: Stillen für alle
Mithilfe von Hormontherapien können auch trans Mütter Milch produzieren. Noch ist diese Praxis wenig erforscht – doch sie könnte helfen, Sorgearbeit gerechter zu verteilen
Von Franziska Schindler
Das mit dem Stillen hatte Maya zuerst gar nicht in Erwägung gezogen. Ihre Transition hatte gerade erst begonnen, als Leo zur Welt kam. Dass der eigene Körper Milch produziert? Unmöglich, dachte sie.
Maya ist trans und Mutter. Sie möchte nur mit Vornamen genannt werden, die Namen der Familienmitglieder sind Pseudonyme. Mit ihrer engen Freundin Nette hatte Maya 2016 entschieden, gemeinsam ein Kind zu bekommen. Auch Ina, Mayas damalige Partnerin, wollte sich an der Elternschaft zu beteiligen. So erzählt Maya es am Telefon. Nette brachte Leo zur Welt. Maya, Software-Ingenieurin und passionierte Computerspielerin, stellte sich darauf ein, dass sie Leo nur per Flasche ernähren könnte. Aber können wirklich nur cis Frauen stillen?
„Jeder menschliche Körper hat theoretisch die Fähigkeit, Milch zu produzieren“, erklärt Jojanneke van Amesfoort beim Videotelefonat an einem Freitagnachmittag im März. Sie macht gerade ihre Fachärztinnenausbildung zur Gynäkologin.
„Induzierte Laktation“ wird die gezielte Stimulation der Milchbildung ohne vorherige Schwangerschaft genannt. Amesfoort ist eine der ersten, die dazu geforscht hat, ob und wie trans Mütter stillen können. Wissenschaftliche Studien behandeln hauptsächlich die Laktationsinduktion bei cis Frauen, also all jenen, die sich mit dem ihnen bei der Geburt zugewiesenen weiblichen Geschlecht identifizieren.
Am Amsterdamer Kompetenzzentrum für Geschlechtsdysphorie begann van Amesfoort zu dem Thema zu forschen. 2020 hatte sich eine trans Frau an die Einrichtung gewandt. Sie wollte das Baby, mit dem ihre Partnerin schwanger war, mit eigener Milch stillen können. Die Ärzt*innen hatten damals noch keine Erfahrung mit induzierter Laktation, eine einzige Fallstudie einer anderen stillenden trans Frau gab es. An ihr orientierte sich das Team, in dem van Amesfoort hospitierte. Um die Milchproduktion anzuregen, imitierten sie die hormonellen Veränderungen bei Schwangerschaften. Während dieser schüttet der Körper vermehrt Östrogen und Progesteron aus und bereitet so die Brüste aufs Stillen vor. Nach der Geburt fällt deren Spiegel stark ab und ein anderes Hormon, Prolaktin, löst die Milchbildung aus.
Die Einnahme von Östrogen und Progesteron spielt dem Körper eine Schwangerschaft vor. Hinzu kommt ein Medikament, das die Milchbildung anregt, zum Beispiel Domperidon. Zwei bis vier Wochen vor der Geburt des Kindes reduzieren die Frauen die Hormontherapie oder setzen sie ab, um den Hormonabfall nach der Geburt zu simulieren. Zusätzlich unterstützen Abpumpen und Stimulation der Brustwarzen die Milchbildung. Weil es nur so wenige Studien zu induziertem Stillen bei trans Frauen gibt, weiß man nicht, wie häufig es klappt. Aus mindestens einer Fallstudie ist jedoch bekannt, dass die Zusammensetzung der Milch von trans Frauen hinsichtlich Fettanteil, Proteinen und Kalorien mit der Milch von cis Frauen vergleichbar ist.
Anfang Juni 2020, knapp vier Monate nach Schwangerschaftsbeginn ihrer Partnerin, begann die werdende Mutter mit der Hormonbehandlung. Mitte August bildeten ihre Brüste die ersten Tropfen Flüssigkeit. Ab Mitte Oktober pumpte sie alle paar Stunden ab, um die Produktion anzuregen. Anfang November kam das Baby zur Welt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie ihre Milchbildung auf maximal 7 Milliliter pro Tag gesteigert, doch viele Neugeborene trinken pro Mahlzeit rund 20 Milliliter. Die ausreichende Menge Milch für ein Baby herzustellen, sei für eine komplett ausgereifte Brust viel einfacher als für eine, die gerade erst entsteht, erklärt van Amesfoort.
Die Anstrengung der induzierten Laktation war eine zu viel für die junge Familie. Nach zwei Wochen beendete die Mutter das Stillen. Die Entscheidung sei „hart gewesen, aber die richtige“, zitiert van Amesfoort die Patientin. Den direkten Kontakt durfte van Amesfoort für diesen Text aus medizinethischen Gründen nicht herstellen.
Van Amesfoort hofft, dass Stillen zukünftig unabhängig von Geschlechtsidentität und Schwangerschaft leichter von all denen in Erwägung gezogen werden kann, die es sich wünschen, „lesbische Partnerinnen, Adoptiveltern, nicht-binäre Eltern, trans Mütter.“
Als Maya, ihre damalige Partnerin Ina und Co-Mutter Nette ihr Baby erwarteten, wussten sie noch nicht, dass auch trans Mütter stillen können. Aber Erfahrungsberichte von induzierter Laktation bei cis Frauen kannten sie. So entschied Ina sich dafür, das Stillen ohne vorherige Schwangerschaft auszuprobieren, während Maya sich darauf einstellte, die Flasche zu geben.
