Innenministerium zu Jungnazi-Gruppen: Abzielen auf eine sehr verletzliche Zielgruppe
Nicht nur die „Letzte Verteidigungswelle“: Das Bundesinnenministerium beteuert, die jungen Neonazi-Gruppen im Blick zu haben – und warnt vor Gefahren.

Die Bundesregierung beobachte die Entwicklung der rechtsextremen Jugendgruppen „intensiv“, heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag, die bereits vor den aktuellen Razzien gestellt wurde und der taz exklusiv vorliegt. Seit dem Sommer 2024 hätten sich die Gruppen gebildet – und nun etabliert. „Innerhalb kurzer Zeit sind sehr dynamische, mobilisierungsfähige Gruppierungen entstanden“, bemerkt das Ministerium. Sie zeichne eine „Aktionsorientierung“ aus, allen voran bei Störungen von CSD-Paraden.
Inzwischen hätten die Gruppen „ihre inneren Strukturen ausbauen, festigen und sich als Anlaufpunkt für eine neue aktionsorientierte und ideologisch weniger gefestigte Zielgruppe in der rechtsextremistischen Szene etablieren“ können, warnt das Ministerium. Es gebe Führungsfiguren, welche die Gruppen anleiteten und teils auch gruppenübergreifend miteinander interagierten.
Jugendliche als besonders vulnerable Zielgruppe
Die Gefahr, die Dobrindts Ministerium sieht: Gerade die adressierten Jugendlichen seien oft „in ihrer Wertevorstellung noch nicht gefestigt“ und damit besonders vulnerabel und „eher anfällig dafür, propagandistische und extremistische Ideologien aufzunehmen und sich mit diesen zu identifizieren“. Durch die Neonazi-Gruppen drohe die Gefahr, dass „rechtsextremistisches Gedankengut bei jungen Heranwachsenden gesät und gefestigt wird“. Die Gruppen hätten mit den sozialen Medien ein „einfach zu handhabendes Mittel“ mit einer „hohen Reichweite“, um Mitglieder zu rekrutieren. Auf der anderen Seite entstehe eine „abstrakte Gefährdung für Personen, die den rechtsextremistischen Feindbildern der Gruppen entsprechen“, so das Ministerium. Dazu gehörten insbesondere Angehörige der LGBTQ-Community, der linken Szene sowie Migranten.
Auch zur „Letzten Verteidigungswelle“, deren führende Mitglieder nun unter Terrorverdacht von der Bundesanwaltschaft festgenommen wurden, äußert sich das Ministerium. Diese umfasse eine Mitgliederzahl im „mittleren zweistelligen Bereich“. Die Gruppe sei dem „aktionsorientierten und gewaltbereiten rechtsextremistischen Spektrum zuzuordnen“. Ideologisch bediene sie sich nur rechtsextremer „Fragmente“, fokussiere sich vor allem auf Feindbilder wie die Antifa und die LGBTQ-Community – die als Projektionsfläche auch für gewaltbezogene Aktionen dienten. Die Gruppe falle regelmäßig mit rechtsextremen Handzeichen wie dem „White Power“-Zeichen oder der Doppel-Acht auf, ein Code für den Hitlergruß – H ist der achte Buchstabe im Alphabet. Fünf Mal sei die Gruppe allein seit Mitte September 2024 auch Thema im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) gewesen, in dem alle Sicherheitsbehörden versammelt sind.
Auch zu den anderen Gruppen macht das Ministerium Angaben. So werden „Jung & stark“ aktuell Mitglieder in mittlerer dreistelliger Zahl zugerechnet – die derzeit größte Gruppe. Bei der „Deutschen Jugend Voran“ ist es eine Zahl im niedrigen dreistelligen Bereich. Der „Deutschen Jugend Zuerst“ wird eine Personenzahl im unteren zweistelligen Bereich attestiert. Diese Gruppen, sowie die „Elblandrevolte“, seien seit Mitte September elf Mal Thema im GETZ gewesen.
Und die Gruppen suchten den „Schulterschluss mit etablierten Akteuren der rechtsextremistischen Szene“, etwa der „Heimat“, einst NPD, oder dem III. Weg, konstatiert das Ministerium. Auch bei deren Jugendorganisationen, den Jungen Nationalen oder der Nationalrevolutionären Jugend, sei der Zulauf „im Vergleich zu früheren Jahren signifikant“. So sei die III. Weg-Jugend inzwischen in 13 Bundesländern aktiv und habe etwa auf Tiktok eine „beachtliche Anzahl von Interessenten“.
Aktiv auch im Kampfsport
Aktiv seien diese Gruppen auch im Kampfsport oder mit Wanderungen, so das Ministerium. In Nordrhein-Westfalen gebe es auch eine direkte Verbindung von „Der Störtrupp“ und „Jung & Stark“ zum „Active Club Ostwestfalen“, einer rechtsextremen Kampfsportgruppe. Feste Verbindungen der Jungnazi-Gruppen in die Ultra- und Hooliganfußballszene sieht das Ministerium dagegen bisher nicht. Zwar seien bei einigen Mitgliedern auch Fußballtattoos sichtbar, eine feste Zuordnung zu Fußballgruppen sei aber nicht zweifelsfrei belegbar. Auch eine Kooperation mit der AfD könne bisher nicht festgestellt werden.
Heikel auch: Einige Mitglieder der jungen Neonazi-Gruppen sollen laut Ministerium auch Sicherheitsüberprüfungen durchlaufen haben, die es etwa für Jobs in der Verwaltung oder dem Sicherheitsgewerbe braucht. Wie viele genau das waren und welche Branchen das betraf, lässt die Antwort offen, auch die Ergebnisse der damaligen Sicherheitsprüfungen.
Der Linken-Abgeordnete Ferat Kocak, der die Anfrage stellte, betonte, die jugendlichen Neonazi-Gruppen seien „nur die Spitze des Eisbergs des gesellschaftlichen Rechtsrucks“. Die jugendlichen Neonazi-Gruppen zeigten „einmal mehr, wie groß die Gefahr von rechts ist und wie sehr unsere queere und migrantischen Nachbarschaften geschützt werden müssen“. Kocak kritisierte auch die neue Bundesregierung: „Auf dem Nährboden der schwarz-roten Politik der Spaltung und sozialen Kürzungen gedeihen Hass und Hetze.“ Man werde als Linkspartei und mit der Zivilgesellschaft Druck auf die Regierung und Sicherheitsbehörden machen, endlich konsequent gegen rechte Strukturen und Führungsfiguren vorzugehen. Der beste Schutz komme aber nicht von staatlichen Behörden, sondern durch „zivilgesellschaftlichen Widerstand“.
Zuletzt hatten die Verfassungsschutzämter der Länder die rechtsextremen Jugendgruppen enger unter Beobachtung genommen. Die Rechtsextremen aber machen weiter: Erst am Wochenende waren „Jung & Stark“ und „Der Störtrupp“ in Herford in Nordrhein-Westfalen auf die Straße gegangen.
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