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Bilder über AfghanistanDigitale Verharmlosung

Freie Presse gibt es in Afghanistan nicht, aber es gibt Influencer. Sie liefern ein realistischeres Bild nach draußen, doch auch sie bleiben an der Oberfläche.

Ein Ballonverkäufer in Kabul: Mädchen und Frauen kommen bei den Youtubern kaum zu Wort Foto: Wakil Kohsar/afp

Kommt zurück und macht hier irgendetwas! Arbeitet! Mit Gottes Hilfe wird das schon“, appelliert ein älterer Mann mit Blick in die Kamera. „Ich hatte Europa und die Flucht satt“, meint ein weiterer Afghane auf den Straßen Kabuls. Interviewt wurden sie von Homayun Afghan, einem der vielen Video-Influencer, die Afghanistan in den vergangenen drei Jahren hervorgebracht hat. Sie liefern seltene Eindrücke aus einem Land, in dem Medien nicht frei berichten können.

Im Afghanischen werden die mehrheitlich jungen Männer einfach als Youtuber bezeichnet. Viele von ihnen waren einst für größere Fernsehsender als Journalisten tätig, doch mit dem Abzug der Nato-Truppen und dem zunehmenden Desinte­resse des Westens ging den Medien das Geld aus. Der Journalistennachwuchs wurde arbeitslos und musste neue Mittel und Wege finden, um über die Runden zu bekommen. Dieses Modell kann erfolgversprechend sein, wie das Beispiel von Homayun Afghan beweist. Der einstige Journalist des afghanischen Senders „Ariana“ ist gegenwärtig wohl der erfolgreichste Youtuber Afghanistans. Auf seinem Kanal verzeichnet er mehrere hunderttausend Abonnenten. Seine Clips gehen auf Tiktok täglich viral und erreichen ein Millionenpublikum.

Auf den ersten Blick scheint Afghan nichts Besonderes zu tun. Er läuft mit seinem Team meist durch die Straßen und Gassen Afghanistans (nicht nur Kabuls!) und interviewt auf Paschtu und Farsi Menschen, die ihm über den Weg laufen: Händler, Polizisten, einfache Arbeiter oder auch den ein oder anderen Taliban-Kämpfer. Dabei trifft er auch außergewöhnliche Gestalten. Einen Greis, der sich als wandelndes Geschichtsbuch entpuppt, einen jungen Mann in der traditionellen Tracht seiner entlegenen Heimatprovinz oder einen Ex-Kollegen, der es nicht zum Youtuber geschafft hat, sondern heute gezwungen ist, als Tagelöhner über die Runden zu kommen.

Etwas Besonderes für die Diaspora

Die Interviews, die Homayun Afghan und andere Youtuber führen, sind überwiegend informativ. Sie gestatten einen kurzen Blick in den afghanischen Alltag. Vor allem für jene afghanische Diaspora, die ihre Heimat nie wirklich gesehen hat, ist das etwas Besonderes. Es gibt Familien, die abends gemeinsam vor Afghans Videos sitzen und so Afghanistan „erleben“, weil sie im echten Leben nicht dorthin reisen dürfen oder können.

Doch genau dies verdeutlicht auch die Oberflächlichkeit der meisten Videos. Selten geht es um Politik oder gar die Repressalien der Taliban-Machthaber. Mädchen und Frauen kommen kaum zu Wort. Afghan wird aufgrund seiner Arbeit immer wieder kritisiert. Ein Mann, den er interviewen wollte, verweigerte ihm das Gespräch und warf ihm Zensur vor. Ein anderer Mann wollte nicht sprechen, weil er Angst hatte vor dem Taliban-Regime, „das alles mitbekommt und dich am nächsten Tag abholt und verschwinden lässt“. Dass Afghan diese Beiträge dennoch im Video behält, zeigt: Ein gewisses Level an Kritik ist möglich.

Als Afghan jedoch die nördlich von Kabul gelegene Provinz Pandschschir aufsuchte, wo die Taliban mutmaßlich zahlreiche Kriegsverbrechen begangen haben und unabhängigen Journalisten und Beobachtern monatelang keinen Eintritt gewährten, warfen ihm viele Zuschauer Propaganda zugunsten des extremistischen Regimes vor. Die Taliban hätten Afghan nur gezeigt, was er und die Welt sehen dürften. In solchen Momenten werden die Schattenseiten des afghanischen Youtuber-Daseins deutlich.

Dennoch kann man Afghan oder andere YouTuber kaum per se als Taliban-Propagandisten bezeichnen. Fakt ist nur, dass sie unter extrem schwierigen Umständen versuchen, ihrer Arbeit nachzugehen. Und das geschieht nicht ohne Kontrolle und Regulierung der Taliban. Jeder YouTuber muss sich seine Arbeitserlaubnis beim Kultus- und Medienministerium der Taliban holen. Ohne diese Erlaubnis darf niemand drehen.

