Krise in Suweida: Syrische Machtfragen
Wohin steuert Syrien nach den Unruhen in der Region Suweida: Kann die syrische Regierung die Fliehkräfte binden? Eine Rekonstruktion der Ereignisse.

Doch wie konnte es überhaupt zu den brutalen Auseinandersetzungen kommen?
Am vergangenen Samstag überfällt am Morgen eine Gruppe bislang nicht identifizierter Bewaffneter einen jungen drusischen Mann, der in seinem mit Gemüse beladenen Lastwagen auf der Schnellstraße von Damakus nach Suweida unterwegs ist. Sie entführen ihn, stehlen den Lastwagen und persönliche Gegenstände und beschimpfen ihn – so berichtet es das Nachrichtenportal Enab Baladi – mit religiös motivierten Beleidigungen. Schließlich lassen sie ihn laufen, und der junge Mann wird mithilfe von Passanten in ein Krankenhaus in der Stadt Suweida gebracht.
Das Gouvernement Suweida, dessen Zentrum die gleichnamige Stadt ist, wird vor allem von Drusinnen und Drusen besiedelt. Zahlen von vor dem syrischen Bürgerkrieg beziffern ihren Anteil an der Bevölkerung auf 90 Prozent. Dazu kommt eine Minderheit sunnitischer Beduinen.
Nach der Entführung des jungen Mannes brachen ab Sonntag zwischen bewaffneten Drusen und Mitgliedern der beduinischen Stämme Kämpfe aus, zunächst vor allem in Dörfern nahe der Stadt Suweida. Enab Baladi berichtet unter anderem von Brandschatzung und Vandalismus in einem Dorf, bevor drusische Milizionäre von den Angreifenden – wohl Beduinen – die Kontrolle zurückgewannen. Beide Gruppen nahmen unter ihren Gegnern Geiseln. Mindestens 30 Opfer forderte der Konflikt nach staatlichen Angaben bis zur Nacht von Sonntag auf Montag.
Viele Drusen gegenüber neuer Regierung sicher
Das syrische Innenministerium erklärte dann am Montag früh auf Facebook: Um die Auseinandersetzungen zu beenden und die Sicherheit wiederherzustellen, werde man in Zusammenarbeit mit dem Verteidigungsministerium staatliche Sicherheitskräfte in die Region entsenden.
Im Dezember 2024 stürzte die dschihadistische Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) Diktator Baschar al-Assad und übernahm über weite Teile Syriens die vollständige Kontrolle. Nicht aber über Suweida. Neben einem begrenzten Aufgebot von staatlichen Sicherheitskräften in der Region, üben dort bewaffnete drusische Milizen, die teils in Konkurrenz und Konflikten zueinander stehen, die Kontrolle aus. Im Allgemeinen sind viele Drusen gegenüber der neuen Regierung misstrauisch, ob ihrer Wurzeln im Dschihadismus. Zwar gilt der jetzige Präsident und Ex-HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa als gemäßigt. Und seine Bemühungen, einen inklusiven Staat aufzubauen, wirken bislang glaubwürdig. Doch gab es immer wieder in der Geschichte Übergriffe sunnitischer Extremisten auf Drusen – etwa 2018, als Kämpfer des „Islamischen Staates“ in und um Suweida angriffen.
Am Anfang der Woche rückte also ein größeres Aufgebot staatlicher Truppen Richtung Suweida ein. Das wurde teils in Echtzeit in den sozialen Medien dokumentiert. Am Montag veröffentlicht ein Mann, der sich Abu Omar Bilal nennt, auf seiner Facebook-Seite ein Bild von sich und schreibt dazu „Suweida“, mit einem „Daumen runter“-Emoji. Die taz hatte bereits zuvor über ihn berichtet, im Zusammenhang mit bewaffneten Zusammenstößen in den drusischen Dörfern Sehnaya und Ashrafiyat Sehnaya im April. Damals sprach er der taz gegenüber von „seinen Brüdern der Syrischen Arabischen Armee“.
