Neue Designs für fragile Zeiten: Schönheit bis zum Schluss
Kranke und Sterbende verdienen Besseres als entfremdende Dinge. Bitten Stetter ist eine der wenigen Designer*innen, die deren Bedürfnisse mitdenken.
Es ist kein Kleidungsstück, das irgendwer freiwillig anziehen würde, keines, das Begehrlichkeiten wecken oder man irgendwie als schön bezeichnen könnte. Das Hemd, in das man im Krankenhaus gesteckt wird, ist vor allem eins: funktional. Kochfest und strapazierfähig, unisex und uniform. So weit geschnitten, dass menschliche Körper jeglichen Umfangs hineinpassen. Zusammengehalten am Rücken lediglich von ein paar Bändern, die einerseits von Pflegekräften leicht auf- und zuzubinden sind, die das Textil andererseits lose und ziemlich unelegant um das Hinterteil der Patient*innen flattern lässt.
Das Flügelhemd modisch zu betrachten, ist quasi unmöglich. Es konterkariert all das, was Kleidung über die reine Schutz- und Wärmefunktion hinaus ausmacht. Weder wirkt es identitätsstiftend, noch befriedigt es das, was Georg Simmel in seiner Modetheorie als „das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-Abheben“ bezeichnete.
Im Gegenteil: Es eliminiert jegliche Individualität. Wie entfremdend das wirken kann, wie sehr man es vermissen kann, sich vestimentär auszudrücken, weiß wohl jede*r, der oder die so ein Teil schon einmal ein paar Tage länger getragen hat.
Bitten Stetters Version des Flügelhemdes ist anders. Die Zürcher Designerin hat für ihr Label finally eines entworfen, das Pflegenden zwar weiterhin die Arbeit erleichtert, das aber vor allem die Bedürfnisse der Träger*innen mitdenkt. Ihr „Turnarounder“ legt den Po nicht frei und lässt sich bequem an der Seite zusammenbinden.
Es gibt ihn uni und in zwei aufeinander abgestimmten Farben, in Lila und Eisblau zum Beispiel. Gefertigt ist er aus anschmiegsamer Biobaumwolle, die von Gebrauch zu Gebrauch noch weicher werden soll. Und er hat an den Ärmeln, da wo es nicht drückt, Taschen zum Verstauen von Taschentüchern oder dem Handy. Tragen lässt er sich klassisch mit der Öffnung nach hinten oder andersherum wie ein Kimono.
Tragbar auch in anderen Lebenslagen
Stetter selbst führt ihren gerne mal am Strand aus – so erzählt sie es bei einem Treffen während der Krebskonvention YesCon! vergangene Woche in Berlin, wo sie ihr Label mit ein paar Produkten vorstellte. Stetter designt Dinge für Kranke, Pflegebedürftige, Sterbende, benutzen kann man diese aber auch in anderen Lebenslagen.
Zu ihrem Thema kam die Designerin, als ihre Mutter an Krebs erkrankte und schließlich starb. „Kauf mir doch mal was Schönes“, hatte diese zu ihr gesagt, als es längst dem Ende entgegenging. Aber was schenkt man einer Person, die im Sterben liegt? Stetter fand nichts, begann, zu improvisieren und die Dinge zu designen, die fehlten.
Als Professorin für Trends & Identity an der Hochschule der Künste in Zürich erforscht sie mittlerweile Lebensstile am Lebensende mit designethnografischen Methoden. Und mit ihrem Label finally widmet sie sich dem vielleicht letzten Aspekt menschlichen Daseins, das die materielle Kultur noch ausklammert.
Unmengen an hübsch gestalteten Produkten stehen für Neugeborene zur Wahl, obwohl die in der ersten Zeit noch nicht einmal alles sehen können. Auch die Zeit nach dem Tod wurde inzwischen gestalterisch ausdifferenziert. Urnen, Grabsteine, Trauerschmuck gibt es für jeden Geschmack. Nur an die Phase direkt davor traut sich niemand heran.
