: Der wichtigste CSD seit Jahrzehnten
Hunderttausende demonstrieren am Wochenende für queere Rechte. Den Internationalist Queer Pride löst die Polizei auf
Von Nicolai Kary und Timm Kühn
Am Kotti ist für die Demo Schluss. Am Samstagabend löst die Polizei am Kottbusser Tor den „Internationalist Queer Pride“ auf, eine palästinasolidarische Demonstration, die eine antikapitalistische und antikoloniale Alternative zum offiziellen CSD sein will. „Schämt euch, schämt euch“-Sprechchöre hallen über den Kotti, während Protestierende abgeführt werden.
Die Organisator:innen rufen dazu auf, den Platz zu verlassen. Doch da hat die Polizei schon begonnen, immer wieder prügelnd in die Blöcke zu gehen, um Demonstrierende zu verhaften. Die verbleibenden Protestierer:innen behaupten ihren Platz auf der Straße – bleiben im Allgemeinen aber friedlich.
Mehrfach verhaftet die Polizei auch Senior:innen. Wie bei fast allen Verhaftungen wendet sie auch bei ihnen Schmerzgriffe an. Dabei greifen Polizist:innen ins Gesicht der Protestierenden und drücken zum Beispiel den Nasenknochen hoch, sodass starke Schmerzen entstehen. In der Reichenberger Straße errichtet die Polizei eine Station zur Identitätsfeststellung, wo Hunde die Verhafteten anbellen.
Der taz teilte ein Polizeisprecher mit, insgesamt seien 57 Menschen verhaftet worden. Aus dem Protest heraus wären Beamte mit Flaschen und Fahnenstangen attackiert worden. Von 17 verletzten Polizist:innen habe eine:r den Dienst nicht fortsetzen können.
Auch weiterhin sei ein Grund für Verhaftungen der Ausruf „From the river to the sea“, sagte der Polizeisprecher. Die Polizei bewertet den Ausruf demnach immer noch als Kennzeichen terroristischer Organisationen. Das Amtsgericht Tiergarten dagegen hatte erst kürzlich unter Verweis auf ein eigenes Gutachten des Berliner LKA anders entschieden. Laut LKA-Gutachten ist dieser Spruch kein eindeutiges Kennzeichen der Hamas.
Gestartet war die Demo gegen 17.30 Uhr am Südstern, Ziel der Demoroute war der Oranienplatz. Laut Polizei nahmen bis zu 10.000 Menschen teil. Regenbogenflaggen und kinky Outfits prägen das Bild, inhaltlich gleicht der Protest einer regulären Palästina-Demo. Nur vereinzelt drehen sich die Reden bei der Auftaktkundgebung am Südstern auch um andere Themen, etwa um die Situation von Maja T. in ungarischer Haft.
Cansel Kiziltepe, Sozialsenatorin
Bei der Eröffnung des großen 47. Christopher Street Days (CSD) am späten Samstagvormittag an der Leipziger Straße in Mitte hieß es mehrfach: „Es ist der wichtigste Pride seit Jahrzehnten.“ Motto des diesjährigen CSD war „Nie wieder still“, was sich auf die steigende Zahl queerfeindlicher Angriffe bezieht. Ein Großaufgebot der Polizei begleitete den Aufzug und sicherte die Zufahrtsstraßen entlang der Demonstration ab.
CSD-Vorstandsmitglied Thomas Hoffmann betonte: „Wir kämpfen für unsere Freiheit und Menschenrechte.“ Berlins Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) mahnte: „Niemand darf wegen seiner sexuellen Identität diskriminiert werden.“
Gewalt und Ausgrenzung nähmen auch in Berlin wieder zu. Das Motto mahne „eindringlich, dass queere Rechte kein Selbstläufer sind“, so die Senatorin für Vielfalt und Soziales. Sie appellierte an die Teilnehmenden: „Bleibt mutig, bleibt stark, fight for your rights!“
Anders als die Bundestagsverwaltung setzte der Bundesrat auf ein sichtbares Symbol der Solidarität. In der Leipziger Straße wehte am Samstag die Pride-Flagge. „Diese Werte gehören ebenso wie Freiheit und Gleichheit zum Kern der Demokratie“, sagte die Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger (SPD).
Dies ist auch als Reaktion auf Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) zu verstehen, die entschieden hatte, dass die Pride-Flagge am Bundestag nicht gehisst wird. Das hatte flächendeckend für Empörung gesorgt. Am Roten Rathaus weht hingegen die Regenbogenflagge. Und auch am U-Bahnhof Bundestag. „Also UNSER Bundestag ist dann jetzt bereit für den CSD“, hatte die BVG im Vorfeld auf Instagram verkündet.
Ein Störversuch von rund 40 jugendlichen Neonazis war unterdessen nicht erfolgreich. Zu der Aktion hatten die rechtsextremen Gruppen Deutsche Jugend voran (DJV) und die „Deutsche Patriotische Jugend“ unter dem queerfeindlichen Slogan „Gegen den Gender-Terror“ aufgerufen. Die Anmelder hatten vorab mit 400 Teilnehmern gerechnet. Abgeschirmt von der Polizei grölten die Neonazis bekannte queerfeindliche Parolen.

„Ist das traurig“, stellte ein Gegendemonstrant angesichts des Neonazi-Aufmarschs fest. Im Zusammenhang mit dem Aufmarsch sei es zu mehr als sechs Festnahmen gekommen, unter anderem wegen des Verwendens verfassungsfeindlicher Kennzeichen, sagte eine Polizeisprecherin der taz.
Schon am Freitagabend waren nach Polizeiangaben 4.500 Menschen beim Community Dyke* March von Kreuzberg durch Neukölln bis zum Treptower Park gezogen. Die Organisator:innen hatten sich nach eigenen Angaben darum bemüht, allen Dykes einen sicheren Rahmen zu geben. „Jüdische Flinta* sollen auf dem Community Dyke* March sichtbar und sicher sein können“, hieß es im Vorfeld. Gruppen, die sich gegen Antisemitismus stellen, hatten die Veranstalter:innen dagegen kritisiert und bemängelt, dass ihre Vorgaben keinen wirklichen Schutz für jüdische Teilnehmer*innen böten.
Dass die Organisator*innen den Davidstern auch auf einer Pride-Flagge untersagt hatten, weil er nach Ansicht der Organisator:innen andere Teilnehmer:innen triggern könne, stieß ebenfalls auf harte Kritik aus der jüdischen queeren Community. Jüdische Dykes unter diesen Bedingungen willkommen zu heißen, sei heuchlerisch.
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