Die Wahrheit: Die Tribute von Niedereimer
Deutschlands Schützenvereine arbeiten jetzt auch an der allgemeinen Kriegstüchtigkeit. Besonders in Friedrich Merz' sauerländischem Heimatort.
„Deckung!“, schreit Horst Kröfges und wirft sich in seiner schicken Schützenuniform zu Boden. Eine Sekunde später fegt die Mörsergranate im hohen Bogen über uns hinweg. Das Projektil explodiert hundert Meter weiter in einem Mix aus Rauch, Feuer und sauerländischen Erdklumpen. Der Schuss hat gesessen. Vom berüchtigten Federvieh am oberen Ende des Metallmastes sind nur noch zwei qualmende Krallen übrig geblieben. Auf dem rappelvollen Festplatz wenden sich Trachtenträger und Gäste nach dem Big Bang wieder den Fressbuden zu.
Auch Kröfges, der uns in seiner Funktion als Vorsitzender der Schützenbruderschaft Arnsberg-Niedereimer in Deutschlands neue Hauptstadt der schießwütigen Vereinsmeier eingeladen hat, lässt den rauchenden Mörser rechts liegen. „Seitdem wir für Rheinmetall Gefechtsköpfe testen, ziehen wir zu unseren Ballersausen riesige Menschenmassen aus ganz Nordrhein-Westfalen an“, ruft der Oberwaffenbruder begeistert. Das Limit sei aber noch längst nicht erreicht. „Mithilfe unserer brandneuen Attraktionen wollen wir in den nächsten Jahren bis auf Oktoberfestgröße anwachsen. Kommen Sie!“
Wenig später stehen wir mit dem 60-Jährigen am Rand einer zum Circus Maximus umfunktionierten Kuhweide, ganz in der Nähe des Eigenheims von Niedereimers derzeit bekanntesten Bürger, Friedrich Merz. Statt antiker Streitwagen sind hier jedoch eher ortsansässige Bauern mit ihren Traktoren unterwegs. Es stinkt, knallt, röhrt und knattert. Von einer Haltebucht aus werden Viererreihen aus Heuballen mit Flammenwerfern ins Visier genommen. Die Zuschauer quittieren jede in Brand geratene Strohscheibe mit frenetischem Jubel.
„Achtzig Prozent unserer Mitglieder aus Arnsberg, Brilon und dem Umland sind Landwirte“, brüllt Visionär Kröfges gegen den Lärm an. „Die müssen wir antiaggressionsmäßig ordentlich auspowern, damit sie nicht ständig mit Fackeln und Mistgabeln vor dem Büro der Grünen-Ortsgruppe in Brilon herumlungern. Der Sommerbiathlon mit schwer bewaffneten Nutzfahrzeugen ist da schon eine prima Sache.“
Bekämpfer der Schädlinge
Inzwischen habe sich die neue Disziplin auch bei der Schädlingsbekämpfung etabliert. „Mit unseren Agrarpanzern nehmen wir während der Erntezeit als Freiwilligencorps der Kreisjägerschaft alles vom Feldhamster bis zum Goldschakal unter Beschuss. Natürlich schauen wir vorher mit einer Drohne nach, ob ein freiheitsliebender Sauerländer im Kornfeld seiner Notdurft nachgeht. Hier entlang!“
Wie uns Kröfges unterwegs zur sündigen Jahrmarktmeile berichtet, will man neben der megalomanen Neuausrichtung auch in den Bereichen Integration und Vielfalt Vorreiter werden. „Vereinsintern erweitern wir unseren Horizont schon seit längerer Zeit durch einbeiniges Überschreiten der Landesgrenze nach Hessen. Weil Völkerverständigung keine Einbahnstraße ist, haben wir heute in aller Frühe den Bürgermeister von Willingen im Kreis Waldeck-Frankenberg aus dem Bett geholt. Schauen Sie mal, da!“
Der Schützenfunktionär deutet auf einen triefnassen Mittfünfziger, der auf einer Klappbank über einer Wassertonne sitzt und sich von Halbstarken mit Bällen bewerfen lässt. Nach einem Zielscheibenvolltreffer zieht es den bemitleidenswerten Gast vermutlich nicht zum letzten Mal ins Feuchte. Wir gehen weiter.
Es wird Abend. Bei tiefstehender Sonne und milden Temperaturen können wir uns das mit Spannung erwartete Finish des Querfeldeinorientierungslaufs ansehen. Dieser dient laut dem Vorsitzenden der Schützenbruderschaft Arnsberg-Niedereimer „nicht nur ausschließlich“ der Unterhaltung. „Sollte es irgendwann zu einem russischen Überfall kommen, wollen wir als sauerländische Schützenmiliz selbstverständlich unseren Beitrag zur Landesverteidigung leisten.“
Dass man dafür topfit sein müsse, erkläre sich von selbst. Deswegen habe man nach dem Frühschoppen „einige Dutzend unserer kugelrunden Kampftrinker auf dem Rothaarsteig ausgesetzt.“
König der Schützen
Wie Vereinsboss Kröfges uns erzählt, ist nach etlichen Stunden erst gut ein Drittel der 25 Männerteams zum Festplatz zurückgekehrt. Was das bedeutet, weiß er nur zu gut aus dem letzten Jahr. „Beim ‚Flucht in Ketten‘-Event haben sich mal wieder einzelne Schützenpaare ineinander verliebt und sind dann direkt im Wald geblieben“, seufzt Kröfges. Er macht für den neuen Bonding-Trend unter anderem den starken Zuzug von Wahlsauerländern aus dem Rheinland verantwortlich. „Bis der neue Schützenkönig bei uns zu Alaaf-Rufen gekrönt wird, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit. Apropos, seine Majestät ist da!“
Eine gepanzerte Limousine bahnt sich im Schritttempo ihren Weg durch die Menge und kommt vor uns zum Stehen. Während die deutsche Nationalhymne auf der Tuba intoniert wird, steigt Niedereimers berühmtester Sohn umständlich aus der Luxuskarosse. Friedrich Merz trägt bereits eine grüne Uniform mit Hut und royalem Federbusch. Dass er als Monarch längst feststeht, hat Kröfges zufolge gute Gründe.
„Weil der König in der Regel die komplette Schützensause bezahlt, sind außer Herrn Merz erst gar keine anderen Bewerber zugelassen.“ Das Entsetzen ist groß, als der CDU-Chef nach Auslösen des Granatwerfers sein Portemonnaie hervorkramt und Kröfges gönnerhaft einen 20-Euro-Schein in die Hand drückt. Die Reaktion lässt nicht lange auf sich warten. Im Nu sind die Leibwächter überwältigt, und Merz wird sämtlicher Königsinsignien beraubt.
Für einen hat das kollektive Schockerlebnis allerdings deutliche Vorteile. Die Ablösung beim Dienst über der Wassertonne durch den amtierenden Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und von Niedereimer kommt dem abgesoffenen Bürgermeister von Willingen wie gerufen.
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