Abu Omar Bilal bezeichnet sich selbst aber als militärischen „Content-Creator“. Auf seinem Profilbild ist er in Camouflage und mit einer Fahne der Shahada, des muslimischen Glaubensbekenntnisses, zu sehen. Das Header-Bild ziert die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem. Seinen Bart trägt er in der Mode strenggläubiger Sunniten: langer Vollbart mit abrasiertem Schnauzer. Neben dem Bild veröffentlich er auch Videos: Eines zeigt mehrere Pick-up-Trucks, auf den Ladeflächen Kämpfer in Camouflage mit Maschinengewehren, entlang einer Schnellstraße. Dazu schreibt er: „Das Blut der Märtyrer ist teuer und jetzt ist es Zeit, die Rechnungen zu bezahlen“, und setzt einen Hashtag zu „Rote Brigade“.
Diese war einst eine Elite-Einheit der Miliz HTS. Nach Berichten lokaler Medien, unter anderem der North Press Agency, waren besonders viele ausländische Kämpfer – unter anderem aus den muslimisch geprägten Gebieten Zentralasiens – Teil der Einheit. Nach der Übernahme Syriens durch die HTS wurden diese Teil der Staatsstreitkräfte – und damit wohl auch Einheiten wie die „Rote Brigade“.
In einem anderen Videos zeigt sich Bilal zusammen mit einem Mann in Uniform und langem Bart, der sich als Abu al-Zubayr vom Verteidigungsministerium vorstellt und erklärt, sie wollten ungesetzliche Separatistenmilizen bekämpfen und seien Muslime, doch keine Extremisten.

Videos und Bilder zeigen dutzende Tote
Seit Beginn der Woche häufen sich die Vorwürfe lokaler Stimmen aus Suweida: Sie berichten von schweren Menschenrechtsverletzungen. So seien unter anderem unbewaffnete Zivilisten getötet worden. Videos und Bilder in den sozialen Medien zeigen, wie drusischen Männern die Schnauzbärte – ein Teil der Kultur – unter Zwang abrasiert oder ausgerissen werden. Ein Video zeigt einen Karton, in dem ein toter, blutüberströmter Säugling liegt. Ein anderes ein Wohnzimmer, in dem mehrere getötete ältere Männer unter Decken liegen. Sie lassen sich nicht unabhängig überprüfen, werden aber von lokalen Journalisten als echt bewertet. Weitere Videos aus Suweida zeigen Dutzende tote Männer, die auf den Straßen liegen, um sie herum Blut. Sie scheinen zivile Kleidung zu tragen.
Wie auch nach den Massakern an der Religionsgruppe der Alawiten an der syrischen Küste im Frühling stellt sich in Suweida wieder dieselbe Frage: Wer ist maßgeblich für die Menschenrechtsverletzungen, für das Töten verantwortlich? Das Nachrichtenportal Axios zitiert einen hochrangigen US-Beamten: Nach Kenntnis von US-Geheimdiensten gebe es keine Anzeichen dafür, dass die syrische Regierung in die „Gräueltaten in Suweida“ verwickelt sei. Das Gefühl des jungen Mannes aus Suweida ist ein anderes. Der taz sagt er: Die Armee sei verhasst, er mache keinen Unterschied zwischen den sunnitischen Milizionären und den Regierungskräften. Er nennt sie „Söldnerhunde“.
Die Lesart dessen, was in Suweida passiert, ist derzeit vor allem: Drusen gegen Sunniten, Drusen gegen Regierung. Doch der Konflikt geht tiefer: Die Drusen sind tief in drei Fraktionen gespalten. Die jeweiligen Anführer der drei heißen Yahya al-Hannawi, Laith al-Balus, und Hikmat al-Hijri. Hannawi und al-Balus gelten als der neuen Regierung gewogen. Al-Balus sprach jüngst im katarischen TV-Sender AlJazeera Mubasher: Man stehe Hand in Hand mit allen freien Menschen in Syrien. Doch es gebe andere Fraktionen „mit einer anderen Meinung“. Diese „falschen Stimmen“ riefen nach einer israelischen Intervention.
