: Diebanale BrutalitätderParagrafen
Vor 60 Jahren endete der Frankfurter Auschwitz-Prozess – ein Verfahren, das Geschichte schrieb. Zugleich sorgten Justiz und Politik dafür, dass NS-Verbrecher ungestraft blieben
Von Klaus Hillenbrand
Im Frühjahr 1958 meldete sich ein notorischer Betrüger bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Der von den Nazis verfolgte Adolf Rögner gab zu Protokoll, dass nahe Stuttgart ein gewisser Wilhelm Boger lebe, der während der Naziherrschaft bei der Gestapo im Konzentrationslager Auschwitz tätig gewesen sei. Boger, Jahrgang 1906, war Erfinder der sogenannten Boger-Schaukel. Dabei wurden Gefangene in Auschwitz kopfüber an einer Eisenstange aufgehängt. Ihr entblößtes Gesäß und die Geschlechtsteile wurden anschließend mit Peitschen oder einem Knüppel geschlagen. Viele überlebten diese Folter nicht.
Staatsanwaltschaft und Polizei reagierten skeptisch. Rögner hatte schon mehrfach falsche Angaben gemacht. Doch in diesem Fall hatte er recht. Am 8. Oktober 1958 wurde Boger festgenommen.
Das war der erste Zufall.
Am 1. Januar 1959 erzählte der Auschwitz-Überlebende Emil Wulkan einem Reporter der Frankfurter Rundschau, bei ihm daheim lägen Dokumente aus dem Konzentrationslager, darunter Briefwechsel zwischen der Lagerleitung von Auschwitz und der SS in Breslau sowie Listen von Häftlingen, die getötet worden waren. Ein Freund habe die Papiere 1945 aus einer brennenden Dienststelle der SS in Breslau gerettet. Wulkan vertraute die Papiere dem Reporter Thomas Gnielka an. Zwei Wochen später gab dieser sie an Generalstaatsanwalt Fritz Bauer weiter.
Der zweite Zufall.
Fritz Bauer wechselte Anfang April 1956 seine Dienststelle von Braunschweig nach Frankfurt am Main. Er hatte als Jude im skandinavischen Exil überlebt und war nach Deutschland zurückgekehrt, auch um dort mit dazu beizutragen, eine neue, von Nazis freie Gesellschaft aufzubauen. Der Fall Boger wurde von der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen weiterbetrieben. Bauer sah jetzt seine Chance, in Frankfurt ein zentrales Verfahren in die Wege zu leiten, bei dem mutmaßliche Täter des größten und furchtbarsten Konzentrations- und Vernichtungslagers auf der Anklagebank sitzen würden: In Auschwitz wurden etwa 1,1 Millionen Menschen ermordet.
Der wichtigste Prozess der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte war also nicht das Ergebnis akribischer Recherchen bei Einwohnermeldeämtern oder unter Stammdaten von SS-Dienststellen. Er beruhte aus einer Verkettung von Zufällen – und auf dem Willen eines Mannes, das Menschheitsverbrechen von Auschwitz zu ahnden.
Vor 60 Jahren endete dieses Mammutverfahren mit dem Aktenzeichen KS 2/632 nach 183 Prozesstagen. Am 19. und 20. August 1965 verlas Richter Hans Hofmeyer die Urteile gegen 20 Angeklagte. Es ergingen drei Freisprüche (aus Mangel an Beweisen), elf Zuchthausstrafen – Zuchthaus bezeichnete eine verschärfte Haft – zwischen dreieinviertel und 14 Jahren sowie sechs Verurteilungen zu lebenslanger Haft. Wilhelm Boger wurde zu lebenslanger Haft plus fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb 1977 hinter Gittern.
Dieses Verfahren war nur ein Strafprozess und doch zugleich weit mehr. Es war eine Lehrstunde für die deutsche Öffentlichkeit. Die wahre Bedeutung des Prozesses liege „in der Aufklärung einer Bevölkerung, die offenbar auf keinem anderen Weg zur Anerkennung des Geschehenen zu bringen war“, schrieb der Schriftsteller Martin Walser. Der anderthalb Jahre währende Prozess im Frankfurter Römer löste Debatten über deutsche Verantwortung und Schuld aus, die es so nach 1945 nicht gegeben hatte. Es waren eben nicht nur die Nazigrößen von Hitler bis Goebbels, die sich schuldig gemacht hatten, wie man es in Adenauers Republik gerne darstellte, sondern auch die Hunderttausenden, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern, bei den Einsatzgruppen und anderen Mordbanden aktiv waren.
Schulklassen hatten den Prozess besucht. Die Medien hatten außerordentlich ausführlich berichtet: Allein in der überregionalen Presse erschienen zwischen November 1963 und September 1965 933 Artikel. Tausende besuchten eine parallel stattfindende Ausstellung.
Zu bedenken ist auch, dass in der ersten Hälfte der 1960er Jahre rechtsradikale Umtriebe wie das Schänden jüdischer Friedhöfe, Mordaufrufe gegen unliebsame Politiker oder das Leugnen des Holocausts – der Begriff war noch nicht bekannt – an der Tagesordnung waren. Ehemalige Nationalsozialisten waren noch keine greisen Opas – sie besetzten Schlüsselpositionen. Der 1964 gegründeten nazistische NPD gelang bis 1967 der Einzug in sechs westdeutsche Landesparlamente. Der Prozess behandelte damit nicht nur Vergangenes.