Jojanneke van Amesfoort, Gynäkologin in Ausbildung
Grundsätzlich funktioniert induzierte Laktation bei cis und trans Frauen nach dem gleichen Prinzip. An Östrogen und Progesteron zu kommen, ist unkompliziert, viele gängige Verhütungspillen bestehen daraus. Aber das Paar scheiterte an der Beschaffung von Domperidon. Herkömmlich wird das Medikament gegen Übelkeit eingesetzt, hat aber Nebenwirkungen. Van Amesfoort empfiehlt, sich bei der Einnahme milchstimulierender Medikamente ärztlich begleiten zu lassen. „Wir wussten, dass es Hausärzt*innen gibt, die Überdosen verschreiben“, erinnert sich Maya, „aber wir hatten kein solches Vertrauensverhältnis zu unseren Hausärzt*innen“.
Inzwischen sei der Zugang zu notwendigen Ressourcen fürs induzierte Stillen einfacher geworden, sagt Liesel Burisch. Als sogenannte Doula begleitet Burisch insbesondere Regenbogenfamilien nach der Geburt und bildet Hebammen und Stillberater*innen zu induzierter Laktation fort. Die Pandemie habe vieles verändert, auch zum Positiven, sagt Burisch. Zum Beispiel könnten Ärzt*innen und Hebammen bundesländerübergreifend online zu Domperidon beraten oder es sogar verschreiben. Außerdem gebe es mittlerweile mehr informierte Hebammen.
Burisch, nebenbei Künstler*in, hat auch ein Buch übers Stillen geschrieben, „Queer Nursing“ heißt es. „Stillen ist für Induzierende und Gebärende extrem viel Arbeit“, sagt Burisch. Die wenigsten schafften es über die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen sechs Monate hinaus. Gründe dafür seien Einsamkeit, Überforderung und Stress nach der Geburt. Bis zu 20 Prozent der Gebärenden leiden Studien zufolge in den ersten Monaten nach der Geburt an Depressionen.
„Gesellschaftlich bekommt die gebärende Person die größte Verantwortung und Schuld zugeschrieben, wenn etwas mit dem Neugeborenen nicht klappt“, sagt Burisch. Hinzu komme zu viel Druck, was der eigene Körper unbedingt leisten muss – aus einer missverstandenen Idee von Natürlichkeit heraus. Hetero-Eltern könnten sich einiges von queeren Familien abschauen, dort werde laut Burisch oft weniger Verantwortung auf der einen stillenden Person abgeladen, weil Stillen und gleichgestellte Elternschaft viel häufiger für mehrere infrage komme. Burisch wünscht sich, dass Stillwünsche nicht gebärender Eltern nicht „als individuelles Passion Project“ gesehen werden, sondern sie dabei die gleiche Unterstützung bekommen wie Gebärende.

Maya hat in Leos Krabbelgruppe erlebt, wie das Familienleben in vielen Heterofamilien aussieht. Sie traf dort nur auf Mütter, für die einige Stunden ohne Kind undenkbar gewesen seien. „Stillen wird gern als Argument genutzt, um Sorgearbeit einseitig zu verteilen“, sagt sie. Nette, Ina und Maya wollten das unbedingt vermeiden. Dazu gehörte für sie, nicht alle zusammenzuwohnen. Nette blieb in ihrer WG, Maya und Ina suchten sich eine Wohnung in der Nähe. Nach den ersten Wochen begannen sie den neuen Alltag im Wechselmodell. Nette pumpte ab, sodass Leo auch bei Maya und Ina Brustmilch trinken konnte. Die Milch bekam Leo am Ende nicht aus der Flasche, Maya und Ina stillten per Brusternährungsset. Aus einem Beutel, gefüllt mit Milch, führt ein dünner Schlauch zur Brust, dessen Ende an der Brustwarze befestigt wird. Das Baby saugt so zeitgleich an Brustwarze und Schlauch.
Maya hat sich den Schlauch an den Finger geklemmt: „Ich war ja noch ganz am Anfang meiner Transition, und ohne nennenswerte Brustwölbung ist es für ein Baby schwierig anzudocken.“ Der Milchfluss durch den Schlauch war ähnlich langsam wie durch die Brust. „Das Baby hat was zum Nuckeln, spürt körperliche Nähe und kann sich dabei beruhigen, so wie an der Brust“, sagt Maya. „Es hat sich schon anders angefühlt, ob man Fläschchen gibt oder ob es am Finger nuckelt und man dabei kuschelt.“
Durch die Finger-Lösung habe sich ihr Blick aufs Stillen verändert. „In meinem Kopf war stark verankert, dass Stillen unbedingt an der Brust stattfinden muss – aber warum eigentlich? Ich wünsche mir, dass der Umgang mit dem Stillen weniger ideologisch ist. Allein, weil Babys ja auch oft auf die eine oder andere Weise brutal zur Brust sind und man ohne schlechtes Gewissen abpumpen können sollte.“
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