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Leidenschaft und Ausbeutung

Die Games-Branche gibt sich verspielt, kollegial und progressiv. Doch hinter den Kulissen müssen Ent­wick­le­r:in­nen oft unter schlechten Arbeitsbedingungen schuften, Frauen berichten von alltäglichem Sexismus

Candy gibt es in den Entwickler-Büros sicherlich, gecrusht werden die Angestellten – daraus wird ein Spiel Foto: Didem Mente/picture alliance

Von Lennart Hasche

Auf dem Bildschirm tippt ein kleiner Avatar Codezeilen in den Rechner, neben ihm ein Kaffeebecher voller Stifte, ein Klemmbrett voller Ideen. Wer in der Wirtschaftssimulation „Game Dev Tycoon“ ein eigenes Studio gründet, spielt sich als Bran­chen­pio­nie­r:in in den achtziger Jahren durch die romantisierte Geschichte eines zum Business gewordenen Zeitvertreibs. Termindruck scheint es nicht zu geben. Nach den ersten Erfolgen wird aus der muffigen Garage ein richtiges Büro, neue Mit­ar­bei­te­r:in­nen werden eingestellt, um die immer komplexeren Produktionen stemmen zu können. Ihr Gehalt legen die virtuellen Angestellten dabei selbst fest; es steigt sogar ganz automatisch mit ihrer Betriebszugehörigkeit und Qualifikation.

Videospiele sollen Spaß machen, Realitätsflucht bieten – auch wenn sie, wie „Game Dev Tycoon“, den Aufschwung der mittlerweile umsatzstärksten Unterhaltungsindustrie zum Thema haben. Auf Messen und Events lassen Studios ihre Spiele von begeisterten Ent­wick­le­r:in­nen vorstellen, geben sich als moderne Traumfabriken. Große Publisher bewerben ihre Games mit der kulturellen, religiösen und geschlechtlichen Vielfalt der an der Entwicklung Beteiligten.

Doch die Diskrepanz zwischen Außendarstellung und Arbeitsalltag ist groß. „Die freundlich lächelnden Bilder, das sind die, die man auf die Website stellt“, sagt Tim, der seit sieben Jahren als Entwickler arbeitet. Tim heißt eigentlich anders, will aber nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden. Von den freundlichen Bildern ist bei ihm wenig übrig ­geblieben: „Wenn du anfängst, gibt es oft diesen Wunsch, dich selbst zu verwirklichen, aber das geht schnell kaputt. Die Leidenschaft kann schnell zur Falle werden.“

Wirtschaftlich geht es der Branche wieder schlechter. Nachdem die Umsätze während der Coronapandemie in die Höhe geschossen waren, Personal eingestellt und Investorengelder akquiriert wurden, normalisierte sich die Nachfrage mit dem Ende der Lockdowns. 2024 verloren nach Erhebungen der Website gaminglayoffs.com weltweit etwa 14.500 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz, nochmals 38 Prozent mehr als im Vorjahr. Davon betroffen sind auch Angestellte in Deutschland. Die Düsseldorfer Niederlassung des Branchenriesen Ubisoft streicht rund 15 Prozent der 400 Arbeitsplätze, beim Frankfurter Studio Crytek werden 60 Stellen abgebaut.

Von ihren Angestellten verlangen die Studios Aufopferung. „Crunch“ werden Arbeitsphasen genannt, in denen ganze Teams teils über 80 Stunden pro Woche arbeiten – oft über Monate hinweg. Schlafsäcke unter den Schreibtischen und überwachte Toilettenpausen wurden lange als Qualitätsgarant verkauft und stützen bis heute die Vorstellung eines zwangsläufig obsessiven, weil kreativen Arbeitsethos.

Aus Sicht der Studiobosse ist das „Zermalmen“ der eigenen Arbeitnehmer schlicht wirtschaftliche Notwendigkeit, um Aktionären gerecht zu werden oder Trends und Marktzyklen noch rechtzeitig zu bedienen. Die Entwicklung eines Spiels ist selten planbar – technische Anforderungen verändern sich mitten in der Produktion: „Man lernt zwischendurch, dass man Dinge ganz anders machen muss als ursprünglich gedacht. Die Zeiträume, mit denen man plant, sind kaum einzuhalten“, sagt Tim. Er berichtet von Ohrenrauschen und permanenter Müdigkeit. „Auf einem Event habe ich eine Freundin getroffen, die plötzlich anfing zu weinen“, erzählt er. „Einfach, weil sie so wahnsinnig gestresst war. Das ist extrem, aber es gibt viele solche Fälle.“

Auch Eva, die ebenfalls nicht mit echtem Namen genannt werden möchte, kennt den kollektiven Erschöpfungszustand. Fehlende Arbeitszeiterfassung, unvergütete Überstunden und zu spät gezahlte Gehälter waren jahrelang Normalität. Mittlerweile hat sie die Branche verlassen. Was Menschen in der Games-Industrie halte? „Spiele entwickeln ist für viele Teil ihrer Identität“, sagt die Grafikerin. „Klar, du wirst schlechter bezahlt als in anderen Tech-Jobs, aber du bleibst, egal wie scheiße deine Arbeitsbedingungen sind. Erst dann gehörst du richtig dazu. Viele haben das verinnerlicht.“

Langfristig hält das kaum jemand durch. Wenn die Arbeitskraft nach der Fertigstellung eines Spiels nicht mehr gebraucht wird, folgen oft Entlassungswellen. Erst mit der Finanzierung eines neuen Projekts werden Teile der früheren Belegschaft wieder eingestellt. Für Tim und seine Kol­le­g:in­nen bedeutet das permanente Unsicherheit. „Das ist ein Arbeitsalltag, der nicht vereinbar mit Familien- oder sonstiger Lebensplanung ist. Deshalb gibt es so viele, die in ihren Dreißigern einfach sagen: Fuck this, ich gehe woanders hin.“