Der Auschwitz-Prozess war „eine öffentliche Lektion zu Fragen der Vergangenheit“, schreibt der US-amerikanische Historiker Devin O. Pendas. Das Verfahren „wurde zu einem kulturellen Markstein, zum Brennpunkt ebenso wie zur Quelle für die weitere Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik.“ Es war eine Konfrontation, der nicht mehr ausgewichen werden konnte und die zur Diskussion über das eigene Verhalten zwang.
Die Zeugin Dounia Zlata Wasserstrom sagte am 23. April 1964 vor Gericht aus: „Im November 1944 kam ein Lkw an, auf dem sich Kinder befanden. Der Lkw hielt in der Nähe von der Baracke. Ein kleiner Junge im Alter von vier bis fünf Jahren sprang vom Lkw herunter. Er hatte einen Apfel in der Hand. Woher die Kinder kamen, weiß ich nicht. In der Tür stand Boger. Ich selbst stand am Fenster. Das Kind stand neben dem Lkw mit dem Apfel. Boger ging zu dem Kind hin, packte es an den Füßen und warf es mit dem Kopf an die Wand. Den Apfel steckte er ein. Dann kam Draser zu mir und befahl mir, ‚das an der Wand‘ abzuwischen. Das tat ich auch. Eine Stunde später kam Boger und rief mich zum Dolmetschen. Dabei aß er den Apfel. Das Ganze habe ich mit eigenen Augen gesehen. Das Kind war tot. Ein SS-Mann hat das tote Kind weggebracht.“
Als von 1968 an die Studenten damit begannen, Fragen zur Vergangenheit an die gesellschaftlichen Eliten sowie auch an die eigenen Eltern zu stellen, geschah dies auch vor dem Hintergrund des Auschwitz-Prozesses. So hatte der Prozess eine kathartische Wirkung. Doch zugleich war das Frankfurter Verfahren eben nur ein Prozess mit allen seinen Schwächen, die dem deutschen Strafrecht innewohnen. In den Verfahren der Alliierten bald nach der Befreiung 1945 war die Kategorie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingeführt worden. In der jungen Bundesrepublik hatte die Justiz nichts Eiligeres zu tun, als dies wieder abzuschaffen. Die Zahl der Prozesse gegen mutmaßliche NS-Verbrecher hatte seit den 1950er Jahren stark abgenommen. War der Frankfurter Prozess also ein Türöffner für weitere Verfahren? Das nun gerade nicht – im Gegenteil. Der zähe Streit über den Umgang mit der NS-Vergangenheit ging stattdessen weiter. Noch während des Prozesses debattierte im März 1965 der Deutsche Bundestag über die bevorstehende Verjährung aller im Nationalsozialismus verübten Verbrechen. Die Abgeordneten entschieden mit der Mehrheit von CDU und SPD, die Frist bis 1969 zu verlängern – ein wichtiger Schritt gegen die Schlussstrichmentalität. Es dauerte jedoch bis 1979, die Verjährungsfristen bei Mord abzuschaffen.
Tatsächlich aber wurde die Strafverfolgung von Nazitätern gleich zweimal erschwert. Die Novellierung des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten umfasst 156 Artikel auf fast 50 Seiten und trägt die Abkürzung EGOWiG. Das riecht nicht nach Skandal. Und doch verbirgt sich in diesem 1968 in Kraft getretenen Gesetz ein folgenschwere Satz: „Fehlen besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer, so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern.“
Auf NS-Verbrecher bezogen bedeutet dies, dass die Chancen eines Schreibtischtäters, ungeschoren davonzukommen, gewaltig stiegen, soweit den Taten persönliche Mordmerkmale fehlten. Und genau so geschah es. NS-Verfahren mussten reihenweise eingestellt werden. Und dann verlangte der Bundesgerichtshof 1969 auch noch, dass zu einer Verurteilung eines NS-Täters wegen Beihilfe zum Mord ein individueller Mordvorwurf notwendig sei. Jedenfalls interpretierten Juristen das BGH-Urteil so. Wer in einem KZ also alle direkten Zeugen einer Tat getötet hatte, kam künftig ungestraft davon. Ebenso, wer Massenmorde angeordnet hatte, ohne selbst von diesen überzeugt gewesen zu sein. Da ist sie, die furchtbare deutsche Justiz.
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis diese irregeleiteten Rechtsnormen überwunden wurden. Erst 2011 verurteilte ein Gericht wieder einen Täter aus einem Vernichtungslager, obwohl kein individueller Mordbeweis erbracht werden konnte. Es folgten eine Reihe ähnlicher Urteile. Doch die meisten Täter waren da längst verstorben. Auch eine Art Rechtsfrieden. Fast 10.000 Menschen arbeiteten bis 1945 als Wachpersonal in Auschwitz. Davon wurden bis heute 48 in der Bundesrepublik verurteilt. So zeigt sich anhand des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, dass eine Gesellschaft bisweilen wesentlich schneller lernfähig ist als ihre Justizorgane.
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