Ausstellung über Lucius Burckhardt: Der Spaziergang ist politisch
Zum 100. Geburtstag des Schweizer Stadtforschers Lucius Burckhardt ist in Basel eine Ausstellung zu sehen. In Kassel findet zudem ein Kongress statt.
Lucius Burckhardt steht am Pult der Weimarer Jakobskirche und spricht. Es ist Juni 1994, auf Einladung des Studierendenpfarrers ist er, der Schweizer Soziologe, Architektur- und Urbanismuskritiker, eingeladen, eine „Predigt“ zu halten. Seine Tätigkeit als Gründungsdekan der neuen Gestaltungsfakultät der Bauhaus-Universität Weimar hat er gerade abgeschlossen.
„Bloß kein neues Bauhaus!“, postuliert er unter Verweis auf die 1919 am gleichen Ort von Walter Gropius gegründete Kunst- und Designschule. Er wettert gegen die „Meister“ der architektonischen Moderne und ihre am Reißbrett entworfenen Großprojekte – gegen Oscar Niemeyers Brasília und Le Corbusiers Chandigarh.
Er verdammt auch das Prinzip einer „sauberen Lösung“ des europäischen Nachkriegsstädtebaus, seine Abrisswut und „maximalen Eingriffe“ in die Stadt, die ein urbanes Zusammenleben rein ingenieurhaft organisierten. Zumal entgegen jeder Nachhaltigkeit.
Zwei Gedankenspiele, eine Haltung
Aus seiner Predigt prägen sich vor allem zwei Gedankenspiele ein. Der erste Gedanken – „Ich komme nicht aus ohne diese Erzählung, aber ich glaube nicht, dass sie weit reicht“ – bezieht sich auf den Marxismus, der zweite auf das Christentum: „Die Auferstehung gibt es, wir sind nur unfähig, daran zu glauben.“
„Sehend denken – 100 Jahre Lucius und Annemarie Burckhardt“, Universitätsbibliothek Basel, bis 13. August 2025
Mehr über den Kongress in Kasse: Lucius Burckhardt Convention: lucius-burckhardt.org.
Weder Marxist noch gläubiger Christ also war der 2003 verstorbene Intellektuelle – aber er ist bis heute ein Säulenheiliger. Die vierte Ausgabe „Lucius Burckhardt Conventions“, die kürzlich an der Kunsthochschule Kassel stattfand, bewies dies einmal mehr. Reinhard Franz, Dozent an der Bauhaus-Universität Weimar, hatte den Film mit der Predigt nach Kassel mitgebracht. Es ist das einzige existierende Filmdokument eines kompletten Vortrags von Burckhardt. Anlass der diesjährigen Convention: Burckhardt wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden.
Eingeladen hatte Martin Schmitz gemeinsam mit Design-Studierenden der Hochschule. Schmitz war Student bei Burckhardt, der dort von 1973 bis 1997 als Professor für die Sozioökonomie urbaner Systeme lehrte. Als jetziger Inhaber der „Lucius & Annemarie Burckhardt Professur“ ist Schmitz in seinem anderen Leben Verleger.
Wissenschaft des Spaziergangs
Die Publikationen mit den Schriften Burckhardts zählen zu den bekanntesten seines kleinen Berliner Verlags. Burckhardts Forschungskonzepte wie das der „Spaziergangswissenschaft“ oder Titel wie „Warum ist Landschaft schön?“ oder „Der kleinstmögliche Eingriff“ sind längst Klassiker kritischer Planungs- und Designtheorie.
In seinem Text „Design ist unsichtbar“ von 1980 beschrieb Burckhardt etwa, dass Design nicht nur die sichtbare Gestaltung von Objekten ist, sondern tief mit unsichtbaren sozialen, kulturellen und organisatorischen Strukturen verbunden ist, mit Machtverhältnissen und Gesetzgebungsverfahren.
Burckhardt vertrat einen relationalen Planungsansatz und entfernte sich damit weit von der lange vorherrschenden Idee einer „Guten Form“. Deren Gestaltungsprinzipien waren in den 1950ern vom Deutschen Werkbund geprägt worden, dem Burckhardt später selbst vorstand.
Zunehmende Digitalisierung der Gestaltung
Heute, da zunehmend algorithmische Prozesse in die Gestaltung einfließen, wird sein relationaler Planungsansatz umso interessanter. Der Kongress in Kassel hätte durchaus davon profitieren können, Burckharts Fragestellungen ins Jetzt zu heben. Man wählte aber zumeist den Blick in die Historie: Der Künstler Wolfgang Müller erzählte etwa, wie er in seiner ehemaligen Kreuzberger Galerie als Erster die landschaftstheroretischen Aquarelle Burckhardts zeigte, bei einem anderen Gespräch ging es um Stadtwandern in Rom.
So wurde man gefühlt in die 1990er Jahre versetzt, als der Situationismus und die Psychogeografie einmal mehr wiederentdeckt wurden. Dabei wäre es sicher interessant gewesen, zu hören, ob sich Burckhardts Text „Wer plant die Planung?“ bei einem heutigen KI- und datengesteuerten Städtebau in ein „Was plant die Planung?“ überführen ließe.
Allein der Vortrag von Anne Brandl, Anette Freytag und Caspar Schärer über das „Agglowandern“ knüpfte an Aktuelles an. Sie überlegten: Wenn Mitarbeiter*innen verschiedener Verwaltungen die Landschaften und Ballungsräume gemeinsam durchwandern, zu denen sie Planungsentscheidungen treffen, können dann auch neue Sichtweisen für ihre Gestaltung gewonnen werden? Können Agglowanderungen die Arbeit von öffentlichen Verwaltungen so verändern, dass sie sich als „Kuratorin der ästhetischen Fürsorge urbaner Landschaft“ verstehen? Solche Fragen machen Burckhardts Ideen wieder gegenwärtig.
Sonderausgaben über den Jubilar
Vertiefen in die Burckhardt’sche Gedankenwelt kann man sich derzeit auch an anderen Stellen: Die Zeitschrift Bauwelt veröffentlichte gerade ein Sonderheft, früher in diesem Jahr erschien eine thematische Ausgabe der Schweizer Zeitschrift werk, bauen + wohnen, deren Chefredakteur Burckhardt von 1962 bis 1972 war.
Mit ihr verknüpft ist eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Basel. Diese betont auch die Rolle der Künstlerin Annemarie Burckhardt, Lucius’ Frau. Die beiden waren ein Team. Wie Lucius, der aus dem Basler Großbürgertum stammte, begehrte sie gegen ihre Klassenzugehörigkeit sowie gegen die Nachkriegsnormen autogerechter Stadtplanung auf und kämpfte gegen sinnlose Abrisse, etwa den des alten Stadttheaters Basel. Ohne Erfolg: 1975 wurde es gesprengt.
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