Die wenigen Verbliebenen suggerierten ein falsches Bild: „Viele der Studios, die in den achtziger Jahren noch im Kinderzimmer angefangen haben, sind zu weltweit operierenden Unternehmen geworden. Ein paar Nerds, schlaflose Nächte und irgendwann das große Geld, das ist unsere Geschichte“, sagt Eva nüchtern. „Die Entwicklung von ‚Diablo II‘ hat etliche Ehen gekostet. Und trotzdem ist die Wahrnehmung verzerrt: Wir hören von ‚GTA‘ oder ‚Baldur’s Gate‘ – von den Erfolgen. Aber wir hören nie von den Menschen, die genauso hart gearbeitet und es trotzdem nicht geschafft haben.“

Zur Geschichte der Games-Industrie gehören auch Firmenausflüge in Stripclubs oder Entwicklerinnen, die zum gemeinsamen Saunabesuch mit dem Chef gedrängt werden. 2021 gab Jennifer O’Neal nach nur drei Monaten ihren Posten an der Konzernspitze von Activision Blizzard wieder auf. Sie sei als Symbolfigur ausgenutzt worden, schrieb die Präsidentin in einem Brief an die Rechtsabteilung, ein Wandel der Firmenkultur derzeit nicht möglich.

Dabei sollte sie ausbaden, was ihr männlicher Vorgänger scheinbar übersehen hatte: systematischen Machtmissbrauch, Witze über Vergewaltigungen und Alkoholexzesse am Arbeitsplatz, gefolgt von sexuellen Übergriffen. Im Mittelpunkt der Anschuldigungen: die sogenannte „Cosby-Suite“ – ein Hotelzimmer, benannt nach dem für die Verwendung von K.-o.-Tropfen verurteilten Entertainer, in das führende Angestellte während eines Events 2013 Frauen einluden, um sich mit ihnen zu betrinken. Bilder und Chatverläufe posteten die Verantwortlichen damals öffentlich bei Facebook. „Du kannst sie nicht alle heiraten“, schrieb einer. „Du hast ficken falsch geschrieben“, antwortete ein Kollege.

Ähnliche Vorwürfe wurden auch aus anderen Studios bekannt, landeten teilweise vor Gericht. Derzeit läuft ein Prozess gegen den ehemaligen Kreativdirektor und zwei weitere Manager des französischen Entwicklers Ubisoft. CEO Yves Guillemot beteuert, von Mobbing und sexueller Belästigung nichts gewusst zu haben. Ist ein Studio betroffen, geht es vorrangig um Schadensbegrenzung: mutmaßliche Täter werden entlassen, interne Mediationsstellen eingerichtet, Hilfe von außen gesucht, in Pressemitteilungen Besserung versprochen.

Im „Crunch“ arbeiten Teams teils über 80 Stunden pro Woche, über Monate hinweg

„Da gab es viele große Worte und Gesten“, sagt Eva knapp zu den Aufarbeitungsversuchen der letzten Jahre. „Strukturell hat sich nicht viel verändert“. Auch in der deutschen Branche sei die Bro-Culture tief verwurzelt: „Bei Events kam oft die Frage: ‚Wo ist dein Freund?‘, oder Frauen wurden schlicht ignoriert.“ Das sei weniger geworden, auch weil Awareness-Teams eingesetzt würden, Veranstalter den Alkoholausschank reduzierten.

Geblieben sind stille Abwertung und Ausgrenzung. „Es ist nicht so, dass dich ein Kollege jeden Tag fragt, ob du mal mit ihm ausgehst. Das passiert, aber das ist ja so offensichtlich, dass es fast schon lustig ist. Wie aus dem Lehrbuch“, erzählt Eva und lacht bitter. „Aber es gibt den Punkt, an dem du dich fragst: Warum bringt mein Chef mich zum Weinen und sagt mir dann, ich solle nicht so emotional sein? Und warum weint keiner meiner männlichen Kollegen? Warum bin ich die einzige Person, die so angegriffen wird?“.

Vorfälle wie bei Activision Blizzard oder Ubisoft sind in Deutschland bisher nicht bekannt geworden. Eva wundert das nicht: „Die Industrie ist so klein, dass, wenn einem etwas passiert, man lieber nicht groß darüber redet. Sonst kriegt man danach vielleicht keinen Job mehr.“ Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: „Klar, wir reden untereinander. Aber manchmal musst du deine Miete bezahlen oder brauchst das Projekt für deinen Lebenslauf. Dann sagst du dir: Ich werde zum Felsen und warte, bis der Sturm vorüberzieht.“

Veränderung wünschen sich nicht nur Eva und Tim. Initiativen wie das FemDevsMeetup oder der Verein Game:in setzen sich gegen die strukturelle Diskriminierung von FLINTA* ein, veranstalten Treffen, Vorträge und Workshops. Kurz vor der Gamescom 2024 stellten Ent­wick­le­r:in­nen gemeinsam mit der Gewerkschaft Verdi den Game Devs Roundtable vor, der nicht nur die Gründung von bisher kaum vorhandenen Betriebsräten unterstützen soll, sondern auch verbindliche Standards bei Arbeitsverträgen und Maßnahmen gegen Machtmissbrauch fordert. Für Eva steht fest: „Es muss sich was ändern. Sonst sind irgendwann alle Leute weg.“

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