Al-Balous meint wohl Hikmat al-Hijri. Seit dem Ende des Assad-Regimes im Dezember 2024 steht er immer wieder im Zentrum der lokalen Aufmerksamkeit. Denn Abkommen mit der neuen Regierung in Damaskus lehnte er wiederholt ab, und setzte stattdessen wohl auf Israel. So auch nun: Den Abzug der Truppen verkündete die Regierung am Mittwoch im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens. Auf Facebook fordete eine al-Hijri zugerechnete Gruppe ihre Anhänger prompt auf, „weiterhin gegen die kriminellen bewaffneten Terrorbanden vorzugehen, die gekommen sind, um unsere Familien zu zerlegen und unsere Existenz zu zerstören“.
Nun holen diese, nach dem Abzug der Regierung, wohl zum Gegenschlag aus: In den sozialen Medien häufen sich erneut Videos von Gewalt, diesmal angeblich der Al-Hijri-Miliz gegen die sunnitischen Beduinenstämme. Ein anderes Video soll einen Stamm aus Deir ez-Zor in Ostsyrien zeigen, die ihren Brüdern nun zu Hilfe eilen wollten. Auch diese Videos lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Das Töten in Südsyrien scheint weiterzugehen – nun mehrheitlich gegen eine andere ethnische Gruppe. Die Analystin Reem Rifai schreibt zu dem wohl Beduinen in Deir ez-Zor zeigenden Video auf X: „Weiß Israel, was es angerichtet hat?“
Eine Grenze überschritten
Denn der südliche Nachbarstaat hatte massiv in den Konflikt eingegriffen: Das israelische Militär bombardierte nach Suweida einrückende gepanzerte Fahrzeuge, griff außerdem in der Hauptstadt Damaskus das Verteidigungsministerium und sogar auf dem Gelände des Präsidentenpalastes an. Israelische Politiker argumentierten, man wolle so den Drusen in Suweida zur Hilfe eilen gegen die „Dschihadisten“ aus Damaskus.
Am Mittwoch häuften sich außerdem Berichte über Drusen aus Israel und den israelisch annektierten Golanhöhen, die den Grenzzaun Richtung Syrien durchquerten, laut Times of Israel etwa 1.000 Menschen. Wie auch in Syrien gibt es dort eine große drusische Minderheit, viele von ihnen haben bis heute Verwandte in Südsyrien.
Ein Kontakt der taz, der am Mittwochabend am Grenzzaun nahe des drusischen Orts Majdal Shams auf den Golanhöhen, berichtet aber: Hinter dem Zaun liege erst mal die Pufferzone zu Syrien. Wer tatsächlich auf syrisches Gebiet wolle, müsse erst einige Kilometer laufen. Offensichtlich bewaffnet könne er niemanden erblicken, viele seien junge Männer oder Jugendliche.
Ein aus Majdal Shams stammender Mann sagt: Einige fühlten sich verpflichtet, den Brüdern auf der anderen Seite zu helfen. Und obwohl sich viele Drusen auf den annektierten Golanhöhen selbst als Syrer betrachten und Israel kritisch gegenüberstehen, sagt er: „Im Schatten des Massakers in Suweida unterstütze ich jede Einmischung, um die Menschen dort zu schützen.“
Am Donnerstag sagte Israels Premier Benjamin Netanjahu schließlich: Das gesamte Gebiet südlich von Damaskus müsse demilitarisiert werden. Viele Analysten schätzen Israels Einmischung so ein: Man habe mit den jüngsten Bombardement in Syrien eine Grenze überschritten.
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