Contergangeschädigter DJ über Autonomie: „Das war etwas, was mein Leben fast zerstört hätte“
Die Zeit in einem Internat für Behinderte war für Matze Lawin schwierig. In seiner Autobiografie beschreibt er, wie er einen positiven Lebensweg fand.
taz: Matze Lawin, Sie wirken in Ihrer Autobiografie sehr positiv. Schränkt Sie Ihre Behinderung trotzdem manchmal ein?
Matze Lawin: Wenn ich ganz ehrlich bin, kann ich das nicht von der Hand weisen. Ich bin contergangeschädigt, ich habe verkürzte Arme und an jedem Arm nur zwei Finger. Wenn man mit kurzen Armen durch die Welt geht, dann gibt es immer Barrieren und Hindernisse, die anders ausfallen als bei Menschen mit langen Armen. Und es ärgert mich schon mal, wenn es mir Schwierigkeiten bereitet, eine Zahnpastatube aufzudrehen oder dass mir bestimmte Dinge leichter runterfallen.
taz: Aber davon lassen Sie sich nicht unterkriegen?
Lawin: Ich glaube, nur das ist für mich der richtige Lebensweg. Positiv an die Dinge zu gehen, Lebensfreude nicht nur zu entwickeln, sondern auch nach außen zu strahlen. Weil, was man nach außen strahlt, bekommt man auch wieder zurück.
Lesung „Das Leben ist zu kurz für lange Arme“ von Matze Lawin, 15.5., 19 Uhr, Roter Buchladen, Nikolaikirchhof 7, Göttingen
taz: Warum beginnt Ihr Buch erst nach dem Abitur?
Lawin: Ich hatte eine sehr schwierige Zeit in einem Internat für Körperbehinderte, wo ich mit elf Jahren hinkam und dann für zweieinhalb Jahre bleiben musste. Das war etwas, was fast mein Leben zerstört hätte. Meine Kindheit war auch nicht einfach, weil ich nicht gut damit umgehen konnte, wenn mich andere Kinder angeguckt und angefasst haben.
taz: Und warum wollten Sie das nicht erzählen?
Lawin: Ich habe lange überlegt und mich dann aber entschieden, dass ich ein positives Buch schreiben möchte. Und es soll zu einem Zeitpunkt anfangen, an dem ich Glück, Autonomie und Selbstständigkeit empfunden habe. Das war nach meinem Abitur, als ich mich entschieden habe, loszutrampen. Ich wollte vor dem Pädagogikstudium ein paar Monate die Welt kennenlernen und ganz alleine unterwegs sein.
taz: So selbstständig reisen können viele Contergangeschädigte nicht, oder?
Lawin: Mit meinen Einschränkungen konnte ich vieles machen, was andere nicht können. Nach mehr als 60 Jahren fällt vielen Contergangeschädigten das Leben immer schwerer, weil die Gliedmaßen, die eh schon geschädigt sind, durch die atypischen Bewegungen im Alter nicht besser werden. Und dann schreibe ich ein Buch und feiere das Leben. Da habe ich mich gefragt, ob ich das überhaupt darf. Ich habe mir aber gesagt, das ist mein Leben und ich möchte das so. Und könnte aber verstehen, wenn es Leute gibt, denen es aufstößt.
taz: Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen, als DJ zu arbeiten?
Lawin: Ich war auf einem Flohmarkt in Bremen und da sagte jemand zu mir: „Hey, die suchen da für ein Projekt zwei DJs, wollen wir das nicht machen?“ Fünf Monate später sind da 900 Leute hingekommen. Ich liebte Musik schon als Kind. Und dann habe ich gedacht, mache ich doch mein Hobby zum Job, solange wie das läuft und ich bin heute noch DJ und Musikveranstalter.
taz: Fragen Sie sich manchmal, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn Sie doch Behindertenpädagoge geworden wären, wie Sie es eigentlich geplant hatten?
Lawin: Ich habe meiner Professorin damals einen Stich ins Herz versetzt. Sie hat gesagt, ich wäre doch der perfekte Behindertenpädagoge. Ich sei lebenslustig und hätte positive Energie. Und in einer Gesellschaft, in der man sich viele Ziele setze, die nie erreicht werden, brauche man solche Menschen wie mich. Ich wollte aber nie in die Institutionen gehe – ich war ja in diesem Internat und habe es gehasst. Und ich habe dann meiner Professorin etwas gesagt, was ich bis heute lebe.
taz: Was war das?
Lawin: Ich habe gesagt, ich werde in jeder Sekunde meines Lebens auch immer ein bisschen Behindertenpädagoge sein, weil ich viele Begegnungen mit Menschen habe. Aber ich werde DJ sein, an das DJ-Pult meines Lebens gehen. Und das habe ich gemacht.
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