Was in der Pflege benutzt wird, ist auf pure Effizienz ausgerichtet. Form follows function, als wäre dieses Credo nicht längst überholt. Und als hätte nicht schon Florence Nightingale in ihren „Notes on Nursing“ auf die Bedeutung der Gestaltung von Räumlichkeiten und Dingen für Genesung, Lebensqualität und Wohlbefinden verwiesen. Auf patriarchale wie auch utilitaristische Strukturen unserer Gesellschaft, in denen der Blick auf die Ästhetik weniger relevant erscheine als jener auf die Funktion, ließe sich das zurückführen, so Stetter.
Relevanz von Ästhetik
Das Bedürfnis, sich mit Schönem zu umgeben und selbst schön zu sein, verschwindet aber nicht einfach, nur weil man schwach und krank ist. Vielleicht wächst es sogar noch, wenn der Lebensraum aufs Bett zusammenschrumpft.
Stetter, die mit ihrem Label vom Migros Pionierfonds Schweiz unterstützt wird, hat in ihrem Sortiment neben weiteren Textilien auch Schnabeltassen aus Keramik, die gut in der Hand liegen, schlicht und hübsch aussehen, dennoch aber robust und natürlich spülmaschinenfest sind. Gewissermaßen ruft die Designerin dabei längst vergangene Kurkultur in Erinnerung: Schnabeltassen bestehen heute in der Regel aus Kunststoff, noch im frühen 20. Jahrhundert gab es sie passend zum guten Geschirr.
Andere Produkte von finally sollen zur Kommunikation über schwere Themen anregen – Würfel, auf denen Begriffe notiert sind wie „Vollmachten“ oder auch „Angst & Wut“ –, oder sie machen das Nichtstun erträglicher, weil es angenehm ist, sie anzufassen. Formen für Eisbonbons und Eislollis, deren Verzehr Schwerkranke Süßigkeiten oft vorziehen, gibt es. Teller ausgerichtet auf den minimalen Appetit von Palliativpatient*innen. Papphalter, mit denen man das Handy am Aufrichtegriff befestigen kann.
Berührungsängste beim Thema Sterben
Als Design für fragile Zeiten bezeichnet Stetter selbst, was sie tut, versucht so die Berührungsängste zu umschiffen, die das Thema Sterben oftmals auslöst: „Wir können mittlerweile darüber reden, wie wir beerdigt werden wollen, was wir für Blumen haben wollen. Der Tod ist kein Tabu mehr, aber das Sterben, das Fragilsein, das Kranksein“, sagt sie. Langsam jedoch verändere sich das. Mit dem demografischen Wandel und der fragilen Natur, die uns umgebe, habe das zu tun, glaubt Stetter, und „mit einer fragilen jungen Generation, die sich sehr bewusst ist, dass wir keine Maschinen sind“.
Wir werden immer älter und damit wächst auch die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung und Pflegebedürftigkeit. Zur YesCon! hat Stetter eine neue Kollektion mitgebracht, die sie im Dialog mit einer krebskranken Person entwickelt hat: Pullis, T-Shirts und Hosen, die sich an der Brust, an Armen oder Beinen öffnen lassen, um Zugang zum Portkatheter, zu Venen, Narben oder Wunden zu gewähren.
Es sind Kleidungsstücke, die praktisch für die Chemotherapie sind, mit denen man sich gleichzeitig aber auch beim Rehasport gut bewegen kann. „Inbetween“ heißt die Kollektion, denn sie „denkt Krankheit, Therapie und Fragilität nicht als Ausnahme, sondern als Teil eines würdevollen Lebens im Wandel“.
Nur wenige Designer*innen gehen bislang so weit wie Stetter. Der dänische Möbeltischler Anker Bak hat einen minimalistischen Rollator entworfen, es gibt Anbieter von Pflegebetten, die diese wie Hotelbetten aussehen lassen. Geforscht wird zum Thema seit ein paar Jahren in den Material Care Studies.
Bitten Stetter würde sich wünschen, dass man Produkte wie ihre irgendwann im Drogeriemarkt kaufen kann, dass sie ebenso alltäglich werden wie Schnuller und Babywindeln.
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