Das gilt übrigens auch für alle westlichen Berichterstatter, die das Land seit August 2021 besuchen. Am Ende geht es darum, ob man sich tatsächlich an deren Auflagen hält. Lässt man sich dazu verleiten, zum Sprachrohr der Taliban zu werden? Oder versucht man, „an der Kontrolle vorbei“ zu berichten? So observieren die Taliban besonders auch westliche Medieninhalte – allen voran Dokumentarfilme – nach ihrer Veröffentlichung auf YouTube oder anderswo. Hierfür gibt es mittlerweile Personal, das Englisch oder gar Deutsch spricht und sich für Übersetzungen Mitteln wie KI-Tools bedient. Journalisten, die dem Regime aufgrund ihrer Berichterstattung negativ auffallen, riskieren ein Einreise­verbot oder müssen mit Haft und Verhör rechnen, sobald sie sich wieder im Land befinden.

Ein Blick in die Gefängnisse des Regimes ist nicht möglich

Seit der Rückkehr der Extremisten im August 2021 ist all das bereits passiert. Der afghanisch-französische Journalist Murtaza Behboudi wurde 2023 von den Taliban verhaftet und musste monatelang im Gefängnis ausharren. Selbiges passierte vergangenes Jahr auch dem Aktivisten und Lokalpolitiker Jama Maqsudi, einem Deutsch-Afghanen aus Baden-Württemberg.

In Deutschland werden all diese komplexen Realitäten von einigen Medien bewusst übergangen. Im Zuge der flüchtlingsfeindlichen rechten Debatten hierzulande bedienen sie das TikTok-Bild eines vermeintlich sicheren Afghanistans: einem Land, das von den Taliban regiert wird, weil viele Afghanen und Afghaninnen es wohl eben so und nicht anders wollten. Im vergangenen Jahr veröffentlichte RTL etwa einen Film, der suggerierte, viele afghanische Geflüchtete würden in ihrer Heimat Urlaub machen. TikTok-Videos waren ein wesentlicher Bestandteil dieser „Recherche“.

Auch die Bild-Zeitung machte mit. Als im Bundestagswahlkampf erstmals seit der Rückkehr der Taliban ein Abschiebe­flieger voll mit Afghanen die Bundesrepublik verließ, schrieb sie in empörtem Ton von den afghanischen „Asyltouristen“ und veröffentlichte ähnlich lautende Schlagzeilen.

Kurze Zeit später sorgte das Boulevardblatt mit einer weiteren „exklusiven“ Bericht­erstattung für Aufregung. Einer der abgeschobenen Geflüchteten, Abdul F., gab der Bild ausgiebige Interviews aus Kabul, berichtete von seinem Alltag. Immer wieder wurde suggeriert, dass alles vor Ort nicht so schlimm sei. „Bei uns ein Krimineller, in Kabul ein König“, titelte die Bild. Manches, was die Taliban machen, sei sogar gut, hieß es weiter. F. beschrieb seine eigenen, individuellen Erfahrungen. Der in Deutschland verurteilte Straftäter hatte keine fundierten Kenntnisse über die jüngsten politischen Entwicklungen in Afghanistan. Weder er noch die Bild-Reporter, die ihn großzügig als Kronzeugen für ihr Narrativ zu Wort kommen ließen, hatten die Bedenken von Menschenrechtsaktivisten erwähnt oder einen Blick in die zahlreichen Taliban-Gefängnisse geworfen. Dort verrotten ehemalige Soldaten der geschlagenen afghanischen Armee, Journalisten, Menschenrechtsaktivisten oder auch einfache Bürger, die aufgrund von kritischen Kommentaren auf Facebook vom GDI, dem berüchtigten Geheimdienst der Taliban, verhaftet worden sind.

Ein Blick in die Gefängnisse des Regimes ist allerdings nicht möglich. Der Machtapparat der Extremisten ist seit August 2021 mächtiger als jemals zuvor. Kontrolle, Überwachung und Unterdrückung gehören zum Alltag, sodass freie Berichterstattung nicht mehr möglich ist. Die zahlreichen Menschenrechtsverbrechen, die täglich stattfinden, können kaum noch dokumentiert werden, weil sie schlichtweg im Schatten der Weltöffentlichkeit stattfinden, ähnlich wie in anderen Diktaturen.

Wie die Videos aus Afghanistan zeigen, hat die Digitalisierung weniger zur Dokumentierung dieser Verbrechen beigetragen als vielmehr zu deren Verharmlosung und Leugnung.

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