaz: Nicht wirklich. Aber eine Episode habe ich erst viel später verstanden. Wir wurden als Kinder immer zur Trafik (österreichisch für Kiosk, Anm. d. Red.) geschickt, um Zigaretten zu holen. Unser Trafikant hat jedes Mal zu mir gesagt: „Hast dir die Augen schon wieder nicht gewaschen?“ Und ich habe nicht gewusst, was er meint.

taz: Was meinte er?

Yılmaz: Dass ich so dunkle Augen habe.

taz: War das Rassismus?

Yılmaz: Ich habe es damals so nicht einordnen können, ich habe ihn ja nicht verstanden. Wahnsinn, oder? Aber ich war von den Trafikanten sowieso verstört. Die hatten alle nur einen Arm oder ein Bein. Ich wusste damals nicht, dass die Trafiken gezielt Kriegsversehrte eingestellt haben.

taz: Sie gehen immer noch zur Trafik Zigaretten kaufen?

Yılmaz: Früher hab ich stangenweise meine Lieblingszigaretten aus Griechenland geschmuggelt. Jetzt gibt es die auch hier. Nicht mal mehr schmuggeln kann man. Die EU hat uns alles weggenommen.

taz: Sie waren unter anderem Integrationssprecherin Ihrer Fraktion, sowohl im Landtag als auch in der Bundespolitik. Wollten Sie diese Funktion haben oder gab es sonst niemand, der das machen wollte?

Yılmaz: Ich habe immer Politik für alle gemacht, egal, wo sie herkamen. Aber zu meiner Zeit war es schon noch so, dass es nicht so viele Leute gab, die die Kompetenz hatten, Integrationspolitik zu machen, weil sie kaum Einblick in die Familien der Migranten hatten. Ich habe aber auch viel von anderen Migranten gelernt. Zum Beispiel von der Dragica, eine Mitschülerin aus Jugoslawien. Von der hab ich zum ersten Mal gehört, dass es einen Internationalen Frauentag gibt. Das war in Österreich überhaupt kein Thema.

taz: In einem Interview mit dem Falter haben Sie mal gesagt, je höher die Ebene der Politik, desto weniger sieht man Ergebnisse. Ist das frustrierend?

Yılmaz: Nein. Aber es ist eben so, dass man als Bezirkspolitikerin etwas beschließt und 14 Tage später sieht man es, zum Beispiel die Schanigärten. In der Landespolitik geht es oft einfach um mehr Geld. Da braucht es dann zum Beispiel 5.000 Euro für eine Gesundheitssprechstunde für Migranten. In der Bundespolitik aber wird ein Gesetz beschlossen, das erst in fünf Jahren wirksam wird, man also lange gar nichts davon merkt. Das Einzige, was ich als Ergebnis unserer Bundespolitik gleich gesehen habe, waren Zahnspangen. Die Sozialdemokraten hatten Gratiszahnspangen für alle Kinder bis 18 beschlossen. Ein Jahr später sah man alle Kinder in der Straßenbahn mit Zahnspange.

taz: Was war Ihr anstrengendster politischer Kampf?

Yılmaz: Es hat nur Kämpfe gegeben. Aber nur ein einziges Mal habe ich gegen meine eigene Fraktion gestimmt, obwohl wir in der Regierung waren. Da ging es um das Integrationsgesetz, das einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge beinhaltete. Der sollte in Kraft treten, wenn die innere und die soziale Sicherheit nicht mehr garantiert werden könne. Dieser Fall würde beispielsweise eintreten, wenn über 25 Schülerinnen in einer Klasse zusammenkämen, weil dann das Bildungssystem überfordert sei. Aberwitzig! Es waren ja wir, also meine Partei, die SPÖ, die jahrelang dafür gekämpft hat, dass in den Klassen keine 36 Kinder sitzen, sondern nur 25. Und jetzt tat man so, als könnten 36 Kinder das System sprengen.

taz: Finden Sie bis heute, dass die deutsche Kanzlerin und der österreichische Kanzler 2015 richtig handelten?

Yılmaz: Ich gebe zu, dass wir nicht gut vorbereitet waren auf die vielen Menschen, die dann kamen. Aber ich bleibe bei meiner Einschätzung: 2015 war Berlin die Kommandozentrale der Menschlichkeit. Wenn heute gesagt wird, dass sich 2015 nicht wiederholen darf, frage ich: Was hätten wir machen sollen? Schießen? Ich bin Frau Merkel und Herrn Faymann immer noch sehr dankbar, dass sie die Sache mit einem Telefonat erledigt haben.

taz: Ist es inzwischen die Mehrheitsmeinung, dass sich 2015 nicht wiederholen darf?

