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Diesmal geht es auch um İmamoğlu

In der Türkei ist der 1. Mai traditionell Kampftag der gesamten Opposition

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Der 1. Mai ist in der Türkei nicht nur der Kampftag der Gewerkschaften, sondern der Opposition insgesamt. Um ihm die politische Brisanz zu nehmen, machte der damalige Ministerpräsident und heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Tag 2009 zum gesetzlichen Feiertag. Er sollte damit zu einem Familien – und Frühlingsfest umfunktioniert werden. Doch das schlug fehl.

Spätestens seit dem ersten landesweiten Aufstand gegen Erdoğan 2013 ist der 1. Mai wieder zu einem Tag politischer Hochspannung geworden. Nach dem sogenannten Gezi-Aufstand hatte Erdoğan damals alle Demos rund um den zentralen Istanbuler Taksimplatz verboten, dem traditionellen Aufmarschplatz der türkischen Gewerkschaftsbewegung am 1. Mai. Und so spielen sich seit 2013 jedes Jahr die selben Szenen ab: Während die Gewerkschaften ihre Anhänger sammeln, um Richtung Taksimplatz zu marschieren, riegelt die Regierung den Platz schon am Vorabend weiträumig ab.

Für die linken Gewerkschaften ist der Taksimplatz aber noch mehr. Er ist der Ort des größten Massakers in der modernen Türkei, an das sie mit ihren Aufmärschen erinnern wollen. Am 1. Mai 1977 wurde die dort stattfindende Kundgebung von Rechtsradikalen, mutmaßlich Grauen Wölfen, angegriffen. Die Killer schossen von den Dächern der umliegenden Häuser, die Massenpanik tat ihr Übriges. 34 Demonstranten wurden getötet.

Dieses Massaker an den Gewerkschaftern wird im Nachhinein auch als Auftakt zu einem immer schwerwiegenderen bewaffneten Konflikt zwischen rechten und linken Gruppen gesehen, der schließlich im Militärputsch von 1980 endete. Nach dem Putsch wurden alle Gewerkschaften zerschlagen, die Funktionäre der linken Gewerkschaftsföderation DISK für Jahre ins Gefängnis gesteckt. Erst in den 1990er-Jahren wurde Gewerkschaftsarbeit wieder möglich, ist aber bis heute erschwert. Streiks sind legal so gut wie unmöglich, Kündigungen von aktiven Gewerkschaftern fast die Regel. Vor allem gegen diese Unterdrückung der Gewerkschaften wird am 1. Mai demonstriert.

Der 1. Mai in diesem Jahr wird allerdings anders. Die linke Gewerkschaftsföderation DISK hat entschieden, ihre Demonstration nach Kadiköy, dem Zentrum der asiatischen Seite Istanbuls, zu verlegen. Man will nicht wieder den rituellen Kampf um den Taksimplatz aufführen, sondern die Oppositionsbewegung zur Freilassung des im März verhafteten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu unterstützen. So wird am 1. Mai die gesamte Opposition gemeinsam für die Freiheit von İmamoğlu und den Hunderten anderen Gefangenen demonstrieren, die während der Aufmärsche seit März festgenommen wurden.

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