Yılmaz: Nein. All die Menschen, die damals geholfen haben, haben doch eine Erinnerung daran, wie wichtig ihre Taten waren. Die haben freiwillig ihre Wohnungen geöffnet und Flüchtende aufgenommen, betreuen bis heute Kinder und Jugendliche aus Afghanistan, haben Menschen mit ihren Privatautos von der Grenze abgeholt. Selbst Angestellte der Bahn, die in den Kassenhäuschen gesessen haben, haben für die Flüchtlinge das bestmögliche Ticket rausgesucht, damit die weiterfahren können. Sicher, die Enttäuschung all der Leute, dass sie vom Staat im Stich gelassen wurden, ist groß. Wir haben die nicht richtig geschützt und mit der Häme alleingelassen, dass sie als Welcome-Klatscher oder Teddybärweitwerfer verspottet wurden. Manchmal hab ich so richtig Tränen in den Augen, wenn ich daran denke, dass jetzt die Grenzen wieder zugemacht werden und sich viele denken werden, es war alles umsonst.

taz: Sie haben mal gesagt, dass Sie in der Stadionkurve gelernt haben, wann es Sinn macht, mit jemandem zu diskutieren oder gleich hinzuhauen.

Yılmaz: Ja, so hab ich mich bis ins Präsidium von Rapid Wien geschlagen. Verbal natürlich.

taz: Wie kamen Sie zum Fußball?

Yılmaz: Es gab ja früher nichts anderes, wo wir hätten mitmachen können. Meine ­Brüder haben alle Fußball gespielt. Der eine sogar ziemlich erfolgreich. Der Sport hat einfach eine unglaublich integrative Kraft. Wenn der Trainer anruft und sagt: „Geh morgen nicht so spät ins Bett“, dann tankt man Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, weil man die Bestätigung bekommt, dass man ernst genommen wird, dass man wer ist.

taz: Haben Sie selbst gespielt?

Yılmaz: Im Verein durfte ich nicht spielen. Aber bei den Freizeitkicks im Park stand ich immer im Tor, als einzige Frau auf dem Platz.

taz: Sie waren wahrscheinlich auch auf anderen Plätzen oft die einzige Frau?

Yılmaz: Ja, sehr oft. Aber das ist halt so. Eine macht immer die Tür auf.

taz: Ich habe gehört, Sie sind bei jedem Spiel dabei und auch Stammgast im Fußballlokal Schlurf?

Yılmaz: Ja, seit ich in Pension bin, kann ich mir das leisten, zu jedem Spiel zu fahren. Und natürlich bin ich dann auch später noch an der Theke. Wissen Sie, woher der Name Schlurf kommt?

taz: Nein.

Yılmaz: Die Schlurfs waren eine Subkulturbewegung von Jugendlichen, die sich in den 1930er Jahren rund um den Jazz bildete. Die trugen lange Haare und hingen halt in Parks, im Prater, in Schwimmbädern rum und hörten diese Musik und tanzten dazu.

taz: Wie Schlurfis eben?

Yılmaz: Ja, das war mal die Bezeichnung für Herumtreiber. Nach der Machtübernahme der Nazis mussten dann ja aber alle Jugendlichen Lederhosen tragen und klassische Herrenschnitte. Die Schlurfis wurden zwangsgeschoren, der Jazz wurde verboten. Sie wurden verfolgt und bildeten eine Widerstandsbewegung. Nach denen ist das Lokal benannt.

taz: Schlurfis wäre doch auch ein schöner Name für die Rapid-Wien-Fans?

Yılmaz: Ich habe ein Trikot, auf dessen Rücken steht „Bier“ und dahinter 13 Striche. Darunter steht „Spritzer“ und dahinter 12 Striche. Der Code 1312 ist bekannt, oder? ACAB, All Cats are Beautiful.

taz: Und damit gehen Sie auch zum Spiel?

Yılmaz: Klar. Wir sind der erste Fußballverein in Österreich, der seine Geschichte während der NS-Zeit aufgearbeitet hat. Rapid Wien ist richtig Kult. Oder gibt es einen anderen großen europäischen Verein, in dem ein Gastarbeiterkind im Präsidium sitzt?

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